Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.05.2014 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) vorläufig für den Zeitraum vom 15.04.2014 bis zum 30.09.2014 den Regelbedarf nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen unter Anrechnung des überschießenden Kindergeldes für den Antragsteller zu 2) sowie des Einkommens aus Elterngeld für die Monate April bis August 2014 zu gewähren. Der Antragstellerin zu 1) wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T aus C beigeordnet. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 1) in beiden Rechtszügen zur Hälfte zu tragen. Eine weitergehende Kostenerstattung findet nicht statt.
Gründe:
Die Beschwerden der Antragsteller sind teilweise begründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927¸ Keller in: Meyer-Ladewig u.a., Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012 zu § 86 b Rn. 29 a).
Der Antragsteller zu 2) hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Eine Hilfebedürftigkeit kann für ihn nicht bejaht werden, da er seinen Bedarf aus eigenem Einkommen sichern kann.
Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann. Der Bedarf des Antragstellers zu 2) beträgt nach § 23 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit Nr. 5 der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 SGB II für die Zeit ab dem 01.01.2014 229,- Euro. Hiervon sind das Einkommen des Antragstellers zu 2) in Höhe des Kindergeldes (184,- Euro) sowie der Unterhalt des Vaters in Höhe von 100,- Euro abzuziehen. Damit verbleibt ein überschießendes Einkommen in Höhe von 55,- Euro.
Die Antragstellerin zu 1) hat ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht. Bereits im erstinstanzlichen Verfahren hat diese mittels Fax am 29.04.2014 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, dass sie nicht in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Auch im Beschwerdeverfahren hat diese nach Aufforderung durch den Senat eine eidesstattliche Versicherung sowie aktuelle Kontoauszüge vorgelegt. Aus der aktuellen eidesstattlichen Versicherung ergibt sich, dass die Antragstellerin zu 1) lediglich über Elterngeld in Höhe von monatlich 300,- Euro sowie Kindergeld in Höhe von monatlich 184,- Euro verfügt.
Der Bedarf der Antragstellerin zu 2) beläuft sich auf 598,23 Euro (391,- Euro Regelbedarf zzgl. 66,47 Euro Mehrbedarf für werdende Mütter sowie zzgl. 140,76 Euro Alleinerziehendenzuschlag). Dem stehen ein Einkommen in Form des Elterngeldes in Höhe von monatlich 300,- Euro bis einschließlich August 2014 und der überschießende Teil des Kindergeldes in Höhe von 55,- Euro abzüglich der Versicherungspauschale von 30,- Euro monatlich, also insgesamt 325,- Euro gegenüber. Ab September erhält die Antragstellerin zu 1) kein Elterngeld mehr, so dass sie ab September 2014 nur noch über den überschießenden Teil des Kindergeldes als Einkommen verfügt.
Sofern das Sozialgericht (SG) eine Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin zu 1) verneint hat, schließt sich der Senat dem nicht an. Die Antragstellerin zu 1) hat durch die Vorlage der eidesstattlichen Versicherungen und der Kontoauszüge glaubhaft gemacht, dass das Einkommen aus Mutterschaftsgeld und nachgezahltem Elterngeld und Kindergeld tatsächlich nicht mehr vorhanden ist. Der Antragstellerin zu 1) standen daher keine bereiten Mittel in ausreichendem Umfang zur Verfügung, um ihr Existenzminimum zu sichern. Selbst wenn ein Zufluss von nachgezahltem Einkommen im November 2013 und Februar 2014 stattgefunden hat, hat die Antragstellerin zu 1) bereits mit eidesstattlicher Versicherung während des erstinstanzlichen Verfahrens am 29.04.2014 glaubhaft gemacht, dass jegliche Geldmittel für Nahrungsmittel fehlen würden. Der Senat hat daher insbesondere im Eilverfahren keine Bedenken gegen die Hilfebedürftigkeit, da im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die anspruchsbegründenen Tatsachen nicht im Sinne einer positiven Feststellung zu beweisen, sondern lediglich glaubhaft zu machen sind. Der Antragstellerin zu 1) ist daher unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach einer Folgenabwägung vorläufig die tenorierte Regelleistung zu gewähren. Sie hat ein schützenswertes Recht im Eilrechtsschutz vorläufig Leistungen zu erhalten, damit ihr keine schweren und unzumutbaren Nachteile entstehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie hochschwanger ist und Mutter eines einjährigen Sohnes ist.
