Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.06.2000 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger als Verfolgter im Sinne des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) anzusehen und damit berechtigt ist, Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten.
Der 1923 in Y …, Kreis R …, Lettland, geborene Kläger ist Jude. Er arbeitete bis Juni 1941 als Verkaufsgehilfe in R … Im Juli 1941 flüchtete er vor den Deutschen in das Innere der Sowjetunion. Nach Kriegsende lebte und arbeitete der Kläger wieder in Lettland, 1979 wanderte er nach Australien aus. Seit 1983 ist er australischer Staatsangehöriger.
Am 27.09.1990 beantragte der Kläger Altersruhegeld unter Anerkennung seiner Versicherungszeiten und Zulassung zur Beitragsentrichtung zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Er beschrieb sein Verfolgungsschicksal dahingehend, dass er bei Ausbruch des deutsch-russischen Krieges in R … gewohnt habe. Nachdem die Deutschen im Juni 1941 R … und Lettland eingenommen hätten, hätten sofort Judenverfolgungen begonnen und es seien täglich Erschießungen vorgenommen worden. Da er als Jude um sein Leben gefürchtet habe, sei er nach Russland geflüchtet. Dort sei er gefaßt und zunächst zu Zwangsarbeiten in Sibirien herangezogen und später zum Bahnbau für das russische Militär im Ural eingesetzt worden.
Die Schwester des Klägers, Frau S … Z …, bestätigte in einer schriftlichen Erklärung, dass der Kläger von 1941 bis 1945 in K … gelebt und Zwangsarbeit geleistet habe. Auch die Zeugin T. V … machte entsprechende Angaben.
Aus der von der Beklagten beigezogenen BEG-Akte der Mutter des Klägers, Frau V … B … ergibt sich, dass diese ein Verfolgungsschicksal in Ghettos und Konzentrationslagern beschrieben und angegeben hat, sie habe ab Juli 1941 das Judenkennzeichen tragen müssen und sei am 02.10.1941 mit ihren beiden Kindern in das Ghetto Riga eingewiesen worden. Aus der ebenfalls beigezogenen BEG-Akte der Schwester des Klägers ist ersichtlich, dass diese ebenfalls ein Verfolgungsschicksal in Ghettos bzw. Konzentrationslagern geltend gemacht und erklärt hat, sie sei im 0ktober 1941 mit ihren Eltern in das Ghetto Riga eingewiesen worden.
Während die Beklagte auf der Grundlage von § 17 a FRG Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 FRG mit Unterbrechungen von Juni 1939 bis Februar 1979 anerkannt hat, lehnte sie mit Bescheiden vom 17.02.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.02.1996 sowie mit nach Klageerhebung erstelltem Bescheid vom 05.01.2000 die Zulassung des Klägers zur Entrichtung von Beiträgen ab. Eine Nachentrichtungsmöglichkeit nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WGSVG scheitere daran, dass ein Nachentrichtungsantrag nach § 10 WGSVG nicht bis zum 31.12.1975 gestellt worden sei. Weil für den Kläger unabhängig von einer Vorversicherungszeit nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung bestanden habe, sei auch § 22 WGSVG für ihn nicht einschlägig. Schließlich sei der Kläger nicht nach § 9 WGSVG in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung versicherungsberechtigt, weil er kein Verfolgter im Sinne des § 1 BEG sei.
Im Klageverfahren hat der Kläger zuletzt nur noch gemeint, aufgrund seines Schicksals sei er als Verfolgter anzusehen und jeden falls gemäß § 9 WGSVG a.F. zur freiwilligen Versicherung zuzulassen. Zum Beleg seiner Verfolgteneigenschaft hat der Kläger Antragsunterlagen der Claims Conference vorgelegt.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass derjenige, der aus Verfolgungsfurcht vor den heranrückenden deutschen Truppen floh, der jedoch in dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon bisher lebte, grundsätzlich nicht als Verfolgter anzusehen sei. Gestützt auf die Ausführungen des BSG im Urteil vom 09.08.1995 – 13 RJ 25/94 – hat sie gemeint, dass die Verfolgteneigenschaft lediglich dann anerkannt werden könne, wenn die nicht durch Gewaltmaßnahmen bedrohte Bevölkerung vor den heranrückenden deutschen Truppen nicht geflüchtet sei. Lediglich wenn ein überwiegender Personenkreis die Flucht ergriffen habe, der mit Verfolgung durch die Nationalsozialisten rechnen mußte, sei auch die Flucht des Klägers als verfolgungsspezifischer Tatbestand i.S. des BEG anzusehen.
