Der Bescheid der Beklagten vom 18.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.1999 wird aufgehoben. Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Klage richtet sich gegen die Herabstufung des Klägers von der Pflegestufe II in die Pflegestufe O.
Der XXXX geborene und bei der Beklagten gesetzlich pflegeversicherte Kläger, leidet an einer erblichen fortschreitenden Muskelerkrankung (Myotonia congenita Becker) sowie an einer hierauf beruhenden Spastik in Armen und Beinen. Ferner besteht eine Minderbegabung unklarer Ursache. Der letzte stationäre Krankenhausaufenthalt des Klägers war im Jahr 1990. Die schulische Ausbildung des Klägers fand in einer Sonderschule in Volmarstein statt. Im Jahr 1992 wurde der Kläger vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) untersucht und als schwerpflegebedürftig im Sinne der damals geltenden §§ 53 ff. des Sozialgesetzbuches Fünftes Buch (SGB V) alter Fassung eingestuft. Entsprechende monatliche Leistungen wurden daraufhin von der Krankenkasse des Klägers gewährt. Die weitere Prognose für die Entwicklung der Schwerpflegebedürftigkeit war nach Einschätzung des MDK im Jahr 1992 fraglich.
Mit Inkrafttreten der sozialen Pflegeversicherung zum 01.04.1995 übernahm die Beklagte den Kläger gemäß der Überleitungsregelung des Art. 45 des Pflegeversicherungsgesetzes ohne weitere Nachbegutachtung in die Pflegestufe II (Bescheid vom 24.01.1995). Im August 1998 veranlasste die Beklagte eine Nachuntersuchung durch den MDK, die der externe Gutachter Dr. X durchführte und bei der dieser davon ausging, dass der Allgemeinzustand des Klägers sich seit 1992 verbessert habe; trotz der schweren Behinderung, so Herr Dr. X, könne der Kläger sich selbständig fortbewegen und sich noch größtenteils selbständig bezüglich der Grundpflege helfen; der 1992 angegebene Hilfebedarf, beim ständigen Gehen, Stehen, Aufstehen und Zubettgehen, Hinsetzen, Umlagern, der mundgerechten Nahrungszubereitung, der selbständigen Nahrungsaufnahme, der ständigen Hilfe beim Waschen, Duschen, sowie beim Kämmen, Rasieren, dem Verrichten der Notdurft, An- und Auskleiden, sowie den hauswirtschaftlichen Verrichtungen sei heute nicht mehr erforderlich; es seien lediglich kleinere Hilfen im Bereich der Körperpflege medizinisch gesehen notwendig, eine komplette Hilfe jedoch bei der hauswirtschaftlichen Versorgung aufgrund der Muskelschwäche. Durch Bescheid vom 18.09.1998 stellte die Beklagte die Zahlung des Pflegegeldes alsdann mit sofortiger Wirkung ein und blieb hierbei auch, nachdem der Kläger hiergegen Widerspruch erhob und der MDK das Vorgutachten nach Aktenlage bestätigte (Widerspruchsbescheid vom 22.04.1999).
Hiergegen richtet sich die rechtzeitig bei dem Sozialgericht Dortmund erhobene Klage, mit der der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 18.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.1999 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die getroffene Verwaltungsentscheidung nach wie vor für rechtmäßig.
Das Gericht hat nach Beiziehung der Verwaltungsvorgänge der Beklagten zunächst ein sogenanntes Pflegetagebuch veranlasst, um sodann den Chefarzt der Klinik für Innere Medizin des St. Elisabeth-Hospitals in C, Herrn Prof. Dr. O, mit der Pflegebegutachtung des Klägers unter Hinzuziehung eines Dolmetschers der Muttersprache des Klägers zu beauftragen. Der Sachverständige hat aufgrund seiner Untersuchung im September 1999 ausgeführt, dass aufgrund der angeborenen Muskelschwäche für die notwendige Grundpflege des Klägers täglich ein Pflegebedarf von 39 Minuten erforderlich sei; dieser Bedarf, so der Sachverständige, bestehe aufgrund der beim Kläger vorliegenden Einschränkung der Leistungsfähigkeit unverändert im gesamten Zeitraum der Leistungsgewährung durch die Beklagte, d.h. ab dem 01.04.1995.
