Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.04.2007 abgeändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 04.10.2005 verurteilt, über den Widerspruch der Beigeladenen zu 1) gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses vom 25.08.2004 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte und die Beigeladene zu 1) tragen die Kosten des Rechtsstreits je zur Hälfte. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Festsetzung eines Regresses wegen unzulässiger Arzneimittelverordnungen gegen die Beigeladene zu 1) für die Quartale 2/2002 bis 1/2003.
Mit Schreiben vom 27.06.2003 – eingegangen am 30.06.2003 (Quartale 2 bis 4/2002) – und 02.07.2003 – eingegangen am 03.07.2003 – (Quartal 1/2003) beantragte die Klägerin die Prüfung der Verordnungsweise der Beigeladenen zu 1) – einer radiologischen Gemeinschaftspraxis – in besonderen Fällen gemäß § 48 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMVÄ) in Verbindung mit (i.V.m.) § 15 Prüfvereinbarung. Zur Begründung gab sie an, die Beigeladene zu 1) habe ihrer – der Klägerin – Versicherten, die an Multipler Sklerose (MS) erkrankt sei, das Arzneimittel Octagam® verordnet. Octagam® sei zugelassen zur Substitutionstherapie bei primären Immunmangelkrankheiten, Myelom, chronisch-lymphatischer Leukämie, Kindern mit angeborenen ADS und rezidivierenden Infekten und zur Immunmodulation, aber nicht bei MS. Die Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use des Medikaments seien nicht erfüllt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 36/00 R (Sandoglobulin) – als Voraussetzung für den Off-Label-Use eines Medikaments nicht nur das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung und das Fehlen alternativer Behandlungsmöglichkeiten gefordert, sondern auch einen Wirksamkeitsnachweis in der Form, dass die Datenlage ausreichend kurativen oder palliativen Behandlungserfolg begründe. Das BSG verstehe hierunter, dass Forschungsergebnisse vorlägen, die die Zulassung für die betreffende Indikation erwarten ließen. Ein derartiger Wirksamkeitsnachweis sei für die Behandlung der schubförmig verlaufenden MS mit Immunglobulinen bisher nicht erbracht.
In ihrer Stellungnahme führte die Beigeladene zu 1) aus, bei der Versicherten läge eine MS mit sekundär progredientem schubförmigen Krankheitsverlauf mit beginnender Refrakterität auf Beta-Interferon vor. Die Verordnung intravenöser Immunglobuline – Handelsname Octagam® – sei in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen erfolgt und habe dem Stand der medizinischen Wissenschaft sowie der Rechtsprechung des BSG entsprochen. Es liege ein schwere Erkrankung vor; es seien keine zugelassenen Medikamente verfügbar gewesen, da die Beta-Interferon-Therapie die Schubhäufigkeit nicht mehr habe reduzieren können und sich der Allgemeinzustand der Versicherten verschlechtert habe; aufgrund durchgeführter Studien bestehe die begründete Aussicht, dass mit den Immunglobulinen ein Behandlungserfolg eintreten könne; dieser sei auch eingetreten.
Der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein (Prüfungsausschuss) setzte mit Bescheid vom 25.08.2004 für die vier Quartale gegen die Beigeladene zu 1) einen Regress in Höhe der Nettoverordnungskosten von insgesamt 25.386,26 Euro mit der Begründung fest, dass es sich um einen nicht zulässigen Off-Label-Use gehandelt habe.
Mit ihrem Widerspruch vertiefte die Beigeladene zu 1) ihr Vorbringen und trug im Wesentlichen ihre Auffassung vor, dass die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use im Sinne der Rechtsprechung des BSG erfüllt seien.
Der Beklagte gab dem Widerspruch mit Bescheid vom 04.10.2005 mit der Begründung statt, dass er die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use als gegeben ansehe.
Dagegen hat sich die Klägerin mit Klage vom 03.11.2005 gewandt: Die Voraussetzungen, die einen Off-Label-Use rechtfertigten, seien nicht erfüllt. Aufgrund der Datenlage bestehe keine begründete Aussicht, dass mit dem eingesetzten Präparat ein wissenschaftlich evidenter Behandlungserfolg zu erzielen sei. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98 – (SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) führe zu keinem anderen Ergebnis, da die MS zwar eine schwerwiegende, nicht aber tödliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit darstelle bzw. diesen Schweregraden nicht vergleichbar sei.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 04.10.2005 (nicht 04.01.2005) aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Widerspruch der Beigeladenen gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses vom 25.08.2004 zurückzuweisen.
Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben den angefochtenen Bescheid insbesondere unter Berücksichtigung des Urteils des schleswig-holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 31.01.2007 – L 5 KR 28/06 – für rechtmäßig gehalten.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage mit Urteil vom 18.04.2007 abgewiesen: Der Beklagte habe den vom Prüfungsausschuss festgesetzten Regress zu Recht aufgehoben. Das verabreichte Medikament sei zwar nicht für die Behandlung des vorhandenen Krankheitsbildes zugelassen; es seien aber die Voraussetzungen eines Of-Label-Use erfüllt. Bei der MS handele es sich um eine schwerwiegende Erkrankung, es stehe keine andere Therapie zur Verfügung; zudem bestehe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Gegen das am 18.06.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21.06.2007 Berufung eingelegt und sich u.a. auf das Urteil des BSG vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R – berufen.
Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.04.2007 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 04.10.2005 zu verurteilen, den Widerspruch der Beigeladenen zu 1) gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses vom 25.08.2004 zurückzuweisen.
