Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.08.1997 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G" und "B" vorliegen.
Die 1993 geborene Klägerin leidet an einer insulinpflichtigen Diabetes mellitus I.
Im April 1996 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Gewährung der Nachteilsausgleiche "H", "B" und "RF". Zur Stützung ihres Begehrens legte sie ein Attest des Klinikums W. vor, wonach bei ihr wegen der Hypoglykämiegefahr Hilflosigkeit bis mindestens zur Vollendung des 16. Lebensjahres bestehe. Mit Bescheid vom 07.06.1996 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 50 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "H" fest. Die Gewährung der Nachteilsausgleiche "B" und "RF" lehnte er ab.
Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit dem Begehren, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G" und "B" festzustellen. Sie trug vor, wegen ihrer Krankheit benötige sie ständige Begleitung durch ihre Eltern.
Am 02.01.1997 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Mit der am 09.01.1997 vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Sie hat eine weitere Bescheinigung des Klinikums W. vorgelegt. Danach ist aus ärztlicher Sicht bei einem an Diabetes mellitus erkrankten Kleinkind eine ständige Begleitung durch eine im Umgang mit der Erkrankung eingehend geschulte Person erforderlich. Deshalb ergebe sich für die Eltern der Klägerin ein erheblicher Mehraufwand an Pflege und Beaufsichtigung, da sie im Unterschied zu anderen Eltern die Klägerin ständig selbst beaufsichtigen müßten oder für die Beaufsichtigung entsprechendes Fachpersonal zu beschäftigen habe. Der Nachteilsausgleich "B" sei aus ärztlicher Sicht damit voll gerechtfertigt.
Mit Urteil vom 22.08.1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 06.10.1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 28.10.1997 Berufung eingelegt.
Sie legt dar, daß bei ihr die abstrakte Gefahr des Auftretens von hypoglykämischen Schocks bestehe. Sie sei weder in der Lage, einen Zustand von Unterzuckerung festzustellen, noch geeignete Maßnahmen gegen eine Unterzuckerung zu ergreifen. Wegen der andauernden Gefährdungslage sei sie auf eine ständige Beaufsichtigung durch ihre Eltern angewiesen. Aufgrund der ständigen Beaufsichtigung durch ihre Eltern sei bei ihr bislang nur einmal ein hypoglykämischer Schock aufgetreten. Sie vertritt die Auffassung, eine andauernde Gefährdungslage reiche für die Gewährung des Nachteilsausgleiches "B" aus. Die in Nr. 30 Abs. 2 und 32 Abs. 1 der Anhaltspunkte Stand 1996 statuierte Vorgabe, daß bei der gutachterlichen Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens der Nachteilsausgleiche "G" und "B" bei Kleinkindern die gleichen Kriterien maßgebend seien wie bei Erwachsenen, sei fehlerhaft, da den kinderspezifischen Bedürfnissen keine Rechnung getragen werde.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.08.1997 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07.06.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.01.1997 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G" und "B" festzustellen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie auf die beigezogene Akte des Sozialgerichts Düsseldorf, S 37 P 8/97, und der Pflegeakte der Barmer Ersatzkasse Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Bei der Klägerin liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" und "B" nicht vor.
Die persönlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" gemäß § 59 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) definiert § 60 Abs. 1 Satz 1 SchwbG dahin, daß in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht unerhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Eine erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bemißt sich dabei nach einer Wegstrecke von zwei km bei einer Gehdauer von etwa einer halben Stunde.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.
Das Gehvermögen der Klägerin ist weder durch einen Schaden am Stütz- und Bewegungsapprat noch durch ein inneres Leiden beeinträchtigt.
Desweiteren treten bei der Klägerin keine Anfälle auf, die ihre Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Nach Nr. 30 Abs. 4 der "Anhaltpsunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) Stand 1983 und 1996, die Regelfälle beschreiben, in denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse als erfüllt anzusehen sind (vgl. BSG, Urteil vom 13.08.1997 9 RVs 1/96), fallen unter den Begriff "Anfälle" hirnorganische Anfälle und hypoglykämische Anfälle von Zuckerkranken, also Anfälle, die mit Bewußtseinsverlust und Sturzgefahr verbunden sind (vgl. BSG, Beschluss vom 10.05.1994, 9 BVs 45/93). Bei einer an Diabetes mellitus erkrankten Behinderten kann nach Nr. 30 Abs. 4 AP Stand 1983 und 1996 auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit geschlossen werden, wenn hypoglykämische Anfälle häufig und überwiegend am Tage auftreten. Bei der Klägerin ist erst einmal ein hypoglykämischer Schock aufgetreten.