Beide Beteiligten haben sich der Einschätzung des Sachverständigengutachtens angeschlossen.
Das Gericht hat die Beteiligten schriftsätzlich und in einem Erörterungstermin am 16.02.2000 auf das gesetzliche Erfordernis einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen für eine Rückstufungsentscheidung im Sinne des § 48 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB X) sowie auf das Umdeutungsverbot des § 43 SGB X und die Fristproblematik des § 45 SGB X hingewiesen. Zu einer vergleichsweisen Regelung des Rechtsstreites auf Basis einer auf zehn Jahre befristeten Leistungsgewährung entsprechend der Pflegestufe I war nur der Kläger bereit. Beide Beteiligten haben ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze, sowie die Sitzungsniederschrift vom 16.02.2000 verwiesen. Das Beweisergebnis ergibt sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten. Die Gerichts- sowie die Verwaltungsakte lagen bei der geheimen Beratung der Kammer am 29.03.2000 vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die angefochtene Entscheidung der Beklagten vom 18.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.1999 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in seinen sozialen Rechten aus § 24 und § 48 SGB X i.V.m. dem Bewilligungsbescheid vom 24.01.1995.
Es kann dabei dahinstehen, ob für eine Rückstufungsentscheidung eines sogenannten "Alt Falles" d.h. bei einer Sachgestaltung wie der vorliegenden, in welcher der Versicherte/Kläger zuvor Leistungen nach den §§ 53 SGB V alter Fassung erhielt und daher gemäß Art. 45 des Pflegeversicherungsgesetzes kraft Gesetzes in die Pflegestufe II des SGB XI eingestuft wurde, für eine Rückstufung auf die Maßstäbe des SGB XI oder aber auf diejenigen des SGB V a.F. abzustellen ist. Sowohl bei der einen als auch bei der anderen rechtlichen Lösung nämlich ist für die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung formell gemäß § 24 SGB X eine sogenannte qualifizierte Anhörung im Sinne einer Mitteilung des von der Verwaltung zugrunde gelegten medizinischen neuen Befundes und materiell eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 SGB X erforderlich. Weder die formellen noch die materiellen Rechtsmäßigkeitsvoraussetzungen sind vorliegend bezogen auf die angefochtenen Bescheide der Beklagten erfüllt.
Zu den formellen Voraussetzungen
Wie das Bundessozialgericht zu § 24 SGB X im Rahmen der Überprüfung von auf § 48 SGB X gestützten Aufhebungsbescheiden mehrfach entschieden hat (Urteile des 9. Senats vom 25.03.1999 – B 9 SB 14/97 R – und vom 28.04.1999, Az.: B 9 SB 5/98 R sowie Az.: B 9 SB 5/98 R) ist dem gesetzlichen Anhörungserfordernis des § 24 SGB X nur dann Genüge getan, wenn die Verwaltung dem betroffenen Bürger vor ihrer abschließenden Entscheidung, d.h. bis spätestens zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens die maßgeblichen medizinischen Umstände mitteilt, welche aus ihrer Sicht zur beabsichtigten Rückstufung führen. Nur so nämlich kann der Bürger hierzu substantiiert Stellung nehmen und das ihm verfassungsrechtlich zustehende rechtliche Gehör wirksam zur Geltung bringen. Eine solche Anhörung des Klägers ist vorliegend ausweislich der Verwaltungsvorgänge zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Weder ihm selbst noch seiner Bevollmächtigten wurde Akteneinsicht gewährt. Bereits insofern sind die angefochtenen Bescheide daher formell rechtswidrig.
