Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 14.06.2012 geändert: Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 09.11.2012 vorläufig bis zur Entscheidung über ihre Klage SG Köln S 15 AS 2801/12, längstens jedoch bis zum 30.04.2013 Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs gemäß § 20 SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen.
Gründe:
I.
Die 1963 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und reiste im November 2010 nach Deutschland ein, um hier nach eigenen Angaben mit ihrem 1940 geborenen Lebensgefährten M. zusammen zu leben. Dieser erhält bei Bezug einer Altersrente von 491,28 Euro mtl (Auszahlbetrag im April 2012) ergänzend Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Die Kosten der Unterkunft in Höhe von 358,24 Euro monatlich werden seit März 2011 nicht mehr in voller Höhe, sondern wegen des der Antragstellerin zuzurechnenden Anteils nur noch zur Hälfte übernommen. Trotz zwischenzeitlich aufgelaufener Mietrückstände wurde noch keine Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen. Die Antragstellerin ist nicht im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung, sie nutzt eine im Heimatland ausgestellte und bis zum 18.01.2013 befristete European Health Insurance Card. Seit November 2011 hat sie sich in L und Umgebung schriftlich erfolglos auf Tätigkeiten als Hilfskraft in Hotels, Einzelhandelsläden und Restaurants beworben.
Den Antrag vom 29.11.2011, ihr Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen, lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 22.03.2012, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 15.06.2012 mit der Begründung ab, für die Antragstellerin gelte der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Über die hiergegen erhobene Klage ist noch nicht entschieden.
Den Antrag vom 03.04.2012, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die dringend benötigten existenzsichernden Leistungen zu gewähren, hat das Sozialgericht durch Beschluss vom 14.06.2012, zugestellt am 15.06.2012, abgelehnt. Für die Zahlung von Kosten der Unterkunft fehle es am Anordnungsgrund. Die Eilbedürftigkeit sei mit Blick auf § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB erst bei Rechtshängigkeit der Räumungsklage gegeben. Für die Leistungen im Übrigen hat es einen Anordnungsanspruch mit eingehender Begründung verneint und im Wesentlichen darauf abgestellt, dass für die Antragstellerin als bulgarische Staatsangehörige, ungeachtet der Frage, ob sie die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II erfülle, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greife. Ihr Aufenthaltsrecht leite sich allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ab. Der Leistungsausschluss sei europarechtskonform, denn bulgarische Staatsangehörige seien bis Ende 2013 nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigt. Darin liege die sachliche Rechtfertigung für eine mit Blick auf Deutsche und Alt-Unionsbürger abweichende Regelung.
Mit ihrer Beschwerde vom 11.07.2012 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Ihr Lebensgefährte sei nicht mehr in der Lage, sie ausreichend zu unterstützen. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen zur europarechtlichen Problematik des erhobenen Anspruchs und setzt sich eingehend mit der hierzu ergangenen (uneinheitlichen) obergerichtlichen Rechtsprechung auseinander.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Köln vom 14.06.2012 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung aus den dort ausgeführten Gründen für rechtmäßig und führt ergänzend aus, Art 4 der VO (EG) 883/2004 sei nicht auf beitragsunabhängige Leistungen anzuwenden. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei im Wege der der europarechtskonformen Auslegung teleologisch in seinem Anwendungsbereich auf Ausländer zu reduzieren, die weder in Deutschland integriert seien, noch Verbindungen zum nationalen Arbeitsmarkt aufwiesen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Das Sozialgericht hat eine einstweilige Anordnung bezogen auf die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu Unrecht abgelehnt, eine Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Zahlung von Kosten der Unterkunft und Heizung hat es zutreffend verneint.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinaus¬gehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Haupt¬sache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803; Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1).
Der von der Antragstellerin geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschl v 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG a.a.O. Rn 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. §86b Rn 29, 29a).
Der Antragstellerin sind unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung nur die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Regelbedarf) zu gewähren.
Für die geltend gemachten Kosten der Unterkunft und Heizung fehlt es nach Überzeugung des Senats aus den vom Sozialgericht dargelegten Gründen am Anordnungsgrund. Denn für diese (laufenden) Kosten ist nach der Rechtsprechung des Senats die Eilbedürftigkeit im oben dargelegten Sinn regelmäßig erst dann zu bejahen, wenn konkret Wohnungslosigkeit droht (s. LSG NRW Beschl vom 11.01.2011 – L 6 AS 2084/10 B ER -; vgl auch LSG NRW Beschl v 27.11.2008 – L 9 B 183/08 AS ER – Rn 11 m.w.N.). Das Auflaufen von Mietschulden, wie von der Antragstellerin vorgetragen, begründet diese Annahme nicht.
