Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.08.2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat den Antragsgegner zu Recht verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit vom 06.07.2012 bis zum 31.12.2012 den Regelbedarf nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05-, NVwZ 2005, S. 927).
Die 1992 geborene Antragstellerin ist die Mutter des 2011 geborenen Antragstellers. Beide sind italienische Staatsangehörige.
Die Antragsteller haben gegenüber dem Antragsgegner Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Diesbezüglich ist sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II sind glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Sie ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II, hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Sie ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von den Leistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt.
Zwar hält sich die Antragstellerin alleine zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland auf. Ein anderer, Unionsbürgern gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Freizügigkeit und somit zum Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat berechtigender Aufenthaltszweck, welcher nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum die Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausschließt (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 – L 10 AS 617/09; LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2008 – L 20 B 76/07 SO ER; Spellbrink und Blüggel in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7 Rn. 16 und 24 und § 8 Rn. 46c), ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Dieser Leistungsausschluss war nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) jedenfalls nach der bis zum 18.12.2011 geltende Rechtslage für EU-Bürger, deren Heimatland das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) unterzeichnet hat, wegen des in Art. 1 EFA normierten Gleichbehandlungsgebotes nicht anzuwenden (BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R).
Jedoch hat die Bundesrepublik Deutschland am 19.12.2011 entsprechend Art. 16 b) Satz 2 EFA einen Vorbehalt zum EFA erklärt, wonach Leistungen nach dem SGB II von der Verpflichtung des EFA ausgenommen sind. Umstritten ist, ob dieser Vorbehalt wirksam ist (verneinend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012 -L 19 AS 794/12 B ER; SG Berlin, Beschluss vom 25.04.2012 – S 55 AS 9238/12; bejahend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05.03.2012 – L 29 AS 414/12 B ER vom 06.08.2012 – L 5 AS 1749/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.07.2012; L 9 AS 563/12 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 -L 3 AS 250/12 B ER; SG Berlin Beschluss vom 14.05.2012 – S 124 AS 7164/12 ER; siehe auch LSG NRW Beschluss vom 22.05.2012 – L 6 AS 412/12 B ER; Greiser, in jurisPK- SGB XII, Vorbemerkungen zum SGB XII, Rd. 53f; Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 23 Rn. 36.3; Stellungnahme des Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Ausschussdrucksache 17(11) 881; Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins von Juni 2012 zum Vorbehalt der Bundesregierung gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende). Insbesondere ist es für die Beurteilung der Wirksamkeit entscheidend, ob es sich beim SGB II überhaupt um ein "neues" Gesetz im Sinne von Art. 16b) Satz 2 EFA handelt, für das im Dezember 2011 noch ein Vorbehalt erklärt werden konnte. Für die Entscheidung dieser Rechtsfrage kommt es darauf an, wie der Wortlaut des Art. 16 lit. b) EFA in der verbindlichen englischsprachigen Fassung – "any new law or regulation" – auszulegen ist. Nach dieser Vorschrift müssen die Vertragsstaaten dem Generalsekretär des Europarates gleichzeitig mit der Mittelung neuer Rechtsvorschriften ("any new law or regulation") ihre Vorbehalte in Bezug auf die Anwendung dieser Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörige der anderen Vertragsstaaten notifizieren können. Ob von dem Begriff "any new law or regulation" neben neu in Kraft getretenen Gesetzen zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auch Gesetzesnovellen oder neue Rechtsprechung zu einschlägigen Gesetzen erfasst werden, ist nicht geklärt. Zudem lassen sowohl die englische Fassung mit der Formulierung "any new law or regulation not already included in Annex I " als auch die gleichfalls verbindliche französische Version "tout règlement non encore couvert par l annexe I" Raum für eine Auslegung.
