Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt ¼ der außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger in den Monaten April 2018 und Juli 2018 vom Bezug von Grundsicherungsleistungen nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ausgeschlossen ist.
Seit dem 29.12.2015 befand sich der am 00.00.0000 geborene Kläger im Maßregelvollzug nach § 64 StGB in der in Trägerschaft des Beigeladenen zu 2) stehenden LVR-Klinik C. Zuvor war der Kläger in L gemeldet. Der Kläger nahm in der Klinik an einer multimodalen, an den Leitlinien für die Behandlung nach § 64 StGB des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug NRW (https://xxx.html) orientierte Therapie teil. Am 17.08.2017 erhielt der Kläger die höchste Lockerungsstufe des achtstufigen Lockerungskonzepts, die u.a. die Möglichkeit einer Langzeitbeurlaubung in eine eigene Wohnung vorsieht.
Mit Mietvertrag vom 02.03.2018 mietete der Kläger eine im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gelegene, 56 m² große Wohnung mit zentraler Warmwasserbereitung zum 01.03.2018 an. Die Grundmiete betrug 300,00 EUR monatlich zuzüglich einer Nebenkostenvorauszahlung, einschließlich Heizung, von 130,00 EUR monatlich. Ab dem 05.03.2018 wurde der Kläger von der Klinik in die eigene Wohnung beurlaubt. Am 20.04.2018 schlossen der Kläger, die Abteilung Forensik III der LVR-Klinik C und die Forensische Überleitungs- und Nachsorgeambulanz der LVR-Klinik C eine individuelle Betreuungsvereinbarung betreffend Ausgangsregelung, Besuchsregelung/Wohnung, ärztliche Behandlung, Arzneieinnahme, Konsum von Alkohol und Drogen, Anschaffungen, Gesprächstermine, Arbeitssituation, finanzielle Situation und Informationspflicht während der Dauerbeurlaubung. Wegen der Einzelheiten wird auf die zur Gerichtsakte gereichte Kopie Bezug genommen.
Der Kläger war bis Ende 2018 bei zwei Arbeitgebern abhängig beschäftigt. Im April 2018 wurden dem Kläger Entgelte aus Erwerbstätigkeiten im März 2018 i.H.v. 1.026,47 EUR und i.H.v. 29,76 EUR auf seinem Girokonto gutgeschrieben.
In der Zeit vom 25.05.2018 bis zum 22.06.2018 war die Dauerbeurlaubung unterbrochen. Der Kläger wurde im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB in die LVR-Klinik C stationär aufgenommen. Der Kläger bezog im Mai 2018 und Juni 2018 Taschengeld i.H.v. 112,32 EUR nach § 14 Abs. 4 MRVG NRW (Gutschriften am 31.05.2018 und am 30.06.2018).
Am 09.05.2017 beantragte der Kläger die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 05.09.2017 unter Berufung auf § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ab. Der Kläger sei seit dem 29.12.2015 in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung untergebracht.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2017 als unbegründet zurück. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II greife für die gesamte Dauer des Maßregelvollzuges ein. Dies gelte auch bei einer Langzeitbeurlaubung und Erlaubnis zur Anmietung einer eigenen Wohnung als letzte Stufe, da die Beurlaubung der letzte Schritt der angeordneten Therapie sei und damit noch Bestandteil der angeordneten Therapie. Der Umstand, dass der Kläger plane die Gesamtverantwortlichkeit für sich selber zukünftig zu übernehmen, führe zu keinem anderen Ergebnis.
Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 26.07.2018 auf dessen Antrag vom 19.07.2018 vorläufig Grundsicherungsleistungen für August 2018. Auf den Folgeantrag des Klägers vom 14.08.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 04.09.2018 vorläufig Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.09.2018 bis 28.02.2019.
Seit dem 11.12.2019 ist der Maßregelvollzug beendet.
Am 10.11.2017 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Düsseldorf erhoben. Mit Beschluss vom 03.01.2018 hat das Sozialgericht den Rechtstreit an das Sozialgericht Duisburg verwiesen.
Der Kläger hat unter Berufung auf das Urteil des Landesozialgerichts Hamburg vom 24.01.2017 – L4 AS 66/16 und den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 28.08.2017 – B 14 AS 91/17 B die Auffassung vertreten, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II greife nicht ein; ihm stünden Grundsicherungsleistungen zu.
