Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27.06.2014 geändert. Der Bescheid vom 04.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014 wird aufgehoben, soweit der Beklagte die Aufrechnung erklärt. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte hat ½ der Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Beklagten zur zuschussweisen Bewilligung von Leistungen zum Erwerb von Genossenschaftsanteilen i.H.v. 2.290,00 EUR. Hilfsweise wendet sich der Kläger gegen eine Aufrechnung gegen seinen laufenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Der am 00.00.1982 geborene Kläger bezieht laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Der Kläger leidet unter einer psychiatrischen Erkrankung. Er hat einen GdB von 100 und steht unter Betreuung. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst die Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung, alle Vermögensangelegenheiten, die Vertretung bei Behörden sowie die Befugnis zum Empfang von Post und Wohnungsangelegenheiten.
Der Kläger wohnte zunächst in der N Straße 00 in L. Der Vermieter kündigte das Mietverhältnis am 05.12.2013, weil der Kläger in einer akuten Psychose die Wohnung beschädigt hatte. Im Dezember 2013 erhielt der Kläger ein Angebot von der Gemeinnützigen Baugenossenschaft E eG über eine 59,08 qm große Wohnung in der T Straße 00 in S. In derselben Wohnanlage wohnt die Mutter des Klägers. Die Kosten für die Wohnung betrugen 505,70 EUR (Grundmiete 353,70 EUR, Betriebskostenvorauszahlung 69,00 EUR, Heizkostenvorauszahlung 65,00 EUR, Stellplatz 18,00 EUR). Voraussetzung für den Abschluss des Mietvertrags waren der Erwerb der Mitgliedschaft bei der Genossenschaft (160,00 EUR), zusätzlicher Genossenschaftsanteile (13 x 160,00 EUR) sowie die Zahlung eines Beitrittsgeldes i.H.v. 50,00 EUR.
Der Kläger beantragte am 20.12.2013 die Zusicherung des Beklagten zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die Wohnung in S. Er fügte eine ärztliche Bescheinigung von Dr. N1, Universitätsklinik L, bei, wonach ein Umzug in die Nähe der Familie in S aus ärztlicher Sicht zu befürworten sei.
Mit Bescheid vom 04.03.2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger vorläufig darlehensweise 2.290,00 EUR für die Bestreitung der Genossenschaftsanteile. Er kündigte an, das Darlehen in monatlichen Raten von 10 % des Regelbedarfs voraussichtlich beginnend ab 01.04.2014 gegen den laufenden Leistungsanspruch gem. § 42a Abs. 2 SGB II aufzurechnen. Beim Ausscheiden des Klägers aus dem Leistungsbezug werde der noch nicht getilgte Anteil des Darlehens nach Erstattung des Vermieters gem. § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB II sofort fällig.
Gegen den Bescheid vom 04.03.2014 legte der Kläger am 18.03.2014 Widerspruch ein. Die Bewilligung der Genossenschaftsanteile sei zu Unrecht nur darlehensweise erfolgt.
Mit Bescheid vom 18.03.2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Übernahme einer Mietkaution sehe das Gesetz grundsätzlich in Darlehensform vor, weil eine Mietkaution in der Regel an den Vermieter zurückfließe. Wegen der vergleichbaren Interessenlage im Hinblick auf den Sicherungscharakter sei der Erwerb von Genossenschaftsanteilen der Zahlung einer Mietkaution gleichzustellen. So würde auch die Gemeinnützige Baugenossenschaft E eG auf ihrer Internetseite ausführen, dass anstelle einer Kaution die Mitglieder bei einem Vertragsabschluss weitere Anteile an der Genossenschaft erwerben würden. Die Mitgliedschaft in der Genossenschaft sei an die Dauer des Mietverhältnisses gebunden. Der Auffassung, bei den Genossenschaftsanteilen handele es sich um Wohnungsbeschaffungskosten, könne er sich nicht anschließen. Da ein atypischer Fall nicht vorliege, sei nur eine darlehensweise Übernahme möglich.