Wegen der schwankenden Blutzuckerwerte verbunden mit der altersbedingten fehlenden Einsichts- und Handlungsfähigkeit bedarf die Klägerin Angaben ihrer Eltern einer ständigen Überwachung, die das Auftreten von weiteren hypoglykämischen Schocks verhindert. Die Angaben der Eltern, deren Richtigkeit der Senat als wahr unterstellt, begründen keine gravierende Einschränkung der Bewegungsfähigkeit der Klägerin. Bei der Annahme einer solchen Beeinträchtigung genügt es nicht, daß die Behinderte jederzeit mit der Möglichkeit einer gravierenden Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch das Auftreten eines entsprechenden akuten Zustandes rechnen muß. Vielmehr ist die tatsächliche Feststellung einer dauerhaften Einschränkung und nicht nur die theoretische oder ggfls. sogar wenig wahrscheinliche Möglichkeit ihres jederzeitigen Eintretens in Form eines Notfalles erforderlich. Deshalb muß bei einem Anfallsleiden aufgrund der hohen Anfallsfrequenz die abstrakte Gefahr zu einer konkreten geworden sein, deren Eintritt aufgrund objektiver Kriterien, z.B. wegen der Anfallshäufigkeit oder wegen früheren Auftretens zahlreicher Anfälle überwiegend im Freien, jederzeit gut möglich erscheinen (vgl. LSG NW, Urteil vom 31.05.1994 L 6 Vs 111/93; Urteil vom 09.05.1995, L 6 Vs 121/93). Bei der Bewertung, ob eine solche konkrete Gefahr im Falle der Klägerin gegeben ist, muß unberücksichtigt bleiben, daß die Klägerin aufgrund ihres Alters nicht über die Einsichts- und Handlungsfähigkeit verfügt, die Symptome einer Unterzuckerung festzustellen und geeignete Vorsorgemaßnahme gegen das Auftreten eines hypoglykämischen Schocks zu treffen. Denn bei einem behinderten Kleinkind ist bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" vorliegen, als Vergleichsmaßstab nicht auf den Gesundheitszustand eines gleichaltrigen gesunden Kleinkindes abzustellen. Vielmehr ist entscheidend, ob die bei dem Kleinkind festgestellten Gesundheitsstörungen bei einem Erwachsenen die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "G" rechtfertigen würden, also die Gesundheitsstörungen die entsprechenden Funktionen eines erwachsenen Behinderten im erforderlichen Ausmaß beeinträchtigen würde (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 1/95). Bei einer erwachsenen insulinpflichtigen Diabetikerin ist in der Regel davon auszugehen, daß diese die Frühsymptome eines Blutzuckerabfalls rechtzeitig erkennt und geeignete Gegenmaßnahmen, nämlich die Einnahme von Kohlehydraten in Form von Traubenzucker, trifft, so daß es sich bei der Gefahr des Auftretens von hypoglykämischen Schocks bei einer erwachsenen Diabetikerin um eine abstrakte Gefahr handelt. Da bei der Klägerin keine weiteren Gesundheitsstörungen, die die Erkennbarkeit der Frühsymptome eines Blutzuckerabfalles, wie z.B. eine diabetische Polyneuropathie des autonomen Nervensystems, beseitigen, vorliegen und aus den beigezogenen medizinischen Unterlagen keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, die für einen untypischen Verlauf der Diabetes-mellitus-Erkrankung bei der Klägerin sprechen, sind keine Anhaltspunkte erkennbar, daß eine insulinpflichtige erwachsene Diabetikerin mit einem vergleichbaren Krankheitsbild wie bei der Klägerin das Auftreten von hypoglykämischen Schocks nicht durch sachgerechtes Verhalten vermeiden kann.