Zu den materiellen Erfordernissen des § 48 SGB X.
Zu fordern ist materiell gemäß § 48 SGB X zudem eine zeitlich nach dem Bewilligungsbescheid vom 31.01.1995 liegende wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die dieser Bewilligung zugrunde lagen, d.h. eine deutliche Verringerung des pflegerischen Aufwandes für den Kläger unabhängig davon, ob man diesen pflegerischen Aufwand nach den Maßstäben der § 53 ff. SGB V alter Fassung oder denjenigen der §§ 14 und 15 SGB XI beurteilt.
Dies ist nach dem ausführlichen widerspruchsfreien und schlüssigen Sachverständigengutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. O, nicht der Fall. Vielmehr führt der Sachverständige ausdrücklich aus, dass der pflegerische Aufwand des Klägers im gesamten streitbefangenen Zeitraum aufgrund der von Beginn an bestehenden Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit gleich geblieben ist.
Diesem Sachverständigengutachten haben sich nicht nur beide Beteiligten angeschlossen; es wird darüber hinaus auch durch die Tatsache bestätigt, dass der letzte Krankenhausaufenthalt des Klägers, der einen Ansatzpunkt für eine wesentliche Veränderung in den medizinischen-pflegerischen Verhältnissen dargestellt haben könnte, bereits neun Jahre zurückliegt und auch die Förderung des Klägers in einer Sondereinrichtung in W 1995, als die Beklagte das Pflegegeld entsprechend der Pflegestufe II bewilligte, bereits abgeschlossen war.
Auch der MDK selbst hat im Übrigen gerade nicht ausgeführt, dass die – mittlerweile zwischen 1992 und 1998 unzweifelhaft eingetretene – wesentliche Verbesserung seit der ersten MDK-Begutachtung im Jahre 1992 erst nach dem Jahresbeginn 1995 eingetreten ist. Der betreffende Gutachter, Herr Dr. X, hat nämlich in gebotener sozialmedizinischer Seriösität und Zurückhaltung lediglich ausgeführt, dass zum Zeitpunkt seiner Begutachtung der Vorzustand aus dem Jahr 1992 nicht mehr bestand. Eine Festlegung über den Zeitpunkt, wann genau diese Änderungen im Pflegeaufwand eintraten, enthält das Gutachten nicht. Auch danach bleibt als ebenso plausible Möglichkeit die Annahme offen, dass diese Änderungen bereits bis Ende 1994 eingetreten sein könnten, d.h. vor der hier maßgeblichen Bescheiderteilung im Januar 1995.
Eine für sie günstigere sozialmedizinische Beweislage hätte die Beklagte nur schaffen können, wenn sie von der in § 18 SGB XI ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit einer früheren und häufigeren Nachbegutachtung Gebrauch gemacht hätte, was insbesondere deswegen geboten war, weil der MDK (zu Recht) bereits im Jahr 1992 auf die offene Frage der Weiterentwicklung der Schwerpflegebedürftigkeit hingewiesen hatte.
Auch eine Umdeutung der von der Beklagten getroffenen Rückstufungsentscheidung von einem Verwaltungsakt im Sinne des § 48 SGB X in einen solchen im Sinne des § 45 SGB X kommt nicht in Betracht, weil es sich bei letzterem um einen Ermessensverwaltungsakt handelt – vgl. § 43 SGB X.
Die Kammer verkennt nicht, dass damit im Ergebnis möglicherweise zu Gunsten des Klägers eine laufende Sozialleistung Bestand hat, auf die er nach heute gültigem materiellem Recht keinen Anspruch hätte.
Indes konnte, nachdem die Beklagte den vom Gericht vorgeschlagenen Vergleich ablehnte, keine andere als die von der Kammer gefällte Entscheidung ergehen, denn bei den Vorschriften der § 24 und § 48 sowie § 43 SGB X handelt es sich um zwingendes Recht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Erstellt am: 20.11.2003
Zuletzt verändert am: 20.11.2003