Am 19.03.2014 schloss der Kläger einen "Dauernutzungsvertrag" über die Wohnung in S. Vertragsbestandteil war eine "Abtretungsvereinbarung", wonach der Kläger "der Genossenschaft den Anspruch auf Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens zur Sicherung ihrer derzeitigen und künftigen Forderungen gegen das Mitglied, die ihren Grund in dem Nutzungsverhältnis haben oder die mit diesem in unmittelbarem Zusammenhang entstehen (z.B. Mietzins, Betriebskosten, Schadensersatz und Schönheitsreparaturen)" abtritt. "Der Anspruch aus abgetretenem Recht" solle nur geltend gemacht werden können, "wenn eine Aufrechnung mit eigenen fälligen und durchsetzbaren Ansprüchen durch den Vermieter ausscheidet (z.B. mit Guthaben aus BK-Abrechnungen, Kaution)".
Am 31.03.2014 hat der Kläger beim Sozialgericht Köln Klage erhoben. Die Genossenschaftsanteile stellten Wohnungsbeschaffungskosten i.S.d. § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II dar und seien mit einer Mietkaution nicht gleichzusetzen. Mietkautionen seien im Gegensatz zu Genossenschaftsanteilen auf drei Monatsmieten beschränkt und viel schneller wieder verfügbar. Die Genossenschaftsanteile könnten erst zum 30.09. eines Jahres gekündigt werden und würden erst im darauffolgenden Jahr nach der Mitgliederversammlung ausgezahlt. Auch könne der Genosse nicht wie der Mieter bei einer guten Zusammenarbeit mit dem Vermieter eine kurzfristige Rückgabe seiner Anteile erreichen. Nicht hinnehmbar sei, dass der Kläger aufgrund der Aufrechnung 59 Monate nur um 10 % verringerte Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs beziehe. Der Kläger hat eine Erklärung seiner Mutter H N vorgelegt, wonach diese nur in der neuen Wohnung gewährleisten könne, zu überwachen, dass er notwendige Psychopharmaka regelmäßig einnehme, da sie in derselben Wohnanlage wohne.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 04.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen ohne Einbehaltung von Tilgungsbeiträgen für den Erwerb von Genossenschaftsanteilen auszuzahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen.
Mit Urteil vom 27.06.2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Wegen der mit einer Mietkaution vergleichbaren Interessenlage seien Aufwendungen für den Erwerb von Pflichtanteilen an einer Wohnungsbaugenossenschaft nur darlehensweise zu übernehmen. Dies gelte unabhängig davon, dass Genossenschaftsanteile nicht allein die Funktion einer Mietkaution hätten, sondern auch Grundlage für die Begründung eines Mitgliedschaftsverhältnisses zur Genossenschaft seien. Dies ändere nichts daran, dass die Genossenschaftsanteile funktionell an die Stelle einer andernfalls zu vereinbarenden Mietkaution treten und diese ersetzen würden. Auch die festgelegte Tilgung von 10 % des Regelbedarfs sei nicht zu beanstanden und entspreche § 42a SGB II. Durch die monatliche Aufrechnung mit 10 % des maßgebenden Regelbedarfs werde das soziokulturelle Existenzminimum nicht unterschritten. Dabei sei auch zu beachten, dass es sich bei der Mietkaution um einen einmaligen und keinen laufenden Bedarf handele. Schließlich erwerbe der Kläger durch die Genossenschaftsanteile einen Vermögenswert. Zudem habe er und nicht der Beklagte es in der Hand, ob und in welcher Höhe ein Rückzahlungsanspruch auf die Genossenschaftsanteile bestehe.
Gegen das am 04.07.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.07.2014 Berufung eingelegt. Er habe einen Anspruch auf zuschussweise Bewilligung der Genossenschaftsanteile. Zumindest dürfe eine Aufrechnung gegen den laufenden Leistungsanspruch nicht erfolgen. Bei einer Aufrechnung über einen Zeitraum von 59 Monaten handele es sich nicht um eine vom Bundesverfassungsgericht als zulässig angesehene vorübergehende, sondern um eine dauerhafte Kürzung der Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln abzuändern und den Beklagten unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 04.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014 zu verurteilen, ihm einen Betrag zum Erwerb der Genossenschaftsanteile in Höhe von 2.290,00 EUR als Zuschuss zu bewilligen, hilfsweise das Urteil des Sozialgerichts Köln abzuändern und den Bescheid vom 04.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2014 hinsichtlich der Aufrechnungserklärung aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Zahlung von Genossenschaftsanteilen sei mit einer Zahlung einer Mietkaution vergleichbar. Daher seien die Leistungen hierfür nach § 22 Abs. 6 SGB II nur darlehensweise zu erbringen. Die Tilgung dieses Darlehens erfolge gemäß § 42 a SGB II zwingend durch eine Aufrechnung in Höhe von 10 % des maßgebenden Regelbedarfs. Eine solche Aufrechnung sei auch über einen längeren Zeitraum als verfassungsgemäß anzusehen. Der Gesetzgeber habe eine Aufrechnung von bis zu 30 % als zulässig angesehen und damit zum Ausdruck gebracht, dass trotz der monatlichen Einbehaltung von 30 % das Existenzminimum noch gesichert sei. Der Beklagte hat sich in der mündlichen Verhandlung bereit erklärt, den Aufrechnungszeitraum in analoger Anwendung von § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II auf drei Jahre zu begrenzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Hauptantrag unbegründet. Insoweit hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen. Die Bewilligung der Genossenschaftsanteile lediglich als Darlehen ist nicht rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG (unten 1 und 2). Im Hilfsantrag ist die Berufung begründet. Insoweit hat das Sozialgericht die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Aufrechnungserklärung im angefochtenen Bescheid ist rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG und war aufzuheben (unten 3).