Der Klägerbevollmächtigte hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 05.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ab Antragstellung zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat seine bereits mit dem Widerspruchsbescheid vertretene Auffassung verfochten.
Mit Urteil vom 16.07.2018 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2017 verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Es hat ausgeführt, der Kläger erfülle die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II und sei insbesondere nicht nach § 7 Abs. 4 S. 1, 2 SGB II hiervon ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 05.06.2014 – B4 AS 32/13 R, Beschluss vom 28.08.2017 – B 14 AS 91/17 B) sei zur Feststellung dieses Leistungsausschlusses zu prüfen, ob es sich um eine Einrichtung im Sinne der Vorschrift handele und dem Leistungsempfänger im Rahmen seiner Unterbringung in dieser Einrichtung Leistungen stationär erbracht würden. Erst wenn beide Voraussetzungen zu bejahen seien, die hilfebedürftige Personen also in dem von der Einrichtung getragenen Gebäude lebe, komme es für den Unterbringungsbegriff des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II darauf an, ob der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernehme. Nach diesen Maßgaben fehle es bereits an der zweiten Voraussetzung. Denn der Kläger habe aufgrund der Langzeitbeurlaubung nicht mehr an der Leistungserbringung in der Einrichtung teil gehabt. Unter Zugrundelegung der Rechtsansicht des Beklagten könne der Zweck der Langzeitbeurlaubung, der Wiedererwerb der Fähigkeit zu selbstständigen Leben in einer eigenen Wohnung nicht erreicht werden, weil es an den Mitteln zum Erhalt der Wohnung fehle.
Gegen das ihm am 16.08.2018 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 03.09.2018.
Er ist der Auffassung, die Frage, ob eine Einrichtung die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung eines Leistungsberechtigten habe, also der Leistungsberechtigte in einer Einrichtung untergebracht sei, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur für einen Aufenthalt in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II relevant. Für die Anwendung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II sei unerheblich, ob ein Leistungsberechtigter in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich geordneter Freiheitsentziehung untergebracht i.S.v. § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II sei, entscheidend sei allein der tatsächliche Aufenthalt in einer solchen Einrichtung. Die Beurlaubung in eine eigene Wohnung sei Bestandteil und höchste Stufe der Vollzugslockerungen nach dem Maßregelvollzugsgesetz, das Probewohnen der letzte Therapieschritt des Maßregelvollzuges und dessen Bestandteil. Deshalb liege auch bei Beurlaubung und Probewohnen noch ein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung vor, solange der Träger des Maßregelvollzugs die Gesamtverantwortung trage.
Mit Beschluss vom 28.02.2017 – B 14 AS 91/17 B habe das BSG nicht entschieden, ob der Leistungsausschluss ebenso lange andauere wie der Maßregelvollzugs selbst, vielmehr habe es die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 23.10.2020 die Klage betreffend die Zeit vom 01.09.2017 bis 31.03.2018 sowie vom 01.05.2018 bis 30.06.2018 zurückgenommen.
Die Vertreterin des Beklagten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16.07.2018 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Monate April 2018 und Juli 2018 begehrt werden.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hält das erstinstanzliche Urteil betreffend die Monate April 2018 und Juli 2018 für zutreffend.
Der Senat hat die Stadt L und den Landschaftsverband Rheinland beigeladen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des Sozialgerichts vom 16.07.2018, mit dem dieses dem Kläger unter Abänderung des angefochtenen Bescheides vom 05.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2017 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zugesprochen hat. Die missverständliche Formulierung "ab Antragstellung" im Tenor des Urteils ist dahingehend auszulegen, dass sich die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Grundsicherungsleistungen auf den Zeitraum ab 01.09.2017 bezieht. Wegen des in zeitlicher Hinsicht unbegrenzt gestellten Antrags und der vollständigen Leistungsablehnung hatte das Sozialgericht über den geltend gemachten Anspruch bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Eine zeitliche Zäsur ist insoweit nach Erlass des Urteils eingetreten, als der Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2018 dem Kläger vorläufig Grundsicherungsleistungen für August 2018 und mit Bescheid vom 04.09.2018 vorläufig Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.09.2018 bis 28.02.2019 bewilligt hat (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 13.07.2017 – B 4 AS 17/16 R und vom 24.05.2017 – B 14 AS 16/16 R). Diese Bescheide sind nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 96 SGG geworden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 23.01.2020 die Klage betreffend die Zeit vom 01.09.2017 bis 31.03.2018 sowie vom 01.05.2018 bis 30.06.2018 zurückgenommen. Damit ist nur noch die Gewährung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger für die Monate April 2018 und Juli 2018 zwischen den Beteiligten streitig. Entsprechend hat der Beklagte sein Berufungsbegehren zeitlich begrenzt.
