Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.08.2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl".
Bei der am 00.00.1962 geborenen Klägerin wurde erstmals 1997 wegen einer Krebserkrankung ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. 2001 wurde der GdB auf 30 herabgesetzt. 2001 machte die Klägerin erstmals auch eine Augenerkrankung geltend. Nach einem Bericht des damals behandelnden Augenarztes betrug der Visus mit Korrektur rechts 0,5-0,6, links 1,0. In einem – erfolglosen – Widerspruch trug die Klägerin im Dezember 2001 vor, das damals zuständige Versorgungsamt L könne sich nicht vorstellen wie es sei, "bald blind durch die Gegend zu laufen". 2007 wurde auf einen Verschlimmerungsantrag hin maßgeblich wegen orthopädischer Leiden ein GdB von 40 festgestellt. 2008 stellte die Klägerin erneut einen Verschlimmerungsantrag wegen orthopädischer Leiden. In einem anschließenden sozialgerichtlichen Klageverfahren einigten sich die Beteiligten auf die Feststellung eines GdB von 50 (S 13 (12) SB 322/08). Dem lag insbesondere ein Gutachten des Facharztes für Innere Medizin, Sozialmedizin Dr. Q zugrunde, der den Einzel-GdB für das Funktionssystem Augen mit 30 bewertete. Die Klägerin hatte Dr. Q diverse Behandlungsunterlagen aus 2009 vorgelegt. Danach wurden radiologisch und neurologisch Beeinträchtigungen im Bereich der Sehbahnen und der Sehrinde ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde aber ein weitgehend aufgehobenes Sehvermögen unklarer Genese beschrieben.
Am 07.10.2009 stellte die Klägerin den hier zugrunde liegenden Antrag. Sie sei blind. In dem von ihr verwendeten Formularantrag machte sie im Abschnitt für begehrte Merkzeichen kein Kreuz. Der zwischenzeitlich im Rahmen der Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung zuständig gewordene Beklagte holte einen Befundbericht des Klinikums X ein und zog ein augenärztliches Gutachten dieser Klinik (Prof. Dr. H) für den Landschaftsverband bei, wonach die von der Klägerin angegebene Blindheit ophthalmologisch nicht aufklärbar sei. Trotz der Angabe von Blindheit habe sich die Klägerin frei und sicher im Untersuchungszimmer bewegt. Der Beklagte holte außerdem versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. T ein, wonach Blindheit nicht festgestellt werden könne. Mit Bescheid vom 08.02.2010 lehnte der Beklagte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" ab. Die Klägerin legte am 01.03.2010 Widerspruch ein, den die Bezirksregierung N mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2010 zurückwies.
Die Klägerin hat am 06.05.2010 Klage vor dem Sozialgericht Köln erhoben und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" ab dem 07.10.2009 begehrt. Sie hat vorgetragen, sie sei blind. Ihr sei nicht nur das "Benennen" optischer Wahrnehmungen, sondern auch das "Erkennen" unmöglich. Jedenfalls verstoße eine unterschiedliche Behandlung von Einschränkungen im Bereich des "Erkennens" und "Benennens" gegen den Gleichheitsgrundsatz. Entscheidend sei, dass sie ebenso wie ein organisch Blinder beeinträchtigt sei. Sie hat auf den Beschluss des BVerfG vom 07.05.1974 – 1 BvL 6/72 und das Urteil des LSG NRW vom 23.07.1991 – L 6 (7) V 245/90 Bezug genommen, ein Gutachten des Augenarztes Dr. W1 aus 2010 für die Deutsche Rentenversicherung (DRV) vorgelegt, wonach eine psychogene Blindheit bestehe und auf Gutachten im parallelen Klageverfahren gegen die DRV (S 25 R 1428/10) verwiesen.
Das Sozialgericht hat aus dem Klageverfahren S 25 R 1428/10 Gutachten des Facharztes für Augenheilkunde Dr. I sowie des Facharztes für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie, Spezielle Schmerztherapie, Psychotherapie Dr. J jeweils aus 2011 beigezogen und Sachverständigengutachten aufgrund ambulanter Untersuchung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W, der Leitenden Oberärztin der Klinik für Augenheilkunde des Krankenhauses N Dr. S, jeweils aus 2011 und des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P aus 2013 eingeholt.