1) Die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf Übernahme der Genossenschaftsanteile liegen vor. Der Kläger hat gemäß § 7 SGB II einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im streitigen Zeitraum. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1), ist hilfebedürftig (Nr. 3) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 4). Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger aufgrund der psychiatrischen Erkrankung nicht erwerbsfähig i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II ist, liegen nicht vor. Zwar wurde der Kläger in einem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 31.01.2014 als noch nicht mindestens drei Stunden täglich belastbar angesehen, dieser Zustand beruhte jedoch auf einer stationären Behandlung und wurde als vorübergehend bezeichnet. Der Beklagte hat die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in Frage gestellt und ist – über den Wortlaut von § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hinaus – ohnehin verpflichtet, auch bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit des Klägers in Ermangelung einer Abstimmung mit dem Leistungsträger nach dem SGB XII Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.04.2014 – L 19 AS 485/14 B ER; Beschluss des Senats vom 14.10.2010 – L 7 AS 1549/10 B ER; Blüggel, in: Eicher, SGB II, § 44a Rn 72; Knapp, in: JurisPK, SGB II, § 44a Rn. 71; in diesem Sinne bereits BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R).
Die Kostenübernahme nach § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II setzt eine vorherige Zusicherung durch den am Ort der neuen Unterkunft zuständigen kommunalen Träger voraus, § 22 Abs. 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB II. Zwar liegt eine solche nicht vor. Diese ist aber entbehrlich, da der Beklagte die Leistungen für den Erwerb der Genossenschaftsanteile mit Bescheid vom 04.03.2014 darlehensweise bewilligt hat. In dieser Bewilligung liegt die positive Übernahmeentscheidung, welche eine Zusicherung ersetzt.
2) Die Beschränkung der Bewilligung der Genossenschaftsanteile als Darlehen folgt aus einer analogen Anwendung von § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II, wonach eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden soll.
a) Bei den vom Kläger als Voraussetzung für den Abschluss des Mietvertrages zu erbringenden Genossenschaftsanteilen handelt es sich allerdings nicht um eine Mietkaution. Die Mietsicherheit oder Mietkaution ist das Sicherungsmittel des Vermieters gegen wirtschaftliche Risiken der Vermietung. Sie sichert Ansprüche des Vermieters, die sich aus dem Mietverhältnis und seiner Abwicklung ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 08.03.1972 – VIII ZR 183/70). Die Höhe der Mietsicherheit ist nach § 551 Abs. 1 BGB auf drei Monatsmieten begrenzt. Hat der Mieter nach der Kautionsvereinbarung als Sicherheit eine Geldsumme bereitzustellen oder, was dem gleichsteht, eine Geldsumme oder ein Sparbuch zu hinterlegen oder ein auf seinen Namen angelegtes und, soweit vereinbart, an den Vermieter zu verpfändendes oder abzutretendes Kautionskonto anzulegen, so ist er nach § 551 Abs. 2 BGB zu drei gleichen monatlichen Teilzahlungen berechtigt. Nach Beendigung des Mietverhältnisses fällt der Sicherungszweck weg, wenn dem Vermieter gegenüber dem Mieter keinerlei Ansprüche aus dem Mietverhältnis mehr zustehen. Bestehen Mietrückstände oder Schadensersatzansprüche, ist der Vermieter berechtigt, mit diesen gegen den Kautionszahlungsanspruchs des Mieters aufzurechnen (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 18.01.2006 – VIII ZR 71/05).