Das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend den Beklagten zur Gewährung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger für die Monate April 2018 und Juli 2018 verurteilt.
Die vom Kläger erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 2 SGG i.V.m. § 56 SGG) ist zulässig und begründet.
In beiden streitigen Zeiträumen ist der Kläger beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 S.1 SGG. Der angefochtene Bescheid vom 05.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2017 ist betreffend den Leistungsanspruch für die Monate April 2018 und Juli 2018 rechtswidrig. Der Kläger hat in den beiden Monaten die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erfüllt (1). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II greift zu Ungunsten des Klägers nicht ein (2).
1. Der Kläger hat in den beiden streitigen Zeiträumen die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1, 2, 3 und 4 SGB II erfüllt. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht gehabt (Nr. 1), ist erwerbsfähig gewesen (Nr. 2) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt (Nr. 4).
Er ist auch hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II gewesen. Sein Bedarf hat sich im April 2018 auf insgesamt 846,00 EUR (Regelbedarf 416,00 EUR + 430,00 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung) belaufen. Dieser Bedarf ist nur teilweise durch das anrechenbare Erwerbseinkommen i.H.v. 756,23 EUR nach §§ 11 Abs. 1 S. 1, 11b SGB II gedeckt gewesen. Von dem im April 2018 zugeflossenen Erwerbseinkommen i.H.v. insgesamt 1056,23 EUR (1.026,47 EUR + 29,76 EUR) ist ein Freibetrag i.H.v. 100,00 EUR nach § 11b Abs. 2 S.1 SGB II und ein Erwerbstätigenfreibetrag i.H.v. 200,00 EUR nach § 11b Abs. 3 SGB II abzusetzen. Damit beläuft sich das anrechenbare Einkommen auf 756,23 EUR. Über nach § 12 SGB II zu berücksichtigendes Vermögen hat der Kläger nicht verfügt.
Im Juli 2018 hat der Kläger seinen Bedarf i.H.v. 846,00 EUR nicht decken können, das er weder über anrechenbares Einkommen noch über zu berücksichtigendes Vermögen verfügt hat.
2. In beiden streitigen Zeiträumen ist der Kläger nicht von Grundsicherungsleistungen nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen gewesen. Danach erhält Leistungen nach dem SGB II unter anderem nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist (Satz 1). Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (Satz 2). Eine Rückausnahme ist möglich, wenn jemand in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht ist und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist (Satz 3 Nr. 2).
Der Kläger hat sich seit dem 29.12.2015 zunächst in einer Einrichtung zum Vollzug einer richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, einem Maßregelvollzug nach § 64 StGB (vgl. hierzu vgl. BT-Drs. 16/1410, S. 20 zu Nr. 7 Buchst. C), aufgehalten. Denn bei der LVR- Klinik C handelt es sich um eine Einrichtung zum Vollzug eines richterlich angeordneten Maßregelvollzugs nach §§ 63, 64 StGB und damit zugleich um eine untere Vollzugsbehörde (vgl. Baur in: Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl. 2018, C 77).