Der Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 1) ist u.a. der Auffassung, dass sich das BSG mit seiner Entscheidung vom 27.03.2007 in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BVerfG gesetzt habe.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet; denn das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 04.10.2005 beschwert die Klägerin (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Der Beklagte durfte den vom Prüfungsausschuss gegen die Beigeladene zu 1) festgesetzten Regress nicht mit der Begründung aufheben, dass deren Verordnung von Octagam® an die Versicherte der Klägerin aufgrund eines Off-Label-Use gerechtfertigt sei.
Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 der zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, der AOK Rheinland, dem Landesverband der Betriebskrankenkassen Nordrhein-Westfalen, der IKK Nordrhein, der Krankenkasse der rheinischen Landwirtschaft, der Bundesknappschaft, dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. und dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung in Nordrhein geschlossenen und ab 01.01.2001 geltenden Prüfvereinbarung vom 26.01.2001 (Rheinisches Ärzteblatt 6/2001, S. 109 ff) haben die Prüfungsausschüsse auf Antrag der Krankenkassen, ihrer Verbände, der von ihnen benannten Stellen oder Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V – hier in der bis 31.12.2003 geltenden Fassung -. Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, die Einhaltung der das Wirtschaftlichkeitsgebot umsetzenden Bestimmungen auch im Einzelfall zu überprüfen und gegebenenfalls einen Regress festzusetzen. Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52; BSG; Urteil vom 05.11.2008 – B 6 KA 64/07 R -).
Davon ausgehend war der Beklagte nicht berechtigt, die fristgerechten (§ 15 Abs. 2 Satz 2 Prüfvereinbarung) Prüfanträge der Klägerin mit der Begründung abzulehnen, dass die Verordnung von Octagam® an die Versicherte der Klägerin rechtmäßig sei.
Die Kontrolle der Gerichte ist zwar im Hinblick auf den den Prüfgremien zustehenden Beurteilungsspielraum eingeschränkt (vgl. z.B. BSG vom 09.03.1994 – 6 RKa 18/92 – SozR 3-2500 § 106 Nr. 23; BSG vom 15.11.1995 – 6 RKa 43/94 und 6 RKa 58/94). Es obliegt den Gerichten aber u.a. die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist. Dementsprechend sind die Gerichte zur Korrektur einer unrichtigen Rechtsanwendung durch die Prüfgremien befugt bzw. auf Anrufung des zu Unrecht Belasteten verpflichtet.
Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten und des SG waren die von der Beigeladenen zu 1) vorgenommenen Verordnungen von Octagam® nicht zulässig. Dieses Arzneimittel durfte nicht im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnet werden; es bestand insoweit keine Leistungsanspruch der bei der Klägerin Versicherten (§§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)).
Der der Versicherten der Klägerin wegen der bei ihr bestehenden MS nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V zustehende Anspruch auf Krankenbehandlung, der nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln beinhaltet, umfasst nicht die Versorgung mit dem Arzneimittel Octagam®. Arzneimittel ohne die nach § 21 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst (BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R – in SozR 3-2500 § 31 Nr. 8; BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 12/04 R – in SozR 4-2500 § 27 Nr. 7). Dies ist hier der Fall, weil das Arzneimittel Octagam® nicht für die Behandlung der sekundär progredienten MS zugelassen ist (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 08.02.2008 – L 4 KR 2153/06 -).
Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Octagam® ist ausgeschlossen.
Das BSG hat bereits in seinem Urteil vom 19.03.2002 (a.a.O.) sowohl allgemein zu den Voraussetzungen für einen Off-Label-Use ausführlich Stellung genommen als auch speziell für einen an MS (in einer primär chronisch-progredienten Verlaufsform) leidenden Versicherten den Anspruch auf eine intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen im Einzelnen verneint.
Diese Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, wurde in der Folgezeit fortgeführt und weiter präzisiert:
Ein Off-Label-Use kommt nur in Betracht,
1.wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
2.wenn keine andere Therapie verfügbar ist, und
3.wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann
(BSG vom 26.9.2006 – B 1 KR 1/06 R = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5; BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 – in USK 2007-25; BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R -).
Diese Voraussetzungen sind schon deshalb nicht erfüllt, weil keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse vorliegen, die eine hinreichende Erfolgsaussicht einer Behandlung der sekundär progredienten MS mit Immunglobulinen ergeben (s. die in der mündlichen Verhandlung eingehend mit den Beteiligten erörterten Urteile des BSG vom 27.03.2007 und 28.02.2008, a.a.O.). Es liegt auch kein sog. Seltenheitsfall vor, in dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (Urteile des BSG vom 27.03.2007 und 28.02.2008, a.a.O.). Schließlich liegen bei einer MS in sekundär progredienter Verlaufsform auch die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom 06.12.2005 nicht vor (Urteile des BSG vom 27.03.2007 und 28.02.2008, a.a.O.).
Die Auffassung der Beigeladenen zu 1), dass sich das BSG insbesondere mit seinem Urteil vom 27.03.2007 in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BVerfG gesetzt habe, führt schon deshalb nicht weiter, weil das BVerfG gerade zu diesem Urteil ausgeführt hat, dass diese Rechtsprechung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (BVerfG, Beschluss vom 30.06.2008 – 1 BvR 1665/07 -).
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 31.01.2007 – L 5 KR 28/06 R -; diese Entscheidung wurde nämlich vom BSG aufgehoben (s.o. BSG, Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.).
Anhaltspunkte, die ein Abweichen von der Rechtsprechung des BSG bzw. des BVerfG rechtfertigen könnten, sind dem Senat nicht ersichtlich und auch nicht von dem Beklagten oder der Beigeladenen zu 1) dargetan.
Die weitere Prüfung der Anträge der Klägerin bleibt dem Beklagten vorbehalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 09.06.2009
Zuletzt verändert am: 09.06.2009