Das Sozialgericht hat zur Klärung der Frage, ob in Lettland auf grund des Einmarsches der deutschen Truppen im Jahr 1941 eine allgemeine, größere Bevölkerungsteile umfassende Fluchtbewegung einsetzte, oder ob überwiegend der Personenkreis floh, der von der nationalsozialistischen Verfolgung bedroht war, geschichtswissen schaftliche Ermittlungen durchgeführt. Es hat Anfragen gerichtet an das Gerhard-Hauptmann-Haus – deutsch/osteuropäisches Forum -, das Institut für interdisziplinäre baltische Studien an der Universität Münster, die Universitätsbibliothek Düsseldorf, die baltische historische Kommission sowie das Institut für baltische Studien in Stockholm. Es hat ferner einen Buchauszug "Die Presse in Riga während der deutschen Besatzung" beigezogen.
Mit Urteil vom 28.06.2000 hat es die angefochtenen Bescheide auf gehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach § 9 WGSVG a.F. zuzulassen und ihm Altersruhegeld unter Berücksichtigung der festgestellten Zeiten zu gewähren. Es hat den Kläger als Verfolgten i. S. des § 9 WGSVG a.F. angesehen. Hinsichtlich der Gründe wird auf das Urteil des Sozialgerichts verwiesen.
Gegen diese am 19.07.2000 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 03.08.2000 erhobene Berufung der Beklagten.
Die Beklagte meint weiter, der Kläger sei nicht als Verfolgter anzusehen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.06.2001 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
Im Berufungsverfahren wurde eine weitere Auskunft des Instituts ür baltische Studien, auf deren Inhalt verwiesen wird, beigezogen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte die Streitsache in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden, da er mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 SGG).
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Allerdings hat das Sozialgericht nicht lediglich über den Klageantrag entschieden, der auf die Anerkennung von Fremdbeitragszeiten und die Zulassung zur Beitragsentrichtung gerichtet war, sondern es hat die Beklagte zur Zahlung von Altersruhegeld verurteilt. Damit hat das Sozialgericht die Vorschrift des § 123 SGG verletzt. Nach dieser Vorschrift darf das Gericht nicht mehr zusprechen als gewollt ("ne ultra petita"). Der Kläger hat jedoch lediglich die Zurückweisung der Berufung beantragt und damit konkludent im Berufungsverfahren eine Klageerweiterung ausgesprochen (hierzu Meyer-Ladewig, SGG, 6.Auflage, Rdnr. 6 zu § 123). Diese ist zulässig, da die Beklagte ihr nicht widersprochen hat und die Erweiterung der Klage zudem sachdienlich ist (§ 99 Abs. 1 SGG). Der Leistungsantrag entspricht dem ursprünglich im Verwaltungsverfahren gestellten Antrag, die bisherigen Beweisergebnisse sind verwertbar. Den Leistungsantrag hat die Beklagte zwar nicht ausdrücklich, jedoch mindestens dadurch dem Sinne nach abgelehnt, dass sie die Aufhebung der Verurteilung zur Rentenzahlung beantragt hat.
Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger zur Entrichtung freiwilliger Beiträge nach § 9 WGSVG (in der Fassung vom 22.12.1970 – BGBl. I, 1946 -, gültig vom 01.02.1971 – 31.12.1991; im Folgenden: a.F.) zuzulassen ist. Der insoweit maß gebliche, gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordene Ablehnungsbescheid vom 05.01.2000, ist rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Nach § 9 WGSVG a.F. konnten Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist, oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit zurückgelegt haben, sich auf Antrag in dem Zweig der Rentenversicherung weiterversichern, zu dem sie den letzten Beitrag vor dem Inkrafttreten des WGSVG entrichtet haben, auch wenn die Voraussetzungen des § 1233 RVO, 10 AVG nicht vorliegen.
§ 9 WGSVG wurde durch Art. 21 Nr. 2 RRG 1992 mit Wirkung ab 01.01.1992 (Art. 85 Abs. 1 RRG 1992) neu gefasst. Die ursprünglich in § 9 WGSVG enthaltene Regelung findet sich jetzt in § 10 WGSVG in der ab 01.01.1992 geltenden Fassung. Die Vorschrift hat vor allem Bedeutung für Verfolgte mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland, die nach den allgemeinen Regeln (§§ 1233 RVO, 7 SGV VI, freiwillige Versicherung bei Auslandswohnsitz nur für Deutsche) oder nach über- bzw. zwischenstaatlichem Recht (z. B. Zusatzabkommen zum DISVA) nicht zur freiwilligen Versicherung berechtigt sind.