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt im Rahmen des Maßregelvollzugs (§ 136 StVollzG) richtet sich nach Landesrecht, soweit Bundesgesetze nichts anderes bestimmen (§ 138 Abs. 1 S. 1 StVollzG). Die Maßregeln der Besserung und Sicherung werden in Nordrhein-Westfalen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt grundsätzlich in speziell hierfür vorgesehenen Einrichtungen (§§ 2, 15 MRVG NRW i.d.F. des Gesetzes vom 07.04.2017, GV. NRW. S. 511) vollzogen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Wege der Organleihe die Durchführung des Maßregelvollzuges auf die Landschaftsverbände als staatliche Verwaltungsbehörde übertragen (§ 29 MRVG NRW), die den Maßregelvollzug in ihren Einrichtungen – psychiatrischen Krankenhäusern oder Entziehungsanstalt – durchführen. Dabei trifft die therapeutische Leitung der jeweiligen Einrichtung die Verantwortung für Maßnahmen zum Vollzug der Maßregel, wobei das Gesetz davon ausgeht, dass die Betroffenen hierbei trotz der vorgesehenen möglichst weitgehenden Annäherung an allgemeine Lebens- und Arbeitsverhältnisse (§ 1 MRVG NRW) in erheblichem Maß besonderen Einschränkungen ihrer Freiheit unterliegen (§§ 5, 18 Abs. 1 MRVG). Der Natur nach handelt es sich grundsätzlich um eine freiheitsentziehende und geschlossene Unterbringungsform (§ 18 Abs. 1 MRVG NRW), in welcher die Maßregelvollzugseinrichtung mit einer Mehrzahl zusätzlich freiheitsbeschränkender Befugnisse ausgestattet ist (§§ 5, 20, 21, 22 MRVG NRW). Die Gesamtheit der Vorschriften einschließlich der weiteren detaillierten Regelungen über die vorgesehenen therapeutischen Unterstützungen und Behandlungskonzepte (§ 16 MRVG NRW) belegen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers der Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dadurch geprägt ist, dass die Regelung des jeweiligen Aufenthaltes des Untergebrachten sowie dessen Tagesablauf, mithin nahezu die gesamte äußere Struktur des täglichen Lebens des Untergebrachten der Gestaltung und Kontrolle der Maßregelvollzugseinrichtung unterliegen (vgl. hierzu OLG Hamm, Beschluss vom 21.07.2016 – III-1 Vollz (Ws) 213/16 m.w.N.). Lockerungen des Maßregelvollzuges, welche mit einem Aufenthalt außerhalb der Vollzugseinrichtung verbunden sind, sind in § 18 Abs. 2 Nrn. 1 – 3 MRVG NRW geregelt, wonach Lockerungen durch Ausführungen unter Aufsicht, Ausgang, Urlaub sowie Außenbeschäftigung mit und ohne Aufsicht gewährt werden können.
In der Zeit vom 05.03.2018 bis zum 21.05.2018 sowie vom 27.06.2018 bis 11.12.2019 ist dem Kläger eine Vollzugslockerung in Form einer unbefristeten Beurlaubung mit einem Probewohnen in einer eigenen Wohnung vom LVR-Krankenhaus C als untere Vollstreckungsbehörde gewährt worden. Bei dieser Form der Beurlaubung handelt es sich um eine Vollzugslockerung (§ 18 Abs. 2 Nr. 3 MRVG NRW), die noch nicht zur Aufhebung des Maßregelvollzugsverhältnisses führt. Die Vollstreckung der Maßregel wird durch die Gewährung der Möglichkeit des Probewohnens weder aufgehoben noch unterbrochen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 21.07.2016 – III-1 Vollz (Ws) 213/16; Pollähne in: Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl. 2018, F 29). Insoweit hat das Maßregelvollzugsverhältnis als besonderes Gewaltverhältnis in den beiden streitigen Zeiträumen fortbestanden.
Nach Auffassung des Senats unterfällt der Aufenthalt eines Leistungsberechtigten in einer eigenen Wohnung im Rahmen einer Dauerbeurlaubung aus dem Maßregelvollzug nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II (so auch LSG NRW, Beschlüsse vom 25.02.2019 – L 21 AS 2118/18 B ER und vom 02.03.2017 – L 7 AS 57/17 B ER ; LSG Bayern, Beschluss vom 21.01.2019 – L 7 AS 24/19 B ER und Urteil vom 17.9.2014 – L 16 AS 813/13; LSG Hamburg, Urteil vom 24.01.2017 – L 4 AS 66/16; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24.03.2015 – L 7 AS 1504/13; a.A. SG Landshut, Urteil vom 27.05.2019 – S 11 AS 504/17). Diese Form der Beurlaubung beendet mit deren Beginn die Unterbringung im maßregelvollzugsrechtlichen Sinne und damit einen Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Denn für die Annahme eines Aufenthaltes in einer Einrichtung zum Vollzug einer richterlich angeordneter Freiheitsentziehung genügt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht allein das Bestehen eines Maßregelvollzugsverhältnisses bei einer Abwesenheit des Betroffenen als Folge seiner Unterbringung außerhalb der Einrichtung.
