Tatbestand:
Streitig ist, ob die Wartezeit für die von den Klägern begehrten Halbwaisenrenten erfüllt ist bzw. als erfüllt gilt.
Der aufgrund einer Gewalttat zwischen dem 17.12.1990 und dem 09.01.1991 verstorbene Versicherte … (geboren am …1964) hat ausweislich zweier Urkunden des Stadtjugendamtes Minden vom 12.05.1987 und 24.01.1989 die Vaterschaft der Kläger … (früherer Name: …, geboren am …1987) und … (früherer Name: …, geboren am …1988) anerkannt. Am 10.04.1991 beantragte die Mutter als gesetzliche Vertreterin der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Halbwaisenrenten. Mit Bescheiden vom 01.09.1992 und 26.01.1993 wurden die Rentenanträge von der Beklagten mit der Begründung abgelehnt, auf die Wartezeit seien nach dem Versicherungsverlauf lediglich 31 Monate anzurechnen, so daß 29 Monate an der Wartezeit von 5 Jahren (60 Kalendermonaten) fehlten. Die Bescheide enthielten jeweils den Hinweis, daß vom 01.01.1992 an beantragt werden könne, die vorhandenen Beiträge zu erstatten.
Zur Begründung der dagegen am 21.09.1992 bzw. 01.02.1993 jeweils eingelegten Widersprüche trugen die Kläger vor, Ansprüche auf Halbwaisenrenten seien gegeben, weil die Wartezeitfiktion gemäß § 1252 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. § 245 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) eingreife. Der Versicherte sei durch eine Gewalttat ums Leben gekommen und somit von dritter Seite daran gehindert worden, weitere Beiträge zur Rentenversicherung zu erbringen, um seinen Kindern im Falle seines Ablebens den Unterhalt zu sichern. Die in § 245 Abs. 2 SGB VI aufgeführten Beispiele hätten zum Tod des Versicherten vergleichbaren Charakter. Die Voraussetzungen des § 245 Abs. 3 SGB VI könnten nicht abschließend beurteilt werden, aber nach dem derzeitigen Sachstand scheine es so zu sein, daß der Versicherte keine Ausbildung absolviert habe. Aus dem Wesensgehalt der gesamten Norm ergebe sich jedoch, daß eine vorzeitige Wartezeiterfüllung eintrete, wenn ein junger Mensch, der am Anfang seines Erwerbslebens stehe, ein gewisses Maß an Beiträgen erbracht habe und dann durch einen außergewöhnlichen Unfall aus dem Leben scheidet.
Der Widerspruchsausschuß der Beklagten wies die Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 24.03.1993 zurück. Zur Begründung wurde in dem Bescheid i. w. ausgeführt, die Wartezeit von 60 Kalendermonaten sei nicht erfüllt und die Voraussetzungen einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung nach § 245 Abs. 2 oder Abs. 3 SGB VI lägen nicht vor.
Gegen den am 29.03.1993 per Einschreiben abgesandten Widerspruchsbescheid haben die Kläger am 28.04.1993 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgen. Zur Begründung haben sie i. w. vorgetragen, die Wartezeitfiktion nach § 245 SGB VI (vormals § 1252 RVO) müsse im Wege einer erweiternden Gesetzesauslegung auch im vorliegenden Fall Anwendung finden. Der Katalog der in den genannten Vorschriften geregelten besonderen Härten sei nicht abschließender Natur. Er gebe lediglich Wertmaßstäbe an, nach denen auch andere Fallgestaltungen zu überprüfen seien. Die Fallbeispiele des § 245 SGB VI machten deutlich, daß es sich um einen außergewöhnlich schweren Schicksalsschlag handeln müsse, der mit der Realisierung eines allgemeinen Lebensrisikos nicht zu vergleichen sei. Die Ermordung eines Versicherten sei der Struktur und dem Charakter nach den Fallgruppen des § 245 SGB VI vergleichbar, so daß die Wartezeitfiktion sinngemäß auch für Opfer von Gewalttaten Anwendung finden müsse. Der Eintritt einer solchen Gewalttat sei derartig selten, daß es nahegelegen habe, keine besonderen gesetzgeberischen Regelungen im Rahmen des Rentenrechts vorzunehmen. Unter Berücksichtigung dieses besonderen Aspektes greife die Wartezeitfiktion hier ein, wo bei der besonderen Fallgestaltung auch eine Vorverlagerung von Pflichtbeiträgen im Rahmen des § 245 Abs. 3 SGB VI bei entsprechender Anwendung des § 43 Abs. 3 SGB VI entsprechen müßte.
Die Kläger haben beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 01.09.1992 und 26.01.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.03.1993 zu verurteilen, Halbwaisenrenten zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf ihre Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid berufen und ergänzend vorgetragen, auch wenn ein Mord unter den Begriff des Unfalls im Sinne des § 245 Abs. 3 SGB VI subsummiert werden könne, seien davon ausgehend die weiteren Zusatzvoraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt. Im übrigen sehe sie die Regelung in § 245 Abs. 2 SGB VI nach wie vor als abschließende Regelung an.
Das Sozialgericht hat verschiedene Ermittlungen zum Vorliegen einer Ausbildung im Sinne von § 245 Abs. 3 SGB VI durchgeführt. Ausweislich der Sitzungsniederschrift über einen Erörterungstermin am 08.05.1996 hat die Prozeßbevollmächtigte der Kläger im Einvernehmen mit der gesetzlichen Vertreterin dazu erklärt, die bisherige Sachlage sei wohl so einzuschätzen, daß eine weitere Sachaufklärung zu der Frage der Ausbildung durch die Vernehmung der Zeugen, die versucht worden sei, nicht viel erbringen werde. Die Klägerin selbst habe keine Kenntnis von einer Ausbildung in dem hier maßgebenden Zeitraum.