Der Kläger hat den Antrag auf Entrichung freiwilliger Beiträge am 27.09.1990 gestellt, so dass § 9 WGSVG noch einschlägig ist.
Der Kläger hat eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten zurückgelegt. Dies ergibt sich aus dem von der Beklagten anerkannten Versicherungsverlauf. Die Zeiten sind glaubhaft und unstreitig; glaubhaft und unstreitig ist auch, dass der Kläger bis zum Beginn der behaupteten Verfolgungszeit beschäftigt war. Unter einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ist neben einer Pflichtversicherung nach früheren reichsgesetzlichen Vorschriften auch eine aufgrund des FRG anzuerkennende Beitragszeit und Beschäftigungszeit (§§ 15, 16 FRG) zu verstehen (vgl. auch Verbandkommentar Rdnr. 3 zu § 10 WGSVG i.V.m. Rdnr. 17,6 zu § 1 WGSVG), so dass bei Bejahung der Verfolgteneigenschaft auch von einer Unterbrechung einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit ausgegangen werden kann.
Mit dem Sozialgericht und entgegen der Meinung der Beklagten ist auch die Eigenschaft des Klägers als Verfolgter im Sinne des § 9 WGSVG a.F. zu bejahen.
Für das WGSVG ist grundsätzlich der Begriff des Verfolgten im Sinne des BEG maßgeblich (§ 1 Abs. 1 WGSVG, vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 09.08.1995 – 13 RJ 25/94 -). Verfolgter ist hiernach, wer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist. Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ist, wer (u. a.) aus Gründen der Rasse oder des Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (§ 1 Abs 1 BEG). Der Kläger ist Opfer im Sinne dieser Vorschrift.
Glaubhaft und im Übrigen zwischen den Beteiligten nicht streitig ist zunächst, dass der Kläger nach der Besetzung R … durch die deutschen Truppen in die Sowjetunion geflohen ist. Der Kläger konnte seine Angaben bestätigende Zeugenaussagen vorlegen (Erklärungen der Zeugen P … und L …), und er verfügt über eine Bescheinigung für eine in der Sowjetunion zurückgelegte Beschäftigung, die von der Beklagten anerkannt wird. Die BEG-Erklärung der Mutter, sie wäre mit "ihren beiden Kindern" im Oktober 1941 in das Ghetto Riga eingeliefert worden, dürfte unzutreffend sein. Ein Ghettoaufenthalt wäre für den Anspruch des Klägers günstig, denn das würde ohne weiteres dessen Verfolgteneigenschaft begründen. Wäre der Kläger nicht sogleich in die Sowjetunion geflüchtet, sondern unmittelbar nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt gewesen, ist anzunehmen, dass er diesen entschädigungsrechtlich für ihn günstigen Sachverhalt mitgeteilt hätte.
Die Annahme der Verfolgteneigenschaft des Klägers scheitert entgegen der Annahme der Beklagten nicht daran, dass der Kläger nicht unmitttelbar Opfer konkreter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden ist, weil er sich der in R … nach der deutschen Besatzung einsetzenden Judenverfolgung durch Flucht in das Innere der Sowjetunion entzogen hat. Gemäß § 2 Abs. 1 BEG sind nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihrer angeschlossenen Verbände gegen den Verfolgten gerichtet worden sind. Nach der Rechtsprechung des BGH und ihm folgend des BSG ist der Begriff der konkreten Verfolgung nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt sondern auch erfüllt, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen wird, und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder auf andere Weise entzieht. Insbesondere bei den Gruppenverfolgten – so auch den Juden – ist danach eine konkrete Verfolgung in diesem Sinne bejaht worden, wenn Gruppenverfolgte die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen haben (BGH, RzW 1975, 265; BSG SozR 5070 § 9 Nr. 3). Der Kläger war Gruppenverfolgter im Sinne dieser Ausführungen. Zum Zeitpunkt seiner Flucht aus R … im Juli 1941 stand die Gefahr einer solchen Verfolgung auch unmittelbar bevor, denn R … wurde bereits wenige Tage nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion (22.06.1941) von der rasch vor stoßenden 18. Armee der Deutschen Wehrmacht am 02. Juli 1941 eingenommen (BSG, Urteil vom 09.08.1995 – 13 RJ 25/94 – mit Hinweis auf die einschlägige historische Literatur).
