Der Bescheid vom 07.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2014 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zur Hälfte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Klägers zur Rückzahlung von versehentlich ausgezahlten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Kläger, seine Ehefrau und seine zwei Kinder sind bulgarische Staatsangehörige. Am 07.12.2012 stellten sie erstmals beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 19.03.2013 ab. Der Kläger und seine Familie seien vom Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr.2 SGB II erfasst. Gegen diesen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2013 erhoben der Kläger und seine Familie Klage (Az. SG Dortmund – S 35 AS 2804/13). Am 08.04.2013 stellten sie einen Antrag auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Ziel einer vorläufigen Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen (SG Dortmund, Az. S 35 AS 1607/13 ER).
Mit Beschluss vom 24.05.2013 gab die erkennende Kammer dem Beklagten auf, für den Zeitraum vom 08.04.2013 bis zum 30.09.2013 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Gestalt der Regelleistung zu gewähren. Der Beklagte erließ in der Folge die Umsetzungsbescheide vom 05.06.2013 und 01.07.2013 (jeweils als vorläufige Bescheide gefasst) und vom 11.09.2013 (als Vorschussgewährung ausgestaltet), mit denen sie der klägerischen Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 08.04.2013 bis zum 30.09.2013 gewährte. Für den Zeitraum vom 01.05.2013 bis zum 30.09.2013 belief sich der monatliche Auszahlungsbetrag jeweils auf EUR 1138,-. Am 22.08.2013 stellten der Kläger und seine Familie einen Neuantrag auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum ab dem 01.10.2013. Mit Schreiben vom 16.09.2013 erinnerte ihre Bevollmächtigte den Beklagten an die Bearbeitung dieses Antrags. Sofern keine kurzfristige Antwort erfolge, werde sie gegebenenfalls einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Eine Antwort auf dieses Schreiben oder der Erlass eines Bescheides erfolgten nicht. Am 30.09.2013 überwies der Beklagte – wie in den Vormonaten – einen Betrag von EUR 1138,- auf das Konto des Klägers. Mit Bescheid vom 16.10.2013 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag "vom 01.10.2013" ab. Mit Schreiben ebenfalls vom 16.10.2013 hörte der Beklagte den Kläger im Hinblick auf eine Rückzahlung des für den Monat Oktober 2013 ausgezahlten Betrages an. Der Kläger erwiderte hierauf mit Schreiben vom 29.10.2013, dass er davon ausgegangen sei, dass es sich bei der Zahlung um weiterbewilligte Leistungen gehandelt habe. Mit Bescheid vom 07.11.2013 setzte der Beklagte eine Erstattung gegen den Kläger in Höhe von EUR 1138,- fest. Er stützte die Erstattung auf § 50 Abs.2 SGB X. Die Fehlerhaftigkeit der Überweisung sei für den Kläger erkennbar gewesen. Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid am 13.11.2013 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.04.2014 zurückwies. Am 12.05.2014 haben zunächst der Kläger und seine gesamte Familie Klage gegen den Bescheid vom 07.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2014 erhoben. Sie wurden vom Gericht als Kläger zu 1.) bis 4.) geführt. Auf Hinweis des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vom 21.09.2016 haben die Ehefrau und die Kinder des Klägers die Klage zurückgenommen. Der Kläger trägt im gerichtlichen Verfahren ergänzend vor, dass der überwiesene Betrag zum Zeitpunkt des Zugangs des Ablehnungsbescheides und der Anhörung vom 16.10.2013 – jeweils am 21.10.2013 – schon verbraucht gewesen sei. Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 07.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 10.04.2014 aufzuheben. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beteiligten wiederholen im Übrigen ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 07.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2014 war aufzuheben, weil er rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat. Die Rechtswidrigkeit der vom Beklagten verfügten Erstattung folgt bereits daraus, dass der Beklagte von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist und kein Ermessen ausgeübt hat, obwohl eine solche Ermessensausübung geboten gewesen wäre (zur Notwendigkeit der Ermessensausübung und zur Aufhebbarkeit des Bescheides, soweit diese fehlt:BSG, Urteil vom 16. Januar 1986 – 4b/9a RV 9/85 –, SozR 1300 § 44 Nr 22 ; juris (Rn.22); Merten in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch – SGB X.