Dr. I hat ausgeführt, es bestünden keine krankhaften organischen Veränderungen. Die Erblindung sei aber glaubhaft. Es bestehe ein V.a. psychogene Erblindung. Dr. J hat angegeben, die Lichtreaktion sei beidseits regelrecht gewesen. Der Blick sei während der Begutachtung durchgehend starr nach oben gerichtet gewesen. Es bestehe eine schwere dissoziative Störung im Sinne einer psychogenen Blindheit. Es bestehe eine für solche Störungen typische "belle indifference". Dabei handele es sich um eine starke Diskrepanz zwischen der Schwere der erlebten Beeinträchtigung (Blindheit) und einem wenig betroffenen bis heiteren Grundaffekt, der sich durch den primären Krankheitsgewinn erklären lasse. Es bestehe eine geradezu symbiotische Beziehung zur Mutter, die die Klägerin vollständig versorge.
Dr. W hat ausgeführt, die Klägerin habe behauptet, Lichtreize nicht wahrzunehmen. Die Pupillen hätten jedoch auf Lichtreize reagiert. Es bestehe eine psychogene Schon- und Versagensentwicklung, die mit einem Versorgungsbegehren korreliere. Eine schwerwiegende krankheitswertige Störung der willentlichen Steuerungsfähigkeit liege nicht vor. Dr. S hat eine organische Blindheit ausgeschlossen. Es liege weder eine Störung der Reizleitung, noch eine cerebrale Schädigung vor. Die Pupillenreaktion sei seitengleich intakt gewesen. Außerdem habe ein optokinetischer Nystagmus (Blickfolgebewegung) beobachtet werden können. Auffällig sei, dass der starre Blick nach oben – anders als bei organisch Blinden – auch bei Ansprache von der Seite beibehalten worden sei. Der dadurch entstehende Verdacht auf eine psychogene Sehstörung sei von Dr. W aber nicht bestätigt worden.
Dr. P hat Dr. J dahingehend zugestimmt, dass eine psychogene Erblindung mit vorwiegend primärem Krankheitsgewinn vorliege. Es liege eine unbewusste und damit krankheitswertige Symptombildung vor. Hintergrund sei die symbiotische Beziehung zur Mutter, die u.a. aus negativen Erfahrungen der Mutter mit Männern und dem Abbruch einer langjährigen gleichgeschlechtlichen Beziehung der Klägerin 2005 herrühre. Dr. W blende diese psychodynamischen Vorgänge aus. Die psychogene Blindheit sei mit einer organischen Blindheit gleichzusetzen. Dies ergebe sich auch aus einem Urteil des VG Köln vom 03.03.1993 (21 K 1778/92). Es liege allerdings keine neurologisch/neurophysiologisch feststellbare visuelle Agnosie vor, sondern eine Störung des "Benennens" wegen einer dissoziativen Störung.
Die Klägerin hat unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihrer Mutter zum Gutachten von Dr. W vorgetragen, dieser habe sie lediglich 16 Minuten begutachtet und ihr erhebliche Vorhaltungen gemacht. Seine knappen Ausführungen setzten sich anders als etwa das Gutachten von Dr. J nicht hinreichend mit dem Konzept einer psychogenen Störung auseinander. Es bestehe die Besorgnis der Befangenheit. Jedenfalls sei das Gutachten nicht verwertbar.
Das Sozialgericht hat den Antrag der Klägerin auf Ablehnung von Dr. W wegen Besorgnis der Befangenheit mit Beschluss vom 11.06.2012 abgelehnt, da der Antrag nicht rechtzeitig vorgebracht worden sei. Eine Beschwerde der Klägerin gegen diesen Beschluss ist vom erkennenden Senat mit Beschluss vom 22.10.2012 zurückgewiesen worden (L 13 SB 277/12 B).
Für den Beklagten hat der Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin Dr. C vorgetragen, nach den Beratungen des Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin sowie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei eine rein visuelle Agnosie bzw. Seelenblindheit, wie sie hier vorliege, nicht ausreichend für die Feststellung des Merkzeichens "Bl".