Der Erwerb von Genossenschaftsanteilen unterfällt diesem Rechtsbegriff nicht. Mietet eine Person eine Wohnung bei einer Wohnungsgenossenschaft an, ist das Miet- bzw. das Nutzungsverhältnis nicht die einzige Rechtsbeziehung, in welcher der Mieter zu seinem Vermieter steht. Vielmehr ist der Mieter bei einer Wohnungsbaugenossenschaft gleichzeitig auch Mitglied dieser Genossenschaft. Grundsätzlich überlassen Wohnungsbaugenossenschaften ihre Wohnungen ausschließlich oder in erster Linie nur Mitgliedern zur Nutzung. Voraussetzung für die Überlassung einer Genossenschaftswohnung ist daher in der Regel zunächst die Mitgliedschaft. Hierfür hat der Bewerber ein oder mehrere Geschäftsanteile als Pflichtanteile in der jeweils in der Satzung festgelegten Höhe zu zeichnen. Ferner sind für die Überlassung der Wohnung satzungsgemäß grundsätzlich weitere Pflichtanteile zu übernehmen. Im Ergebnis ist der Mieter somit gleichzeitig Mitglied und Mieter und damit "Gesellschafter" des Vermietungsunternehmens (Feßler/Roth, WuM 2010, 67; zum Rechtscharakter von Einzahlungen auf Geschäftsanteile bei Wohnungsunternehmen in der Rechtsform der Genossenschaft als Mitgliedsbeiträge vergl. auch § 9 Abs. 1 Satz 2 WoBindG).
b) Der Senat hält es jedoch für geboten, die Regelung des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II auf die vom Kläger übernommenen Genossenschaftsanteile analog anzuwenden.
Rechtsfortbildung im Wege der Analogie ist bei Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke zulässig. In diesen Fällen sind die Gerichte befugt und verpflichtet zu prüfen, was Recht i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG ist. Dabei geht die Methode der Analogie zwar über die Auslegung im engeren Sinne hinaus, indem sie den Anwendungsbereich einer Norm auf einen Fall erstreckt, der von ihrem Wortlaut nicht erfasst wird. Dies ist aber verfassungsrechtlich unbedenklich, solange aus den Wertungen des Gesetzes entnommen wird, ob eine Lücke besteht und wie diese geschlossen werden soll (BVerfG, Beschluss vom 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89). Die Analogie beruht auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (BSG, Urteile vom 16.04.2002 – B 9 VG 1/01 R und vom 25.08.2011 – B 11 AL 30/10 R m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13). Eine planwidrige Regelungslücke liegt vor, wenn das Gesetz nach der ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht für eine bestimmte Fallgestaltung eine Regelung hätte erwarten lassen, diese jedoch unbeabsichtigt nicht erfolgt ist. Weiter muss der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem geregelten Tatbestand vergleichbar sein, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber hätte bei einer Interessenabwägung unter Beibehaltung der bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift beachteten Grundsätze eine identische Regelung gewählt.
Der Umstand, dass § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II die Mietkaution, nicht aber die Verpflichtung zur Übernahme von Genossenschaftsanteilen, die Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrages sind, nennt, beruht auf einer planwidrigen Regelungslücke.
Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die regelmäßige Verpflichtung zur Erbringung von Genossenschaftsanteilen erkannt und bewusst nicht der Regelung des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II unterworfen hätte, sondern diese Kosten als Wohnungsbeschaffungskosten i.S.d. § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II hätte ansehen wollen. § 22 Abs. 6 SGB II entspricht § 22 Abs. 3 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung (vgl. hierzu Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.09.2010, S. 84). § 22 Abs. 3 SGB II a.F. entsprach § 22 Abs. 2 SGB II aus dem Entwurf des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (BT-Drucks 15/1516). Zur Begründung dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber lediglich ausgeführt, die Regelung stelle klar, dass – wie im Sozialhilferecht auch – Wohnungsbeschaffungskosten sowie Mietkautionen und Umzugskosten bei vorheriger Zustimmung durch die Agentur für Arbeit übernommen werden können (BT-Drucks. 15/1516, S. 57; zur Gleichbehandlung von Mietkautionen und Genossenschaftsanteilen nach dem Sozialhilferecht vergl. bereits VG Oldenburg, Beschluss vom 17.10.2002 – 13 A 2091/01). Im Rahmen der Einführung des § 22 Abs. 3 Satz 3 SGB II durch das Gesetz zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze vom 24.03.2006 ab 01.04.2006 ist zur Begründung lediglich ausgeführt: "Der zuständige Leistungsträger soll eine Mietkaution grundsätzlich in Form eines Darlehens erbringen, da sich aus der Natur der Mietkaution bereits ergibt, dass diese im Regelfall an den Mieter zurückfließt. Insofern ist es im Regelfall nicht gerechtfertigt, die Kaution dem Hilfebedürftigen endgültig zu belassen" (BT-Drucks 16/688 S. 14).