-Verwaltungsverfahren, Schutz der Sozialdaten, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten, Stand der Ergänzungslieferung 2/2013 zu § 45 SGB X, Rn.108). Gemäß der vom Beklagten herangezogenen und aufgrund der bescheidlosen Überweisung von Leistungen grundsätzlich einschlägigen Ermächtigungsgrundlage des § 50 Abs.2 SGB X sind Leistungen, die ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten. Die §§ 45 und 48 gelten entsprechend. Der Sinn dieser in § 50 Abs.2 Satz 2 SGB X entsprechenden Geltung der §§ 45, 48 SGB X besteht darin, die verfassungsrechtlich erforderliche Berücksichtigung von Vertrauensschutz durch eine vergleichbare Prüfung wie bei der Aufhebung von Verwaltungsakten zu gewährleisten (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 50 SGB X, Rn. 95). Dies führt im Ergebnis dazu, dass im Rahmen von § 50 Abs.2 SGB X zu prüfen ist, ob bei einem fiktiven, von Anfang an rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt eine Rücknahme möglich gewesen wäre (Vgl. BSG v. 12.09.1984 – 4 RJ 79/83 – juris Rn. 21 – BSGE 57, 138; BSG v. 24.01.1995 – 8 RKn 11/93 – juris Rn. 18 – BSGE 75, 291 = SozR 3-1300 § 50 Nr. 17; Freischmidt in: Hauck/Noftz, SGB X, § 50 Rn. 15, Waschull in: Diering/Timme/Waschull, SGB X, § 50 Rn. 38). Sofern bei der Rücknahme eines "fiktiven" Verwaltungsakts ein Tatbestand gegeben wäre, der die Behörde von der Notwendigkeit einer Ermessensausübung entbunden hätte, behielte dies auch für eine Erstattung gemäß § 50 Abs.2 SGB X Geltung (BSG, Urteil vom 22. August 2012 – B 14 AS 165/11 R –, SozR 4-1300 § 50 Nr 3, SozR 4-4200 § 40 Nr 4, SozR 4-4300 § 330 Nr 7, Rn. 28). Im vorliegenden Fall wäre der Beklagte bei einer "Parallelbetrachtung" der Norm des § 45 SGB X aber nicht über die Normen der §§ 40 Abs.1 Nr.1 SGB II und 330 Abs.3 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuchs (SGB III) von der Ermessensausübung entbunden. Es läge keiner der einen Vertrauensschutz des Klägers ausschließenden Tatbestände des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X vor. In Betracht käme hier allein § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 SGB X. Danach kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Eine solche grobe Fahrlässigkeit ist zum Beispiel dann zu bejahen, wenn sich die Rechtswidrigkeit ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergibt oder anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen auffallen musste, dass der Bescheid fehlerhaft ist (vgl.nur Merten in Hauck/ Noftz, a.a.O. , zu § 45 SGB X, Rn.72). Maßgebend für das Kennen oder Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsakts (Merten in Hauck/ Noftz, a.a.O. , zu § 45 SGB X, Rn.77).
Bei einer Übertragung dieser Maßgaben auf die vorliegende – "bescheidlose" -Konstellation ist zu prüfen, ob dem Kläger zum Zeitpunkt des Eingangs der Zahlung des Beklagten über EUR 1138,- ohne Weiteres auffallen musste, dass der Beklagte ihm diesen Betrag nur versehentlich überwiesen hat. Dies war nicht der Fall: Der Kläger und seine Familie befanden sich in einem laufenden Antragsverfahren. Weder aus den Akten noch aus dem Vortrag des Beklagten ist erkennbar, dass der Beklagte vor dem 16.10.2013 zu erkennen gegeben hat, dass der Antrag in jedem Fall abgelehnt würde. Der Auszahlung vom 30.09.2013 war eine Erinnerung der Bevollmächtigten an die Bescheidung und Leistungsgewährung vorausgegangen, auf die der Beklagte vor der Zahlung nicht reagiert hat. Hinzu kam, dass die vorausgegangene Leistungsgewährung des Beklagten auf einer gerichtlichen Entscheidung beruhte und dass sich an den die Begründung dieser Entscheidung tragenden Umständen nichts geändert hatte. Es wäre damit naheliegend gewesen, dass der Beklagte zur Vermeidung eines gerichtlichen Verfahrens auch ohne einen weiteren Eilbeschluss eine Fortgewährung der Leistungen verfügt hätte. Nach der Erfahrung der erkennenden Kammer war diese Vorgehensweise in vergleichbaren Fallgestaltungen bei anderen Trägern von Leistungen nach dem SGB II üblich und wurde selbst beim Beklagten zumindest in Einzelfällen praktiziert. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. In diesem Zusammenhang war zu berücksichtigen, dass die Klage nur für den als Adressat des Erstattungsbescheides allein beschwerten Kläger Erfolg hatte, der Beklagte durch die Einbeziehung der für die Familienangehörigen des Klägers gewährten Leistungen in die Erstattungssumme eine aber auch eine gewisse Veranlassung für deren Klageerhebung gegeben hat.
Erstellt am: 21.11.2016
Zuletzt verändert am: 21.11.2016