Der Verfolgteneigenschaft des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er aus Lettland, das sich bereits am 05. August 1940 unter sowjetischem Druck als 15. sozialistische Sowjetrepublik der UdSSR angeschlossen hatte, in das Innere der Sowjetunion floh und damit in dem Staat blieb, in dessen Bereich er schon bisher lebte.
Allerdings ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH derjenige, welcher aus Verfolgungsgründen vor den heranrückenden deutschen Gruppen floh, dabei jedoch in dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon bisher lebte, nicht entschädigungsberechtigt für Schäden, die bei oder infolge der Flucht außerhalb des deutschen Einflussgebietes entstanden sind (BGH RZW 1974, 204; RzW 1977, 168). Diese Rechtsprechung ist für das WGSVG übernommen worden (BSG vom 09.08.1995 a.a.O., dort auch Hinweise auf die Entscheidung des Senates vom 15.05.1987 – L 3 J 102 /84 -).
Diese Folgerung des BGH kann jedoch nicht ohne weiteres auf das WGSVG und den dieses Gesetz prägenden Verfolgtenbegriff übertragen werden:
Der Rechtsprechung des BGH liegt der Gedanke zugrunde, dass jüdische Flüchtlinge, die im eigenen Land vor den herannahenden deutschen Truppen flohen, ein Teil fliehender Bevölkerungsmassen waren, die das gemeinsame ungewisse Schicksal der Flucht in das Landesinnere aus Furcht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen und dem fremden Besatzungsregime auf sich nahmen. Die Verfolgung möge als maßgeblicher oder zusätzlicher Beweggrund für das Ausweichen in das Innere des Landes feststellbar sein, sie allein rechtfertige es nicht, die Teilnahme am weithin verbreiteten Schicksal der übrigen zivilen Bevölkerung als entschädigungsrechtlich bedeutsam anzusehen (BGH RzW 1974 und 1977 a.a.O.).
Diese Auffassung verkennt, dass das Schicksal der osteuropäischen Juden ein gänzlich anderes gewesen ist, als das der übrigen Zivilbevölkerung. Den Juden, und nur ihnen, drohte bei Verbleiben im deutschen Einflussbereich der nahezu sichere Tod. Die Juden waren nicht Opfer eines allgemeinen Kriegsschicksales, sondern sie waren – einschließlich Frauen, Alten und Kindern – systematisch staatlich organisierten Massenmorden ausgesetzt. Hieran beteiligten sich insbesondere auch im Baltikum nicht nur das deutsche Besatzungsregime, sondern auch weite Teile der einheimischen Bevölkerung, deren latenter Antisemitismus durch den Einmarsch der Deutschen entfesselt wurde (so auch Schwarz, RZW 1980, 1 f.; vgl. auch Rasehorn, Urteilsanmerkung, RZW 1974, 204; vgl. im Übrigen auch Heer, Blutige Ouvertüre, in: Die Zeit Nr. 26, vom 21.06.2001, S. 90).
Juden waren damit zur Rettung ihres Lebens unmittelbar und alternativlos gezwungen, Besitz, Eigentum und Beruf aufzugeben und in das Innere der Sowjetunion zu fliehen, gleichgültig wer dort herrschte und welches Schicksal sie dort erwartete (hierzu Werner RZW 1973, 361 f.). Einem derartigen Zwang unterlag die übrige, nicht speziell von der Nationalsozialisten verfolgte Zivilbevölkerung nicht. Sie hatte die Wahl, ob sie sich dem Kriegsgeschehen und der deutschen Herrschaft aussetzte, oder ob sie es vorzog, in die von Stalin beherrschte Sowjetunion zu fliehen. Wenn einige Bevölkerungsteile ebenso wie die Juden es vorzogen, zu fliehen, kann dies daran, dass die Juden in jedem Fall Verfolgte des nationalsozialistischen Unrechtsregimes waren, nichts ändern.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß sich aus den Kampfhandlungen und den Umständen eines Besatzungsregimes auch für die übrige Bevölkerung Härten ergaben und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung "kaum Rücksicht genommen" wurde (so BGH RzW 1977 a.a.O.). Diese Gefahrenlage ist nämlich mit der, in der sich die Juden befanden, überhaupt nicht vergleichbar. Die Flucht entstand vielmehr aus einer Gefahrenlage heraus, die für Juden durch die nationalsozialistische Judenverfolgung gegenüber der nichtverfolgten Bevölkerungsgruppen unvergleichlich erhöht war (i.S. von BGH RzW 1977 a.a.O.).