Hätte der Gesetzgeber die vorliegende Konstellation erkannt, wäre zu erwarten gewesen, dass er sie einer Regelung zugeführt hätte, die der Regelung zur regelmäßig als Darlehen zu erbringenden Mietkaution entsprochen hätte, weil die Lebenssachverhalte hinsichtlich ihrer rechtlichen Bewertung soweit vergleichbar sind, dass anzunehmen ist, dass eine Interessenabwägung des Gesetzgebers zu einer identischen Regelung geführt hätte (in diesem Sinne auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.05.2010 – L 5 AS 25/09; SG Düsseldorf, Beschluss vom 08.08.2008 – S 28 AS 108/08 ER; SG Reutlingen, Urteil vom 23.11.2006 – S 3 AS 3093/06; zum BSHG VG Oldenburg, Beschluss vom 17.10.2002 – 13 A 2091/01; abweichend – Wohnungsbeschaffungskosten – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.06.2011 – L 19 AS 958/11 B). Bei den Genossenschaftsanteilen handelt es sich um Aufwendungen, die bei Übernahme der Wohnung anfallen und die nach Beendigung des Nutzungsverhältnisses an den Betroffenen zurückfließen. Auf diesem entscheidenden Gesichtspunkt beruht auch die Regelung des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II (BT-Drucks. 16/688, S. 14). Für eine entsprechende Anwendung von § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II spricht zudem die Zuständigkeitsregelung des § 22 Abs. 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB II. Hiernach ist für die Anerkennung der Mietkaution als Bedarf der am Ort der neuen Unterkunft zuständige Leistungsträger zuständig, während für die Anerkennung der Wohnungsbeschaffungskosten als Bedarf der bis zum Umzug zuständige Leistungsträger zuständig ist. Es ist praktikabler, wenn der am neuen Wohnort zuständige Leistungsträger für Genossenschaftsanteile zuständig ist. Die Frage, ob eine Mietkaution oder aber auch die Erbringung von Genossenschaftsanteilen notwendig ist, um Wohnraum anzumieten und die Überprüfung der jeweiligen Höhe auf ihre Angemessenheit kann besser von dem am Ort der neuen Unterkunft zuständigen Leistungsträger, der auch für die laufenden Leistungen für Unterkunft und Heizung zuständig ist, festgestellt werden. Denn dieser verfügt über die für eine Überprüfung notwendigen Daten und ist eher in der Lage, vor Ort im Wege der Amtsermittlung tätig zu werden. Auch für eine evtl. Rückabwicklung darlehensweise gewährter Leistungen ist die Zuständigkeit des am Ort der neuen Unterkunft zuständigen Leistungsträgers erheblich zweckmäßiger.
Der Umstand, dass die Mietkaution – sofern sie als Barkaution errichtet wird – getrennt vom Vermögen des Vermieters anzulegen ist (§ 551 Abs. 3 BGB), während die finanzielle Beteiligung des Genossenschaftsmitglieds und Wohnungsnutzers in Form von Geschäftsanteilen bei der Genossenschaft deren Eigenkapital bildet und sich der Vermieter aus einer mietrechtlichen Kaution bereits während des Bestehens des Mietverhältnisses bedienen kann, während das Geschäftsguthaben der Genossenschaft aufgrund der Eigenkapitalerhaltungsvorschrift des § 22 Abs. 4 GenG nicht vor Beendigung des Mietverhältnisses ausgezahlt werden darf (Feßler/Roth, WuM 2010, 62 ff), rechtfertigt bei Anwendung des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II keine unterschiedliche Behandlung der Kaution einerseits und der Genossenschaftsanteile andererseits. Diese Regelungen lassen den maßgeblichen Sicherungscharakter der Zahlung von Genossenschaftsanteilen unberührt.