Das Gesetz ordnet die Gleichstellung des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung mit dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nach § 13 Abs. 2 SGB XII sowohl beim Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II) als auch bei der Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers (§§ 98 Abs. 4, 106 SGB XII) und bei der Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern (§ 109 SGB XII) an (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2017 – B 8 SO 16/16 R).
§ 98 Abs. 4 SGB XII bestimmt, dass für Hilfen an Personen, die sich in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten oder aufgehalten haben, die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 106 und 109 entsprechend gelten. Durch die Bezugnahme auf die Vorschrift des § 106 SGB XII hat der Gesetzgeber den in § 98 Abs. 4 SGB XII verwandten Begriff "Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" dahingehend präzisiert, dass er nicht nur die tatsächliche Anwesenheit in einer solchen Einrichtung erfasst, sondern das Fortbestehen des Einrichtungsaufenthaltes bei einer Unterbringung außerhalb der Einrichtung bzw. bei Beurlaubung unter bestimmten Voraussetzungen (§106 Abs. 2 SGB XII) fingiert. Die Regelungen der §§ 98 Abs. 4, 106 Abs. 2 SGB XII entsprechen inhaltlich den Vorgängervorschriften der §§ 97 Abs. 4 S. 2, 103 Abs. 2 BSHG, denen ein funktionaler Begriff des Aufenthalts in einer Einrichtung zugrunde gelegen hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts konnte ein Aufenthalt, der tatsächlich außerhalb einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung besteht, über die funktionale Zuordnung zu dieser Einrichtung als Aufenthalt in der Einrichtung verstanden werden, jedoch waren nicht alle Aufenthalte außerhalb einer Einrichtung erfasst, die während des Vollzugs einer Haftstrafe nach den Regeln des Strafvollzugs diesem zuzurechnen sind (BVerwG, Urteil vom 06.04.1995 – 5 C 12/93).
Eine Unterbringung außerhalb der Einrichtung gilt nur dann nach § 106 Abs. 2 SGB XII als fortdauernder Einrichtungsaufenthalt, wenn auch weiterhin eine Betreuung durch die Einrichtung gewährleistet und tatsächlich ausgeübt wird. Die Einrichtung muss den Leistungsberechtigten weiterhin tatsächlich beobachten, beaufsichtigen und überwachen sowie die Möglichkeit haben, kurzfristig auf den Leistungsberechtigten zugreifen zu können und den Inhalt wie auch den Fortgang der Maßnahme beeinflussen können. Es werden zwar Wohnmöglichkeiten erfasst, die nicht unmittelbar zur Rechts- und Organisationssphäre des Einrichtungsträgers gehören. Für die Anwendung des § 106 Abs. 2 1. Alt SGB XII ist aber nicht jede Art der Betreuung durch die bisherige Einrichtung ausreichend; vielmehr ist nach Sinn und Zweck der Regelung (Schutz des Ortes, der stationäre Leistungen bzw. gleichstehende Leistungen anbietet) eine ständige Überwachung durch die Einrichtung (ggf. unter Einschaltung dritter Stellen) erforderlich, wobei der Einrichtung ein bestimmender Einfluss bleiben muss. Gelegentliche Maßnahmen rechtfertigen die Gleichstellung mit der stationären Einrichtung nicht; die Unterbringung außerhalb der Einrichtung muss im Ergebnis qualitativ einer stationären Leistungserbringung in der Einrichtung entsprechen (BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 8 SO 11/12 R; Böttiger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 106 SGB XII, Rn. 137; Klinge in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2012, § 106 SGB XII Rn. 29; Schellhorn in: Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 106 Rn. 21 mit Hinweisen auf die Entscheidungen der Zentralen Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten). Bei Suchtkranken genügt eine nachgehende Fürsorge nicht (vgl. Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 8. Aufl. 2018, § 106. Rn. 24).