Die Prämisse des BGH ist jedenfalls für das WGSVG auch deshalb nicht anzuwenden, weil bei der Anwendung des WGSVG für die Zurechnung eines Schadens zu einer Ursache (hier Flucht zur nationalsozialistischen Judenverfolgung) die Kausalitätslehre der wesentlichen Ursache gilt. Diese Kausalitätslehre ist für alle sozialrechtlichen Ansprüche anzuwenden. Als Ursache im Rechtssinne gelten hiernach unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes die Bedingungen, die wegen ihrer besonders engen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Ursachen an der Entstehung des Schadens mitgewirkt, ist vergleichend zu bewerten, welche von ihnen gleichwertig und welche wegen ihrer geringen Wirkung für den eingetretenen Schaden derart unbedeutend sind, dass sie praktisch außer Betracht bleiben müssen. Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der rechtlichen Wesentlich keit ist der Schutzzweck des Gesetzes (allgemein zur sozialrechtlichen Kausalitätslehre Erlenkämper/Fichte, Lehrbuch zum Sozialrecht, S. 74 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Durch § 9 WGSVG soll ein sozialrechtlicher Schaden ausgeglichen werden, der rechtlich wesentlich durch nationalsozialistische Verfolgungen entstand. Selbst wenn auch allgemeine Kriegsereignisse Grund für die Flucht in das Innere der Sowjetunion waren, so ist doch angesichts des oben geschilderten spezifisch jüdischen Schicksals die Tatsache, dass der Kläger Jude war, mindestens gleichwertig – wenn nicht sogar überwiegend – der Grund für die Flucht neben dem allgemeinen Kriegsschicksal, so dass das Schicksal des Klägers der nationalsozialistischen Verfolgung zugerechnet werden muss.
Der Anwendung der sozialrechtlichen Kausalitätstheorie steht auch nicht entgegen, dass der Begriff des Verfolgten im Sinne des WGSVG mit dem Begriff des Verfolgten i.S.d. BEG identisch ist. Denn es handelt sich auch beim BEG um ein Gesetz, das aufgrund von Tatbeständen, für die sich die öffentliche Hand einstandpflichtig erklärt hat, subjektiv öffentliche Rechte auf Leistungen begründet, so dass es jedenfalls bei der Beurteilung von Zurechnungsfragen auch bei Anwendung des BEG geboten ist, die Theorie der rechtlich wesentlichen Ursache zugrunde zu legen (anders BGH RzW 1977 a.a.O., Anwendung der zivilrechtlichen Adäquanztheorie ).
Die Verfolgteneigenschaft des Klägers wäre zudem auch dann zu bejahen, wenn man der Auffassung des BGH grundsätzlich folgen würde. Denn das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass es überwiegend wahrscheinlich im Sinne des § 3 Abs. 1 WGSVG ist, dass nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Jahre 1941 keine allgemeine, große Bevölkerungsteile erfassende Fluchtbewegung einsetzte. Für die Annahme einer derartigen Fluchtbewegung sprechen keinerlei Gesichtspunkte. Auch der BGH hat in der Entscheidung vom 04.04.1974 keine Belege dafür angeführt, dass es (aus Polen) "fliehende Bevölkerungsmassen" gegeben haben könnte, von denen die Juden lediglich ein Teil waren. Der entsprechenden Rechtsprechung des BGH liegt offenbar ganz allgemein der Gedanke zugrunde, dass es bei Einmarsch einer fremden Macht ein häufiges Phänomen ist, dass die Bevölkerung vor den herannahenden Truppen flieht. Dies mag sein, gilt jedoch dann nicht, wenn die herannahenden Truppen von der Bevölkerung nicht als Feinde, sondern als Befreier angesehen wurden, wie es beim Baltikum naheliegt, das kurz vorher völkerrechtlich fragwürdig an die Sowjetunion angeschlossen wurde. Der BGH hätte auch in den von ihm entschiedenen Fällen seine Annahme, es habe "fliehende Bevölkerungsmassen" gegeben, mindestens belegen müssen. Jedenfalls gibt es keinen allgemein gültigen Erfahrungssatz dahingehend, dass bei einem Kriegsausbruch stets Bevölkerungsmassen fliehen. Die vom BGH im Urteil vom 04.04.1974 gemachte Aussage ist daher nicht verallgemeinerungsfähig.