3) Die Aufrechnungserklärung, die der Kläger zu Recht mit der Anfechtungsklage angegriffen hat (BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 1/14 R), ist hingegen rechtswidrig und war deshalb aufzuheben.
Zwar folgt aus den Darlegungen zu 2), dass die Genossenschaftsanteile zu Recht als Darlehen erbracht worden sind. Zur Überzeugung des Senats ergibt sich aus einer verfassungskonformen Auslegung von § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II (zur Verpflichtung, das Gebot verfassungskonformer Auslegung bei der Gewährung existenzsichernder Leistungen besonders im Auge zu behalten BVerfG, Urteil vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12), wonach eine Mietkaution (bzw. hier die Genossenschaftsanteile) in atypischen Fällen auch als (verlorener) Zuschuss erbracht werden kann, neben der darlehensweisen Bewilligung mit gleichzeitiger Tilgung durch die Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 SGB II auch (als dritte Alternative) die Möglichkeit einer darlehensweisen Bewilligung im Wege pflichtgemäßer Ermessenausübung, bei welcher die Tilgung bis zum Ausscheiden des Hilfebedürftigen aus dem Leistungsbezug oder bis zur Auszahlung des Guthabens durch die Genossenschaft ausgesetzt ist. Diese Bildung einer dritten Alternative ist einer Auslegung vorzuziehen, wonach dem Leistungsträger nur die Alternativen "Darlehen mit sofortiger Tilgung" (erste Alternative als Regelfall) oder "Zuschuss" (zweite Alternative als Ausnahme) zur Verfügung stehen. Bei Beschränkung der Wahlmöglichkeiten auf diese beiden Alternativen bestünde die Gefahr, aufgrund der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Wahrung des Existenzminimums in atypischen Fällen die berechtigten Interessen des Steuerzahlers zu verletzen. Denn eine Vermögensbildung durch SGB II-Leistungen soll nicht stattfinden (BSG, Urteil vom 07.07.2011 – B 14 AS 79/10 R), was aber die zwingende Folge wäre, wenn die vom SGB II-Träger übernommenen Genossenschaftsanteile dem Leistungsberechtigten nach Rückzahlung endgültig zustehen würden.
Im vorliegenden Fall war der Beklagte verpflichtet, in Anwendung der dritten Alternative ein tilgungsfreies Darlehen zu erbringen. Sein grundsätzlich auch bezüglich der dritten Alternative bestehendes Auswahlermessen war im vorliegenden Fall auf Null reduziert. Denn der Kläger hat nicht in freier Entscheidung gehandelt, sondern hat aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Wohnung verloren und musste in die Wohnung in S ziehen. Die fristlose Kündigung der Wohnung in L beruhte auf einer Beschädigung der Wohnung durch den Kläger während einer akuten Psychose. Der Umzug in die Wohnung in S war für den Kläger aus ärztlicher Sicht angezeigt, da seine Mutter in der gleichen Wohnanlage wohnt.
Bei der Prüfung eines Ermessensspielraums ist auch zu berücksichtigen, dass aufgrund der analogen Anwendung von § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II Beträge darlehensweise bewilligt werden können, die der Höhe nach die auf drei Monatsmieten beschränkte Mietkaution deutlich überschreiten. Damit handelt es sich bei der vom Beklagten gezogenen und vom Senat gebilligten Analogie um eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Betroffenen, deren Folgen in verfassungskonformer Anwendung begrenzt werden müssen. Die Bewilligung als Darlehen mit gleichzeitiger Tilgung durch Aufrechnung nach § 42a SGB II würde vorliegend dazu führen, dass unter Berücksichtigung des aktuellen Regelsatzes für Alleinstehende (399,00 EUR) der Kläger gerundet 57 Monate (4,75 Jahre) eine Kürzung der bewilligten Leistungen von 10 % hinnehmen müsste. Die vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung angebotene Begrenzung des Aufrechnungszeitraums auf 36 Monate ändert an dieser Bewertung nichts. Das Bundesverfassungsgericht hat nur eine vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung ausdrücklich verfassungsrechtlich nicht beanstandet (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09; hierzu auch BSG, Beschluss vom 25.02.2014 – B 4 AS 417/13 B). Hiermit ist die vom Beklagten vorgenommene Kürzung für 57 Monate ebenso wenig vergleichbar, wie die angebotene Reduzierung auf 36 Monate.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zuzulassen.
Erstellt am: 24.06.2015
Zuletzt verändert am: 24.06.2015