Bezogen auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Regelbedarf) ist die Eilbedürftigkeit deshalb gegeben, weil die Antragstellerin – wie schließlich auch die auflaufenden Mietschulden zeigen – glaubhaft vorgetragen hat, über kein ausreichendes eigenes Einkommen und Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verfügen. Da sie sich nicht selbst zu helfen vermag, benötigt sie diese, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hingegen nicht abschließend zu entscheiden. Es spricht Einiges dafür, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für die Antragstellerin, die die Leistungsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II glaubhaft gemacht hat, nicht greift, sondern über Art 4 VO (EG) 883/2004 verdrängt wird.
Die Antragstellerin ist im Jahre 1965 geboren (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Durchgreifende Bedenken gegen ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 (BGBl I 453) bestehen nicht. Nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 SGB II erhebliche gesundheitliche Einschränkungen sind nicht ersichtlich. Der Annahme einer "rechtlichen Erwerbsfähigkeit" der Antragstellerin gemäß § 8 Abs. 2 SGB II steht nicht entgegen, dass sie sich als bulgarische Staatsangehörige wegen der Einschränkung im EU-Beitrittsvertrag ihres Landes vom 25.04.2005 (BGBl 2006 II 1146) während einer Übergangszeit bis längstens zum 31.12.2013 noch nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann. § 8 Abs. 2 S. 1 SGB II stellt lediglich darauf ab, dass die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben zu Einkommen und Vermögen ist die Antragstellerin hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3 SGB II. Mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, ihren Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, hat sie, die sie als Unionsbürgerin für Einreise und Aufenthalt keiner Erlaubnis bedarf, an ihrem Wohnort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I; vgl. auch BSG Urt v 27.01.1994 – 5 RJ 16/93 – zu Verweildauer und -wille und zur sog. Zukunftsoffenheit des Aufenthalts).
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist die Frage, ob die Antragstellerin deshalb keine Leistungen erhalten kann, weil zu ihren Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift.
Dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, mag – trotz auch hier verbleibender Bedenken – unterstellt werden. Es bestehen aber unter verschiedenen rechtlichen Herangehensweisen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss in dieser Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (aus der umfangreichen obergerichtlichen Rechtsprechung s. etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse v. 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER – ; v. 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER – ; LSG Hessen Beschl. v. 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER – ; vgl hierzu auch Beschlüsse des Senates v. 17.05.2011 – L 6 AS 356/11 B ER – und v. 06.06.2012 – L 6 AS 579/12 B ER). Greift der Leistungsausschluss, spricht doch viel dafür, dass sich ein (inhaltsgleicher) Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfes unmittelbar aus Art. 4 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit ergibt.
Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt und sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Diese Bestimmung ist seit dem 01.05.2010 als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Die VO (EG) hat die VO (EWG) 1408/71 abgelöst und ist seit diesem Zeitpunkt in Kraft (s Art. 91 VO (EG) 883/2004 in Verbindung mit der DurchführungsVO (EG) 987/2009). Die VO (EG) 883/2004 erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden (s Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); BVerfG Beschl v 06.04.2010 – 2 BvR 2261/06 Rn 53; s auch schon EuGH Urt v 15.07.1964 – RS 6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Für die Annahme, dass Art. 4 VO (EG) 883/2004 den Leistungsausschluss verdrängt und die Antragstellerin unmittelbar aus dieser Bestimmung Leistungsansprüche ableiten kann, wie sie auch deutschen Staatsangehörigen zustehen (vgl. hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse v. 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER – ; v. 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER – ; LSG Hessen Beschl. v. 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER – (bejahend); aA LSG Berlin-Brandenburg Beschl. V. 12.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. V. 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER -), sprechen folgende Überlegungen:
Die Antragstellerin – zumal im Besitz einer weiterhin gültigen European Health Insurance Card (vgl hierzu Frings ZAR 2012, 317 auch zu der ggfs missverständlich formulierten Begrenzung auf versicherte Personen; s etwa Fuchs SGb 2008, 201; Schreiber NZS 2012, 647) – unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (vgl Art. 2 Abs. 1 der VO). Die hier in Rede stehenden/zuerkannten Leistungen nach dem SGBII werden als besondere beitragsunabhängige Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst. Es handelt sich insbesondere auch um Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Art. 1 Buchstabe l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff zwar als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". Damit ist aber keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden (s hierzu auch Frings aaO), denn die Zuordnung nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfolgt zuallererst thematisch nach dem Inhalt der Leistung, nicht nach der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit (s. Art. 3 Abs.1 (Buchstabe h: "Leistungen bei Arbeitslosigkeit"), Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 und Anhang X; VO (EG) 988/2009). Die Frage der Beitrags(un)abhängigkeit ist, wie auch Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 zeigt, keine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs, sondern – die Anwendbarkeit vorausgesetzt – nur der Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die Leistung auch in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden kann (s Art. 7 VO (EG) 883/2004; s auch SG Berlin Urt v 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 -).
