Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Berücksichtigungszeit wegen Erziehung eines Kindes.
Die im Jahre 1946 geborene Klägerin betreibt mit ihrem Ehemann eine internistische Gemeinschaftspraxis in H. Sie ist seit dem 01.03.1977 als Mitglied der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe von der Rentenversicherungspflicht befreit. Vom 18.12.1974 bis 13.07.1976 war die Klägerin in der DDR wegen versuchter Republikflucht inhaftiert. In dieser Zeit wurde ihre 1971 geborene Tochter T zunächst in einem Kinderheim und anschließend von der Großmutter betreut.
Mit Bescheid vom 07.08.1996 lehnte die Beklagte die Feststellung der Haftzeit als Berücksichtigungszeit ab, weil andere Personen das Kind überwiegend erzogen hätten.
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 04.10.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2005 verweigerte die Beklagte die Rücknahme des Feststellungsbescheides vom 07.08.1996. Die Anerkennung von Kinderberücksichtigungszeiten werde durch den Tatbestand der Erziehung eines Kindes ausgelöst. Die Erziehung der Tochter T sei während der Inhaftierung unterbrochen gewesen.
Zur Begründung der am 09.02.2005 erhobenen Klage macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass eine vorübergehende rechtswidrige Inhaftierung der erziehenden Mutter eines Kindes deren Erziehungleistung nicht unterbreche. Die Klägerin habe auf die Erziehung ihrer Tochter durch jeweils monatlich einmal zugelassene Schreiben an das Kind und die Großeltern Einfluss genommen. Die Großeltern hätten T nur vorübergehend aufgenommen und der Mutter den Einfluss auf die Erziehung ihrer Tochter weitestgehend wie unter den gegebenen Umständen möglich gelassen. Ein auf Dauer angelegtes Pflegekindverhältnis zwischen den Großeltern und T habe nicht bestanden. Es könne nicht rechtens sein, dass ein zu rechtsstaatswidriger Haft Verurteilter, der alle ihm möglichen Maßnahmen ergreife, um auf die Erziehung seines Kindes einzuwirken, von vornherein von der Gewährung von Kindererziehungszeiten ausgeschlossen werde. Ansonsten sanktioniere man nicht nur das Staatsunrecht der DDR nachträglich als rechtswirksam im Sinne des bundesdeutschen Rechts, sondern werte den durch die Erziehung des Kindes T geleisteten generativen Beitrag zum Rentenversicherungssystem ungerechtfertigt geringer. Eine solche Auslegung sei mit Artikel 6 und Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) nicht zu vereinbaren.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.10.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2005 zu verurteilen, den Bescheid vom 07.08.1996 insoweit zurückzunehmen, als die Feststellung einer Berücksichtigungszeit vom 18.12.1974 bis 13.07.1976 wegen Erziehung der Tochter T abgelehnt worden ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für rechtmäßig. Sie legt eine Rentenprobeberechnung vom 18.08.2006 vor, wonach die Rentenanwartschaft der Klägerin ohne die streitige Berücksichtigungszeit 000,00 EUR und mit der Berücksichtigungszeit 0,00 EUR (Differenz 1,78 EUR) monatlich betrage. Der Nachteilsausgleich für die Inhaftierung in der DDR aus poltischen Gründen erfolge durch die Feststellung einer achtzehnmonatigen Ersatzzeit.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten erweisen sich als rechtmäßig.
Die Beklagte lehnt zu Recht die Rücknahme des Feststellungsbescheides vom 07.08.1996 ab, weil sie mit diesem Bescheid zutreffend die Feststellung einer Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung vom 18.12.1974 bis 13.07.1976 abgelehnt hat.
Nach § 44 Abs. 2 des Sozialgesetzbuchs – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nach dem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Der Bescheid vom 07.08.1996 ist jedoch rechtmäßig, weil die Klägerin in der Zeit vom 18.12.1974 bis 13.07.1976 ihre Tochter T nicht erzogen hat.
Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendeten 10. Lebensjahr ist bei einem Elternteil Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen (§ 57 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI -). Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VI wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der sein Kind erzogen hat. Dabei ist der Begriff der Erziehung in erster Linie in tatsächlichem Sinne zu verstehen und setzt voraus, dass der betreffende Elternteil gewillt und in der Lage ist, für die Erziehung des Kindes zu sorgen. Zur Erziehung gehören alle Maßnahmen, die nach der Vorstellung des Erziehenden dazu bestimmt und darauf gerichtet sind, die körperliche, geistige, seelische, sittliche und charakterlicher Entwicklung des Kindes zu beeinflussen (vgl. BSG SozR 3 -2200 § 1251a Nr. 8; BSG SozR 3- 2200 § 1227a Nr. 7). Regelmäßig ist zu fordern, dass der Elternteil mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft lebt (Löns in Kreikebohm, SGB VI, 2. Auflage 2003, § 56 Rdnr. 6; § 46 Rdnr. 12).
Die Klägerin hat ihre Tochter in diesem Sinne während ihrer Inhaftierung nicht erzogen. Sie lebte mit ihr nicht in häuslicher Gemeinschaft und konnte im Alltag auch keinen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Tochter nehmen. Hieran ändern auch die monatlichen Briefe aus dem Gefängnis nichts. Maßgeblichen Einfluss auf die Erziehung der Tochter der Klägerin hatte im streitgegenständlichen Zeitraum die Mutter der Klägerin. Dies schließt die begehrte Feststellung einer Kinderberücksichtigungszeit bei der Klägerin aus.
Auf die Gründe, warum die Klägerin gehindert war, die Erziehung ihrer Tochter selbst fortzusetzen, kommt es vorliegend nicht an. Der für rechtswidrig erklärten Freiheitsentziehung wird durch die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 5a SGB VI Rechnung getragen. Einer weitergehenden rentenrechtlichen Kompensation bedarf es nicht, zumal die Klägerin ihr Berufsleben ganz überwiegend außerhalb der Solidargemeinschaft der gesetzlich Rentenversicherten zurückgelegt hat. Nennenswerte Defizite in der sozialen Sicherung der Klägerin sind nicht zuletzt angesichts der erzielbaren Rentenerhöhung um 1,78 EUR monatlich nicht erkennbar. Von daher hat die Kammer keine Veranlassung, in eine vertiefte verfassungsrechtliche Diskussion des Klagebegehrens einzutreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Erstellt am: 22.09.2006
Zuletzt verändert am: 22.09.2006