Die DRV hat der Klägerin mit Bescheid vom 04.12.2012 Rentenleistungen wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer gewährt. Die Mutter der Klägerin ist am 14.01.2014 verstorben. Der Beklagte hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht einen GdB von 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" festgestellt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 08.08.2014 abgewiesen. Es sei nicht nachzuweisen, dass bei der Klägerin bereits im Bereich des "Erkennens" eine Störung vorliege. Dass entsprechend Dr. P im Bereich des "Benennens" eine Störung vorliege, sei nach der Rechtsprechung des BSG, insbesondere nach dessen Urteil vom 20.07.2005 (B 9a BL 1/05 R), nicht ausreichend.
Die Klägerin hat gegen das ihrem Bevollmächtigten am 18.09.2014 zugestellte Urteil am 19.10.2014, einem Sonntag, Berufung eingelegt.
Sie trägt ergänzend vor, es sei unter Berücksichtigung der von Dr. S erhobenen Befunde auch eine Störung des "Erkennens" gegeben. Die spätere Erklärung von Dr. P, es liege eine bloße Störung des "Benennens" vor, stehe im Widerspruch zu seinem Gutachten. Jedenfalls bedeute die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" nur im Fall von Störungen des "Erkennens" einen Verfassungsverstoß. Sie verweist außerdem auf ein Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.01.2011 (L 12 SB 54/09).
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.06.2020 hat die Klägerin vorgetragen, der Verweis des SGB IX auf die Versorgungsmedizinischen Grundsätze stelle eine Umgehung von Art. 80 GG dar. Durch die Möglichkeit der Änderung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze durch den Verordnungsgeber sei der Verweis im SGB IX nicht hinreichend bestimmt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.08.2014 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 08.02.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung N vom 12.04.2010 zu verurteilen, bei ihr ab dem 07.10.2009 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte trägt unter Vorlage versorgungsärztlicher Stellungnahmen des Facharztes für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin Dr. C ergänzend vor, die VersMedV erfordere für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" eine organische Störung. Ein Gleichheitsverstoß liege nicht vor, da das Vorliegen einer organischen Störung einen wesentlichen Unterschied bedeute.
Der Senat hat ergänzende Behandlungsunterlagen beigezogen, ein Ergänzungsgutachten von Dr. P aufgrund nochmaliger ambulanter Untersuchung eingeholt und auf die zwischenzeitlichen Urteile des BSG vom 11.08.2015 (B 9 Bl 1/14 R), 14.06.2018 (B 9 Bl 1/17 R) und 24.10.2019 (B 9 SB 1/18 R) hingewiesen.
Dr. P hat ausgeführt, die Situation der Klägerin habe sich auch nach dem zwischenzeitlichen Tod ihrer Mutter nicht verändert. Sie erhalte jetzt Hilfe durch ein befreundetes Ehepaar. Es bestehe eine festgefahrene neurotische Struktur. Soweit in einzelnen Gutachten im Jahr 2009 angezweifelt worden sei, ob die Klägerin tatsächlich nichts mehr sehen könne, sei zu bedenken, dass sich ihr Leiden im Laufe der Zeit verschlechtert habe. Ihre Beeinträchtigung sei teilweise noch größer als bei einem organisch Blinden. Sie sei faktisch blind. Ob dies für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ausreiche, sei normativ zu entscheiden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die am 19.10.2014 eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Nach Zustellung des Urteils des Sozialgerichts am 18.09.2014 lief die Berufungsfrist nach § 64 Abs. 3 SGG erst am 20.10.2014 ab, da der 18.10.2014 ein Samstag war.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da diese zulässig, aber unbegründet ist. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese rechtmäßig sind. Sie hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkeichens "Bl".
Gemäß § 152 Abs. 4 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 gültigen Fassung (zuvor § 69 Abs. 4 SGB IX) stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind.
Auch wenn die Klägerin im hier zugrunde liegenden Formularantrag vom 14.09.2009 im Abschnitt für begehrte Merkzeichen das Merkzeichen "Bl" nicht ankreuzte, geht der Senat wie der Beklagte und das Sozialgericht von einem auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" gerichteten – und nach § 152 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erforderlichen – Antrag aus, da die Klägerin sich zur Begründung des Antrags ausdrücklich und ausschließlich darauf berief, "blind" zu sein.
Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV ist im Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite das Merkzeichen Bl einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist.