Voraussetzung für Beurlaubung i.S.v. § 106 Abs. 2 SGB XI ist, dass die Einrichtung für einen von vornherein befristeten Zeitraum verlassen wird und die spätere Rückkehr beabsichtigt ist. Vorläufige oder bedingte Entlassungen, "Urlaub auf Probe" etc. sind keine Beurlaubungen, können ggf. aber die erste Alternative des Abs. 2 erfüllen (Klinge a.a.O., Rn. 28; Böttiger, a.a.O., § 106 SGB XII, Rn. 140; Wahrendorf, a.a.O., Rn. 25; Schellhorn, a.a.O., § 106 Rn. 22).
Die vom Gesetzgeber vorgenommene Präzisierung des Begriffs des "Aufenthalts zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" im SGB XII ist bei der Auslegung der Vorschrift des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II zu berücksichtigen. Denn beide Vorschriften – § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II und § 98 Abs. 4 SGB XII – bezwecken, die Leistungsberechtigen aufgrund objektiver und eindeutiger Kriterien entweder dem Leistungsspektrum des SGB II oder des SGB XII zuzuweisen bzw. die Zuständigkeit der Sozialhilfeträger festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2017 – B 8 SO 16/16 R). Bei dem SGB II als auch bei dem SGB XII handelt es sich hinsichtlich ihrer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ungeachtet der unterschiedlichen Entstehungshintergründe, der typisierten Unterschiedlichkeit der Anspruchsberechtigten sowie der konzeptionellen Unterschiede beider Gesetze um der Existenzsicherung dienende, auf Bedarfsdeckung angelegte und bedürftigkeitsabhängige Leistungssysteme, die mit ihren voneinander getrennten leistungsberechtigten Personenkreisen zwar an verschiedene Lebenslagen anknüpfen (§ 5 Abs. 2 SGB II, § 21 SGB XII), aber jeweils der Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG) dienen. Ungeachtet ihrer Unterschiede stehen beide Leistungssysteme hinsichtlich ihrer Existenzsicherungsleistungen nicht in einem Vorrang-Nachrang-Verhältnis, sondern gleichrangig und selbstständig nebeneinander in einem Ausschließlichkeitsverhältnis. Dieses Nebeneinander rechtfertigt es, in vergleichbaren Fallkonstellationen die für diese einschlägigen Regelungen des SGB II und des SGB XII vergleichend in den Blick zu nehmen (BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 14 AS 90/12 R).
Die in § 106 Abs. 2 SGB XII aufgestellte Forderung einer ständige Überwachung durch die Einrichtung bei einer Unterbringung außerhalb der Einrichtung, wobei der Einrichtung ein bestimmender Einfluss bleiben muss, entspricht auch den Anforderungen an eine Unterbringung in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II. Es reicht bei einer Unterbringung i.S.v. § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II nicht aus, dass die Einrichtung (auch) stationäre Leistungen erbringt, ferner genügt nicht bereits ein geringes Maß an Unterbringung im Sinne einer formellen Aufnahme. Von einer Unterbringung i.S.v. § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II ist nur auszugehen, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt (BSG, Urteil vom 02.12.2014 – B 14 AS 35/13 R m.w.N.).
Die dem Kläger gewährte Dauerbeurlaubung in den beiden streitigen Zeiträumen stellt keine Beurlaubung i.S.v. § 106 Abs. 2 SGB XII dar, da diese Beurlaubung unbefristet gewesen ist.
Auch entspricht die mit der Dauerbeurlaubung des Klägers mit Probewohnen in einer eigenen Wohnung, die auf die Freiheit außerhalb des Maßregelvollzugs nach § 67d Abs. 2 StGB vorbereiten soll, verbundene Betreuung durch die LVR-Klinik C hinsichtlich ihres Umfangs und Intensität nicht den Anforderungen an eine Betreuung i.S.v. § 106 Abs. 2 SGB XII.