Gegen eine solche Massenflucht aus dem Baltikum sprechen dem gegenüber zahlreiche Gesichtspunkte: Das BSG hat in der Entscheidung vom 09.08.1995 bereits darauf hingewiesen, dass Lettland im Gegensatz zu Polen vor dem Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion von dieser einseitig annektiert worden ist. Deshalb spricht bereits eine Vermutung dafür, dass die lettische Bevölkerung in den deutschen Truppen zunächst keine unerwünschte Besatzungsmacht, sondern die "Befreier" von der Sowjetherrschaft sah und nicht den zurückweichenden Fremdherrschern nacheilte, um bei ihnen Schutz zu suchen. Dafür spricht auch der Umstand, dass das deutsche Reich vor der Besetzung über einen längeren Zeitraum hinweg gute Beziehungen zu den baltischen Staaten gepflegt hatte.
Die vom BSG geäußerte Vermutung wird durch die vom Sozialgericht angestellten geschichtswissenschaftlichen Ermittlungen bestätigt: Nach den Auskünften des wissenschaftlichen Mitarbeiters K … K … vom Institut für baltische Studien vom 16.07.1999 und 15.02.1001 war ein unkontrollierter Grenzübertritt von der lettischen SSR zur russichen SFFR oder weißrussischen SSR nicht möglich. Bereits dieser Umstand spricht gegen eine "Massenflucht".
Von der Sowjetunion wurden zwischen 40 000 und 60 000 Personen evakuiert. Bei knapp zwei Millionen Einwohnern stellt auch dieser Umstand keine "Massenflucht" dar. Überwiegend wahrscheinlich ist auch, dass hauptsächlich priviligierte Personen, wie Rotarmisten, Mitglieder der KPdSU und ihre Familienangehörigen evakuiert wurden. Hierfür sprechen auch die Ausführungen in der zeitgeschicht lichen Studie von Werner, RZW 1973, 361 f. (366). Demgegenüber lebten in Lettland nach der Auskunft der Heimatauskunftsstelle und des Instituts für baltische Studien nur ca. 90 000 Juden, von denen 20 000, also ein sehr wesentlicher Anteil, geflohen ist.
Der vom Sozialgericht beigezogene Aufsatz "Die Presse in Riga während der deutschen Besatzung" belegt, dass es eine starke nationalsozialistisch geprägte Strömung in Lettland gegeben hat, was ebenfalls dafür spricht, dass in Lettland die Deutschen jedenfalls nicht als Feind, vor dem man "massenhaft" floh, angesehen wurden. Auch aus dem Gerhard-Hauptmann-Haus heißt es, dass "die Letten eher vor den Russen geflohen wären, als vor den Deutschen" (Auskunft der Bibliotheksleiterin G … vom 13.01.1988).
Zusammenfassend kommt K … zu dem Ergebnis, dass eine allgemeine, größere Bevölkerungsteile erfassende Fluchtbewegung nicht einsetzte, sondern dass es eine von der Sowjetmacht gesteuerte Evakuierung gab, der sich viele Juden angeschlossen haben.
Hinzuweisen ist im übrigen darauf, dass die entsprechende historische Frage nicht "aufgeklärt" werden muß (so aber BSG vom 09.08.1995 a.a.0.). Vielmehr ist es gemäß § 3 Abs. 1 WGSVG ausreichend, dass glaubhaft ist, dass eine entsprehende Massenflucht nicht stattgefunden hat. Dies ist – wie dargelegt – der Fall.
Mit dem Sozialgericht ist der Senat schließlich der Auffassung, dass überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Kläger infolge der Flucht in das Innere der Sowjetunion ein Schaden an den Rechtsgütern im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG entstanden ist. Wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, blieb dem Kläger nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in R … wenig Zeit, um vor den gleich einzusetzenden Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung zu fliehen. Es entspricht damit allgemeiner Lebenserfahrung, dass er Eigentum in R … zurücklassen musste und sonstige Einbußen am Vermögen erlitt. Nachgewiesen ist zudem, dass der Kläger infolge der Flucht Schaden an seinem beruflichen Fortkommen erlitt, da er die bis Juni 1941 ausgeübte Tätigkeit als Verkaufshilfe sofort aufgeben musste, und er in der anschließenden Verfolgungszeit keine adäquate Beschäftigung ausüben konnte.
Der Kläger hat aufgrund der anerkannten Versicherungszeiten auch einen Anspruch auf Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5, Abs. 7 Satz 3 RVO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Erstellt am: 13.08.2003
Zuletzt verändert am: 13.08.2003