Nach summarischer Prüfung sind damit die allgemeinen Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II gegeben. Die Antragstellerin zu 1) hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und sie ist auch erwerbsfähig. Die Antragstellerin zu 1) ist auch hilfebedürftig, da sie weder über ausreichendes eigenes Einkommen noch über Vermögen verfügt, was sie durch die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung sowie durch die Vorlage von Kontoauszügen glaubhaft gemacht hat. Gegenteilige Anhaltspunkte liegen nicht vor und sind von dem Antragsgegner auch nicht in substantiierter Form geltend gemacht worden.
Bei der Frage, ob die Antragstellerin zu 1) als lettische Staatsangehörige gemäß § 7 Absatz 1 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sie sich nach derzeitiger Aktenlage möglicherweise allein zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten dürfte, oder ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 hinter diese zurücktritt, handelt es sich um umstrittene Rechtsfragen, die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht einheitlich beantwortet sind (vgl. etwa gegen der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012 – L 19 AS 794/12 B ER unter Berufung auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER; LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER; Schreiber in NZS 2012, Seite 647 ff.; für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II: SG Berlin, Beschluss vom 11.06.2012 – S 205 AS 11266/12 ER und Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14.05.2012 – S 124 AS 7164/12 ER; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER und vom 02.08.2012 – L 5 AS 1297/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 – L 3 AS 1477/11). Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze lässt sich auch dem beim Bundessozialgericht (BSG) unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das Verfahren B 4 AS 9/13 R nach Art. 267 Abs. 1 und 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu verschiedenen Fragen einzuholen, u.a., ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004, mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004, auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R).
Aufgrund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist (BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Diese fällt zugunsten der Antragstellerin zu 1) aus. Hierbei sind insbesondere die Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragstellerin zu 1) gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners, die vorläufig erbrachten Leistungen im Fall des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten, abzuwägen. Das Interesse des Antragsgegners muss im konkreten Fall hinter den Interessen der Antragstellerin zu 1) zurücktreten. In Anbetracht dessen, dass die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, kann der Antragstellerin zu 1) im Lichte des in Art. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verankerten Gebots des effektiven Rechtsschutzes und der Menschenwürde nicht zugemutet werden, ohne jede staatliche Existenzsicherung eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (LSG NRW, Beschluss vom 03.04.2013 – L 7 AS 2403/12 B und Beschluss vom 28.04.2014 – L 7 AS 550/14 B ER). Ohne die beantragten Leistungen drohten bzw. drohen der Antragstellerin zu 1) für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da der Lebensunterhalt nach dem glaubhaft gemachten Vortrag nicht mehr gesichert war. Der Antragsgegner hat allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Insbesondere ist die Antragstellerin zu 1) zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu verweisen (LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2012 – L 7 AS 2138/12 B ER).
Bei der vorläufigen Leistungsbewilligung wurde auf den üblichen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten abgestellt (vgl. § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II) und dem Umstand, dass die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollte und der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch gegebenenfalls nicht wird realisieren können, Rechnung getragen worden, dass die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners inhaltlich und zeitlich begrenzt werden.
Bedarfe für Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II sind weder ersichtlich noch glaubhaft gemacht worden, so dass nur Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form der Regelleistung zu gewähren sind.
Bezogen auf die Regelleistung ist die Eilbedürftigkeit deshalb gegeben, weil die Antragstellerin zu 1) über kein ausreichendes eigenes Einkommen oder Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts verfügt.
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des SG ist auch insoweit nur teilweise begründet, als ein Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Ausgangsverfahrens aus den oben genannten Gründen nur für die Antragstellerin zu 1) besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.
Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 09.10.2014
Zuletzt verändert am: 09.10.2014