Denn ein dem Maßregevollzug Unterworfener wird mit dem Beginn des Probewohnens in einer gewährten Dauerbeurlaubung aus der kontrollierenden Aufsicht der Vollzugsanstalt befreit und die für den Vollzug typische Gestaltung und Kontrolle der äußeren Struktur des täglichen Lebens des Untergebrachten durch die Maßregelvollzugseinrichtung entfällt vollständig. Die Vollzugseinrichtung übernimmt in diesem Fall nicht mehr die Verantwortung für die Lebensführung des Untergebrachten (OLG Hamm, Beschluss vom 21.07.2016 – III-1 Vollz (Ws) 213/16). Es handelt sich um eine zeitlich umschriebenen und kontrollierte Freistellung aus dieser Unterbringung (vgl. LG Göttingen, Beschluss vom 23.09.2005 – 52 StVK 96/99 (Vollz); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.10.2005 – 2 Ws 106/05). Die unmittelbare Kontrolle des Untergebrachten durch die Einrichtung wird für einen bestimmten Zeitraum – zum Teil über Wochen und Monate hinweg – vollständig aufgehoben (Pollähne, a.a.O., F. 44). Die Leitlinien für die Behandlung nach § 64 StGB des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen sehen bei einer Dauerbeurlaubung i.S.v. § 18 Abs. 2 Nr. 3 MRVG NRW vor, dass die erforderlichen Behandlungs- und Kontrollmaßnahmen für die Zeit der Langzeitbeurlaubung mit dem Betroffenen vereinbart und detailliert festgelegt werden. Hierzu gehören nach Ziffer 2.5.4 "Behandlungs- und Kontrollmaßnahmen" während einer Beurlaubung u.a. die Festlegung der Art und Frequenz der therapeutischen Gespräche, der Teilnahme an Gruppenangebote, der Frequenz der Kontrollbesuche in der Klinik und am Ort der Beurlaubung, des Drogenscreenings, der Alkoholkontrollen und labortechnische Untersuchungen, der ärztlichen Überwachung einer eventuell erforderlichen medikamentösen Behandlung, von Auflagen, Festlegung der Region oder Orten, in der/denen sich der Betroffene aufhalten darf bzw. die der Betroffene nicht aufsuchen darf, der Informationspflicht des Betroffenen über Besonderheiten (wie Erkrankungen, Unfälle, Konflikte, polizeiliche Kontrollen, Überprüfungen etc.), betreffend Art und Umfang der Beschäftigung sowie der finanziellen Planung (z.B. Unterhalt und Einkommen). Entsprechende Vereinbarungen hat der Kläger mit der LVR-Klinik C in der individuellen Betreuungsvereinbarung vom 21.04.2018 getroffen.
Die forensischen Kliniken üben in Nordrhein-Westfalen als untere Vollzugsbehörde daher bei einem gewährten Probewohnen in einer eigenen Wohnung als Unterfall der Beurlaubung zwar noch eine mittelbare Kontrolle über die Lebensführung aus, jedoch entfällt die Gestaltung und Kontrolle der äußeren Struktur des täglichen Lebens (vgl. hierzu OLG Hamm, Beschluss vom 21.07.2016 – III-1 Vollz (Ws) 213/16). Der Tagesablauf des Klägers ist nicht in wesentlichen Teilen von der LVR-Klinik C vorgegeben gewesen. Die in der Betreuungsvereinbarung getroffenen Bestimmungen über die jederzeitige Erreichbarkeit des Klägers per Handy, die Verpflichtung zur Teilnahme an Gesprächen bei der Forensischen Überleitungs- und Nachsorgeambulanz (FÜNA) alle zwei Wochen, die Einschränkung der Mobilität des Klägers auf einen Radius 100 km um die Stadt L ohne Zustimmung der FÜNA, das Verbot von Alkohol- und Drogenkonsum sowie der Haltung von Haustieren und das Verbot des Abschlusses von Ratenzahlungsverträgen und von Anschaffungen mit einem Wert über 300,00 EUR ohne Zustimmung der FÜNA haben zwar die Handlungsfähigkeit des Klägers eingeschränkt, jedoch seine tägliche Lebensführung nur mittelbar beeinflusst. Eine tägliche Kontrolle oder Beaufsichtigung durch Mitarbeiter der LVR-Klinik C oder durch Dritte ist nicht erfolgt. Vielmehr sieht die individuelle Betreuungsvereinbarung vor, dass der Kläger seine finanziellen Verpflichtungen und Angelegenheiten unter Beachtung der vereinbarten Vorgaben selbständig regelt. Mit der Dauerbeurlaubung soll die Erprobung eines eigenverantwortlichen Lebens ermöglicht werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Erstellt am: 29.04.2020
Zuletzt verändert am: 29.04.2020