Bei Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 folgt der Anspruch unmittelbar aus Art 4. Dessen Voraussetzungen sind erfüllt. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit Eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nur zulässig, wenn die VO sie ausdrücklich zulässt (s dazu auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4 VO Rn 5). In der VO (EG) 883/2004 findet sich keine entsprechende Regelung.
Andere Ausnahmen für eine unmittelbare Diskriminierung im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sind nicht vorgesehen. Deshalb vermag auch die Unterscheidung zwischen vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten (Alt-)Unionsbürgern einerseits und den nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigte (Neu-)Unionsbürgern, die nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben, den Leistungsausschluss für bulgarische Staatsangehörige als (Neu-)Unionsbürger nicht zu rechtfertigen. Nur für eine mittelbare Ungleichbehandlung dürfte überhaupt die Prüfung einer Rechtfertigung durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen in Betracht kommen, sofern diese in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl Dern aa0 Rn5, 8).
Stehen der Antragstellerin danach aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 grundsätzlich die zuerkannten Leistungen nach dem SGB II wie deutschen Staatsangehörigen zu, wird dieser aus dem Gleichbehandlungsgebot erwachsene Anspruch seinerseits nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG (sog Unionsbürgerrichtlinie) eingeschränkt.
Es gilt im Recht der EU nach formellen Kriterien keine Rangordnung zwischen VO und Richtlinie.
Nach inhaltlichen Kriterien mag ein Rangverhältnis zwischen den beiden Rechtsquellen nicht ausgeschlossen sein (ein solches bejahend SG Duisburg Beschl v 24.09.2012 – S 3 AS 3413/12 ER -; aA Frings aaO). Gegen die Einschränkung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch die Unionsbürgerrichtlinie auch ggfs als lex specialis spricht aber, dass Richtlinie und VO (EG) das selbe Datum (29.04.2004) tragen. Bei unterschiedlichen Regelungsinhalten hätte man eine ausdrückliche Bestimmung oder systematische Verknüpfung erwarten dürfen, wenn eine solche Einschränkung tatsächlich gewollt war. Im Übrigen lässt Art 4 VO (EG) 883/2004 Ausnahmen ausdrücklich nur durch die VO selbst zu, nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hingegen sollen sie vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen erfolgen. Selbst wenn man aber im Sinne einer Rangordnung das europäische Sozialrecht als "freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht" (Fuchs Europäisches Sozialrecht (2010) 29)) interpretiert, das dazu bestimmt ist, der Grundfreiheit "Freizügigkeit" zu dienen (so SG Duisburg aaO), betreffen die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot in Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG – soweit hier von Bedeutung – nicht den grundsätzlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004.
Aufgrund der Vielzahl der aufgezeigten, in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen, die der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zuverlässig abschließend beurteilen kann, kommt er im Rahmen der danach entscheidenden Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -) zu der einstweiligen Regelung zugunsten der Antragstellerin. Ohne die beantragten Leistungen drohen ihr existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollte. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand trägt der Senat bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem er die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners inhaltlich und zeitlich begrenzt. Aus diesem Grund hat der Senat der Antragstellerin Leistungen erst ab Beschlussdatum zuerkannt. Dem Antragsgegner soll dadurch die Gelegenheit gegeben werden, den Leistungsumfang dadurch möglichst gering zu halten, dass er die Antragstellerin, die versucht hat, eine Arbeitsstelle zu finden, sogleich beginnend in diesen Bemühungen unterstützt. Die Leistungen sind in Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II auf 6 Monate befristet worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass dem Begehren der Antragstellerin nur bezogen auf die Regelleistung stattgegeben wurde.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 19.12.2012
Zuletzt verändert am: 19.12.2012