Maßgeblich für die Bestimmung des Blindheitsbegriffs im Schwerbehindertenrecht ist gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX (gültig seit dem 01.01.2018; zuvor § 159 Abs. 7 SGB IX, dieser wiederum gültig ab dem 15.01.2015) Teil A Nr. 6 der als Anlage zu § 2 der seit dem 01.01.2009 gültigen VersMedV erlassenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) und zwar im Gesetzesrang (BSG, Urteil vom 24.10.2019 – B 9 SB 1/18 R, juris Rn. 12 a.E.; so auch Dau, in: jurisPR-SozR 10/2016, Anm. 5, C.; ders. in: jurisPR-SozR 9/2019, Anm. 4, C.; a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.09.2016 – L 13 SB 123/15, juris Rn. 30). Eine Verfassungswidrigkeit des Verweises auf die VersMedV ist weder schlüssig vorgetragen, noch sonst ersichtlich (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.05.2015 – L 8 SB 70/13, juris Rn. 41). Teil A Nr. 6 VMG ist im Übrigen seit dem Inkrafttreten der VersMedV nicht geändert worden.
Gemäß Teil A Nr. 6a VMG ist blind ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist danach und in Übereinstimmung mit § 72 Abs. 5 SGB XII auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Gemäß Teil A Nr. 6c VMG ist blind auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen.
Das Bundessozialgericht hat seine Rechtsprechung zum Begriff der Blindheit im Wesentlichen anhand des Bayerischen Landesblindengesetzes entwickelt und ist dabei – schon zur Begründung seiner Entscheidungskompetenz – davon ausgegangen, dass dieser mit den Blindheitsbegriffen der übrigen Landesblindengesetze und denen des bundeseinheitlichen Sozialhilfe- und Schwerbehindertenrechts übereinstimme (vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R, juris Rn. 12; Urteil vom 20.07.2005 – B 9a BL 1/05 R, juris Rn. 14; vgl. zur Entwicklung des Blindheitsbegriffs und der Rechtsprechung Blüggel, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. § 72 Rn. 19 ff.; vgl. auch Wendler/Schillings, VMG, 9. Aufl. 2018, S. 88 ff.).
Dabei ist das Bundessozialgericht zunächst davon ausgegangen, dass es nicht maßgeblich sei, auf welchen Ursachen die Sehstörung beruhe und ob das Sehorgan selbst (Auge, Sehbahn) geschädigt sei. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, seien beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings sei in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt sei, oder ob – bei vorhandener Sehfunktion – (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliege, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden könne, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betreffe (BSG, Urteil vom 20.07.2005 – B 9a BL 1/05 R, juris Rn. 16). Fälle psychogener Blindheit erfüllten danach nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 01.11.2011 – L 4 SB 9/10, juris Rn. 15 f.). Zum nordrhein-westfälischen Landesblindengesetz vertrat allerdings das VG Köln in einem älteren Urteil vom 03.03.1993 (21 K 1778/92, NWVBl. 6/1994, S. 233-234), das von Dr. P und Wendler/Schillings (a.a.O., S. 91) zitiert wird, die Auffassung, dass Blindheit im Sinne dieses Gesetzes auch bei psychogener Blindheit vorliege.
2015 gab das BSG – erneut bezogen auf das BayBlindG – die Differenzierung zwischen Störungen des Benennen-Könnens und des Erkennen-Könnens auf (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R, juris Rn. 18 ff.). Gerade bei cerebral schwer geschädigten Menschen sei diese Differenzierung kaum möglich. Entscheidend sei, ob es insgesamt an der Möglichkeit der Sinneswahrnehmung fehle. Ebenso gab das BSG in dieser Entscheidung aus Gründen der Gleichbehandlung das bisherige Erfordernis auf, dass bei cerebralen Schädigungen die visuelle Wahrnehmung stärker betroffen sein müsse als andere Arten der Wahrnehmung (BSG, a.a.O., Rn. 22 ff.). Zu rein seelischen Störungen hieß es, diese sollten nach der bisherigen Rechtsprechung ausgeschlossen sein, da sie ggf. durch andere Sozialleistungen ausgeglichen werden könnten. Dies rechtfertige jedoch nicht die Ungleichbehandlung schwer cerebral Geschädigter (BSG, a.a.O., Rn. 29).