Für den Fall, dass der Vorbehalt wirksam ist, ist weiter umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen europäisches Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2002 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verstößt. Vertreten wird, dass aufgrund des in der Verordnung normierten Gleichbehandlungsgebotes alle in den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallende Unionsbürger umfassend zum Bezug insbesondere auch der Leistungen nach dem SGB II berechtigt werden (so SG Berlin, Beschluss vom 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, SG Dresden, Beschluss vom 05.08.2011 – S 36 AS 3461/11 ER, Schreiber NZS 2012, Seite 647 ff., a.A. LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 -L 19 AS 1393/12 B ER, SG Berlin, Beschluss vom 14.05.2012 – S 124 AS 7164/12 ER sowie Beschluss vom 11.06.2012 – S 205 AS 11266/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 – L 3 AS 1477/11 – Revision anhängig beim BSG – B 4 AS 54/12 R -, LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012 – L 20 AS 2347/11 B ER).
Zudem stellt sich in dem hier zu entscheidenden Sachverhalt die Frage, ob sich die Antragstellerin bei summarischer Prüfung auf einen Verstoß gegen Art. 45 AEUV berufen kann. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 04.06.2009 (vgl. EuGH, C 22/08, C 23/08) klargestellt, dass sich EU-Bürger, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auf einen Verstoß gegen Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) berufen können, wenn der Mitgliedsstaat eine finanzielle Leistung verweigert, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll und der Unionsbürger in dem Mitgliedsstaat bereits eine Verbindung zum Arbeitsmarkt geschaffen hat. Dem Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetz/EU unterfallende Unionsbürger können sich nach der Rechtsprechung des EuGH (a.a.O. Rdn. 38 m.w.N.) nämlich dann auf den in Art. 39 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV) normierten Gleichbehandlungsgrundsatz berufen, wenn sie eine "tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates" hergestellt haben und diese feststellbar ist. Dabei hat der EuGH es ausdrücklich den zuständigen nationalen Behörden und ggf. den innerstaatlichen Gerichten überlassen, das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen (vgl. EuGH, a.a.O. Rdn. 41). Dabei kann sich eine solche Verbindung bereits aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat (EuGH, C-138/02, Rdn. 70). Eine solche tatsächliche Verbindung der Antragstellerin könnte im vorliegenden Fall bereits deshalb gegeben sein, weil die Antragstellerin zwischenzeitlich eine Beschäftigung aufgenommen hatte, für die sie ein Arbeitsentgelt in Höhe von 50,00 EUR im April, 250,00 EUR im Mai und 45,00 EUR im Juni 2012 erhalten hat. Somit hat sich die Beschäftigungssuche sogar vorübergehend in einer Beschäftigungsaufnahme manifestiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH bleibt jedoch offen, ob es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um Leistungen handelt, die den erleichternden Zugang zum Arbeitsmarkt bezwecken sollen (vgl. EuGH, C-22/08, Rdn. 42, 43 ff).
Eine abschließende Klärung der Rechtsfrage ist wegen der dargelegten Komplexität der Rechtslage und im Hinblick darauf, dass dem EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV die Befugnis vorbehalten ist, das europäische Primärrecht auszulegen und über die Vereinbarkeit des europäischen Sekundärrechts mit dem Primärrecht zu entscheiden (Greiser, a.a.O., Rdn. 39) nicht möglich. Weiter schließen die besonderen Anforderungen eines Eilverfahrens wegen der Dauer von Vorlageverfahren nach Art. 267 AUEV (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rd. 13, 3) eine Vorlage an den EuGH in einstweiligen Rechtsschutzverfahren aus (LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER), LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B ER; LSG Bayern, Beschluss vom 14.08.2012 – L 16 AS 568/12 B ER, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER).
In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundessverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05). Im Rahmen der Folgenabwägung ist auch die Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragsteller gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners abzuwägen, die vorläufig erbrachten Leistungen im Fall des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten. Bei ungeklärten Erfolgsaussichten in der Hauptsache geht die Interessenabwägung vorliegend zugunsten der Antragsteller aus, da es sich für sie um existenzsichernde Leistungen handelt und das auch ausländischen Staatsangehörigen zustehende Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen ist. Insbesondere sind die Antragsteller zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen und der bestehenden Nähe zum Arbeitsmarkt auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu verweisen (vgl. dazu LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der glaubhaft gemachten Mittellosigkeit der Antragstellerin.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 14.01.2013
Zuletzt verändert am: 14.01.2013