Mit Urteil vom 04.12.1996 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung i. w. ausgeführt, die Kläger hätten keinen Anspruch auf Halbwaisenrente, weil die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt sei und auch die Wartezeitfiktion aus § 1252 RVO/§ 245 SGB VI nicht eingreife. Voraussetzung für Halbwaisenrenten nach § 1267 RVO bzw. § 48 SGB VI sei u.a. die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren gemäß § 50 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB VI. Nach dem Versicherungsverlauf des verstorbenen Versicherten sei jedoch nur eine Zeit von 31 Monaten erfüllt, somit fehlten 29 Monate. Die Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschriften über die vorzeitige Wartezeiterfüllung gemäß § 245 Abs. 2 und Abs. 3 SGB VI seien nicht erfüllt. Ein Katalogfall nach § 245 Abs. 2 SGB VI liege nicht vor. Das Durchlaufen einer Ausbildung im Sinne von § 245 Abs. 3 SGB VI habe nicht festgestellt werden können. Auch unter Einbeziehung der Ermordung des Versicherten und des damit schweren Schicksalsschlags für die Halbwaisen könne das Sozialgericht bei der Auslegung des § 245 Abs. 2 SGB VI nicht über den Gesetzeswortlaut hinaus eine vorzeitige Wartezeiterfüllung feststellen. Dieses wäre eine richterliche Rechtsfortbildung, die mit dem strengen Gesetzesvorbehalt im Sozialrecht, geregelt in § 31 SGB I, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen wäre. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.
Gegen das am 09.01.1997 zugestellte Urteil haben die Kläger am 10.02.1997 (Montag) Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren i. w. unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens weiter- verfolgen. Sie sind weiterhin der Auffassung, es bestehe eine Regelungslücke, die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung bzw. Analogie zu schließen sei. Wegen der Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf die Schriftsätze vom 06.02.1997 und 27.03.1998 Bezug genommen. Die Kläger regen an, die Revision zuzulassen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 04.12.1996 abzuändern und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Kläger ist nicht begründet. Die Kläger haben auch nach Auffassung des Senats keinen Anspruch auf Halbwaisenrente, weil die dafür erforderliche Wartezeit nicht erfüllt ist und auch nicht als erfüllt gilt. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst in vollem Umfang auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, denen er sich anschließt (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Die Wartezeit für die begehrten Renten von 60 Kalendermonaten ist unstreitig nicht erfüllt. Die Voraussetzungen für eine vorzeitige Wartezeiterfüllung gemäß § 245 SGB VI bzw. eine fiktive Erfüllung der Wartezeit gemäß § 1252 RVO sind unstreitig nicht feststellbar. Die von den Klägern gewünschte richterliche Rechtsfortbildung ist auch nach Auffassung des Senats nicht möglich, weil dies die Grenzen der Möglichkeiten richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten würde und zudem eine Regelungslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen wäre, nicht besteht.
Entgegen der Auffassung der Kläger sind die in § 245 Abs. 2 und Abs. 3 SGB VI bzw. 1252 RVO geregelten Katalogfälle, in denen eine vorzeitige Wartzeiterfüllung gesetzlich vorgesehen ist, nicht mit dem Fall des Todes eines Versicherten durch eine Gewalttat vergleichbar. Den gesetzlichen Katalogfällen ist nämlich gemeinsam, daß entweder eine besondere Nähe zum Arbeitsleben (Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Unfall vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung) besteht oder aber der Gesetzgeber eine gesteigerte staatliche Fürsorgepflicht insbesondere aufgrund von Wehrdienst oder Kriegsereignissen gesehen hat. Zwar ist der Staat aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols auch verpflichtet, seine Bürger zu schützen, und – wenn ihm dies nicht möglich war – zumindest eine Entschädigung vorzusehen.
Dieser Verpflichtung ist der Staat durch die Regelungen im Opferentschädigungsgesetz (OEG) nachgekommen. Auch die Kläger erhalten nach der nunmehr vorgesehenen Einbeziehung von Ausländern Entschädigungsleistungen nach dem OEG.
Bei dieser Sachlage vermag der Senat auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung keine Regelungslücke zu erkennen, die entsprechend den Vorstellungen der Kläger im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschlossen werden könnte. Dabei kann dahinstehen, ob der Gesetzgeber Fälle der vorliegenden Art, in denen ein junger Versicherter vor Erfüllung der Wartezeit durch eine Gewalttat ums Leben kommt, bewußt nicht in den Katalog des § 245 Abs. 2 und Abs. 3 SGB VI aufgenommen hat. Selbst wenn der Gesetzgeber diese Fälle wegen der von den Klägern bzw. ihren Prozeßbevollmächtigten selbst vorgetragenen Seltenheit nicht gesehen haben sollte, bleibt festzustellen, daß der Staat durch die Regelungen im OEG seiner als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols bestehenden Fürsorgepflicht nachgekommen ist. Allenfalls wenn in solchen Fällen überhaupt keine Entschädigungsregelung vorgesehen wäre, könnte nach Auffassung des Senats an die von den Klägern begehrte erweiterte Anwendung des § 245 SGB VI im Wege richterlicher Rechtsfortbildung gedacht werden. Angesichts der bestehenden Regelungen im OEG besteht dazu jedoch keine Veranlassung. Entsprechende weitergehende Regelungen auf dem Gebiet der Rentenversicherung müssen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die dafür nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 bzw. 2 SGG erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Erstellt am: 11.08.2003
Zuletzt verändert am: 11.08.2003