Der Beklagte hat zu Recht die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "B" an die Klägerin abgelehnt. Die Inanspruchnahme dieses Nachteilsausgleiches setzt nach Nr. 32 Abs. 2 AP Stand 1983 und 1996 u.a. voraus, daß eine Behinderte infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches bei einem behinderten Kleinkind vorliegen, sind dieselben Kriterien wie bei einem Erwachsenen anzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 10.02.1997, 9 RVs 17/95).
Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist u.a. nach Nr. 32 Abs. 3 AP Stand 1983 und 1996 bei Anfallskranken anzunehmen, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
Bei der Klägerin liegt kein Anfallsleiden i.S. v. § 30 Abs. 3 AP Stand 1983 und 1996 vor. Andere behinderungsbedingte Funktionseinschränkungen als das mögliche Auftreten hypoglykämischer Schocks, die die Klägerin einem erhöhten Unfallrisiko bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel aussetzen, sind nach Aktenlage nicht erkennbar und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Klägerin. Die Vertreter der Klägerin haben das Erfordernis der ständigen Begleitung ausschließlich auf die Gefahr des Auftretens von hypoglykämischen Schocks gestützt. Deshalb kann offenbleiben, ob bei einem vierjährigen Kleinkind, wie der Klägerin, allein schon aus altersbedingten Gründen eine ständige Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, insbesondere unter Berücksichtigung der den Eltern obliegenden Aufsicht- und Fürsorgepflicht, notwendig ist, so daß die Annahme des Nachteilsausgleiches "B" bei einem vierjährigen Kleinkind auch bei Vorliegen behinderungsbedingter Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit wegen der überwiegenden altersbedingten Fortbewegungseinschränkungen ausgeschlossen ist.
Nach Auffassung des Senates greift der Einwand des Klägerbevollmächtigten, daß bei der Anwendung von gleichen Beurteilungskriterien bei behinderten Kleinkindern und Erwachsenen in bezug auf die Nachteilsausgleiche "G" und "B" kinderspezifischen Bedürfnissen nicht Rechnung getragen wird, nicht durch. Nach der Konzeption des SchwbG soll einer Behinderten kein Anspruch auf Bevorzugung in der Weise eingeräumt werden, daß Nachteile auszugleichen sind, die gar nicht mit der Behinderung zusammenhängen, sondern auch den vergleichbaren Nichtbehinderten treffen. Deshalb sind nur behinderungsbedingte Merkmale, die sich auf die Lebensgestaltung der Behinderten nachteilig auswirken, bei der Prüfung von Nachteilsausgleichen zu berücksichtigen. Auswirkungen, die sich aufgrund des Lebensalters einer Behinderten auf ihre Lebensgestaltung nachteilig auswirken, wie z. B. das alterstypische Unvermögen eines behinderten Kleinkindes mit der Krankheit umzugehen, sind nicht behinderungsbedingt (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 1/95; Urteil vom 29.08.1990 9 a/9 RVs 7/89). Daher ist es bei den mit der Fortbewegung zusammenhängenden Nachteilsausgleichen "G" und "B" gerechtfertigt, bei der Beurteilung der Auswirkungen von Gesundheitsstörungen von Kleinkindern nicht auf die Fähigkeiten gleichaltriger gesunder Kinder abzustellen, sondern auf die Auswirkungen der festgestellten Gesundheitsstörungen bei Erwachsenen. Denn die Fortbewegungsfähigkeit von Kindern kann allein schon aufgrund alterstypischer Umstände erheblich beeinträchtigt sein, so daß bei einem Vergleich der Fortbewegungsfähigkeit eines behinderten Kindes mit der eines gleichaltrigen gesunden Kindes die behinderungsbedingten Nachteile bei der Fortbewegung nicht erfaßt werden, da sie von den alterstypischen Einschränkungen verdeckt werden.
Dem alterstypischen Unvermögen der Klägerin, mit ihrer Erkrankung sachgerecht umzugehen, und die sich daraus ergebende gesteigerte Pflegebedürftigkeit im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind wird dadurch Rechnung getragen, daß bei der Klägerin nach Nr. 22 Abs. 2 AP Stand 1983, 1996 der Nachteilsausgleich "H" trotz eines erheblichen Maßes altersbedingter Pflegebedürftigkeit vom Beklagten angenommen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Erstellt am: 15.08.2003
Zuletzt verändert am: 15.08.2003