2018 schränkte das BSG diese Rechtsprechung dahingehend ein, dass das BayBlindG, um das es wieder ging, voraussetze, dass überhaupt ein blindheitsbedingter Mehraufwand bestehe. Sei dies nicht der Fall, was etwa bei generalisierten Leiden wie dauernder Bewusstlosigkeit/Koma der Fall sein könne und wofür ggf. die Behördenseite die Beweislast trage, so schließe dies einen Anspruch auf Blindengeld aus (BSG, Urteil vom 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R, juris Rn. 17 ff.). Die von Dau (in: jurisPR-SozR 10/2016, Anm. 5, C.) geäußerte Kritik, das BSG habe bereits 2015 die Vorgaben des nunmehr mit Gesetzesrang ausgestatteten Teil A Nr. 6c VMG missachtet, überzeuge nicht, da die VMG für das BayBlindG nicht maßgeblich seien (BSG, a.a.O., Rn. 14).
Mit Urteil vom 24.10.2019 (B 9 SB 1/18 R, juris) hat das BSG nun in einem Verfahren, in dem es um die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" bei einer Person mit schwerer Stoffwechselstörung und zentralnervöser Beteiligung ging, entschieden, dass Blindheit im Sinne des Schwerbehindertenrechts auf Störungen des Sehapparates beschränkt sei. Gnostische (neuropsychologische) Störungen des visuellen Erkennens seien nicht ausreichend. Dies ergebe sich insbesondere aus der Struktur von Teil A Nr. 6a-c VMG, die der Ordnung der VMG nach Organsystemen folge und sich auf ophthalmologische Grundsätze beziehe (Rn. 14 ff.). Bei gnostischen Störungen ergebe sich ein GdB aus Teil B Nr. 3 VMG. Dem so Behinderten stünden darüber hinaus andere Merkzeichen zu, so dass eine volle und gleichberechtigte Teilhabe erreicht werde (Rn. 19). Diese anderweitige Absicherung führe auch dazu, dass die Verneinung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" bei gnostischen Störungen keinen Gleichheitsverstoß darstelle, zumal die Anknüpfung an Organsysteme ein sachliches Differenzierungskriterium sei (Rn. 24 ff.). Im vorliegenden Fall sei allerdings offen, ob eine Rindenblindheit vorliege, weswegen der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde.
Die Klägerin leidet an einer psychogenen Blindheit. Darin stimmen Dr. J und Dr. P überein. Soweit Dr. W nicht einmal eine relevante psychische Störung annimmt und selbst eine psychogene Blindheit verneint, ist dies aus den insbesondere von Dr. P genannten Gründen nicht überzeugend. Im Ergebnis kommt es darauf aber nicht an.
Eine zur Blindheit führende oder gleich schwere Störung des Sehapparates im Sinne von Teil A Nr. 6a-b VMG liegt nicht vor. Die bei der Klägerin durchaus bestehenden ophthalmologischen Beeinträchtigungen, nämlich die von Dr. S überzeugend dargelegte anlagebedingte Fehlsichtigkeit in Form von Weitsichtigkeit und Stabsichtigkeit sowie Schwachsichtigkeit auf dem rechten Auge und anlagebedingte Fehlsichtigkeit in Form von Weitsichtigkeit auf dem linken Auge, Ungleichsichtigkeit, erfüllen diese Voraussetzungen nicht. Soweit die Klägerin darauf hinweist, dass laut Dr. S überraschenderweise keine Fusionsbewegungen hätten ausgelöst werden können, hat Dr. S dies durch fehlendes Binokularsehen erklären können. Dass aus ophthalmologischer Sicht mangels entsprechenden krankhaften Befundes am Sehapparat keine Blindheit vorliegt, wird von Prof. Dr. H, Dr. W1 und Dr. I bestätigt.
Es liegt nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. S in Auswertung der aktenkundigen bildgebenden Befunde und neurologischen Untersuchungen (VEP) schließlich keine Rindenblindheit oder sonstige cerebrale Störung vor, die das fehlende Sehen erklären könnte.
Die hier vorliegende rein psychogene Blindheit erfüllt weder nach der älteren, noch der zwischenzeitlichen, noch der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl". Es handelt sich weder um eine Störung des Erkennen-Könnens, noch um eine die Sehfähigkeit betreffende cerebrale Störung und erst recht nicht um eine organische Störung des Sehapparates.
Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Stand der medizinischen Erkenntnisse hiervon abweicht. So heißt es etwa in einer Stellungnahme des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands, der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft von Januar 2017 zur augenärztlichen Beurteilung im Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit auf Seite 2: "Vielmehr ist immer ein die Blindheit erklärender anatomischer Untersuchungsbefund als wesentliche Voraussetzung zu fordern."
Der Senat schließt sich der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Bundessozialgerichts an, dass die nach Organsystemen erfolgende Beurteilung behinderungsbedingter funktioneller Beeinträchtigungen in den VMG ein sachgerechtes Differenzierungskriterium darstellt und psychogen erblindete Menschen einen adäquaten Behinderungsausgleich durch den insofern nach Teil B Nr. 3 VMG zu bewertenden GdB und andere Merkzeichen erhalten. Im Fall der Klägerin wurde bereits ein GdB von 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "G" bejaht. Als wesentlichen Unterschied zu organisch Blinden sieht der Senat zudem die grundsätzliche Heilbarkeit einer psychogenen Blindheit an.
Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 07.05.1974 (1 BvL 6/72, juris) ergibt sich nichts anderes. Seinerzeit sah es das Gericht als Verstoß gegen den Gleichheitssatz an, dass im damaligen Recht, das grundsätzlich Beeinträchtigungen von Sehschärfe und Gesichtsfeldeinschränkungen berücksichtigte, eine starke Beeinträchtigung der Sehschärfe bei geringer Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes für die Bejahung von Blindheit ausreichte, während eine starke Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes bei geringer Beeinträchtigung der Sehschärfe nicht ausreichen sollte (Rn. 33 ff.). Die Frage, ob andere als organische Störungen des Sehapparates ausreichen könnten, stellte sich nicht.
Soweit für die Zeit bis 2015 bezweifelt worden ist, ob für die Regelung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" in der VersMedV eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage vorlag (verneinend SG Osnabrück, Urteil vom 24.06.2009 – S 9 SB 231/07, juris Rn. 23 ff.; so auch Dau, in: jurisPR-SozR 24/2009 Anm. 4, E.; ders., in: jurisPR-SozR 10/2016 Anm. 5, C.; vgl. auch die Nachweise bei Vogl, in: jurisPK-SGB IX, Stand: 15.01.2018, § 241 Rn. 30), kann dies dahinstehen, auch wenn der streitgegenständliche Zeitraum hier bis 2009 zurückreicht. Denn Teil A Nr. 6 VMG entspricht dem zuvor als antizipierten Sachverständigengutachten herangezogenen und nach dessen Abs. 1 ausdrücklich auch für das Schwerbehindertenrecht gültigen Teil A Nr. 23 AHP 2008. Auch in der Rechtsprechung zu anderen Merkzeichen wurde die Frage einer Ermächtigungsgrundlage für die VersMedV mit Verweis auf deren Übereinstimmung mit den früheren AHP und der Rechtsprechung des BSG als letztlich unbeachtlich angesehen (vgl. etwa zum Merkzeichen "G" LSG NRW, Urteil vom 16.12.2009 – L 10 SB 39/09, juris Rn. 49; vgl. auch Wendler/Schillings, a.a.O., S. 402 f.). Und weder nach der alten, noch nach der neuen Rechtsprechung des BSG zum Blindheitsbegriff war bzw. ist für dessen Bejahung eine psychogene Blindheit ausreichend. Das LSG Niedersachen-Bremen stellt in seinem Berufungsurteil vom 21.01.2011 (L 12 SB 54/09, juris Rn. 21 ff. (23 ff.)) zum oben genannten Urteil des SG Osnabrück entsprechend auf die Rechtsprechung des BSG aus 2005 ab. Das BSG selbst hielt trotz der vorgebrachten Bedenken jedenfalls im Hinblick auf das Merkzeichen "aG" die VMG auch vor 2015 für verbindlich (vgl. BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/14 R, juris Rn. 12).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht. Auch wenn das Bundessozialgericht sich nach seiner Entscheidung aus 2015 noch nicht explizit zu einem Fall psychogener Blindheit geäußert hat (vgl. zu einem Fall funktioneller Blindheit zuvor BSG, Beschluss vom 30.06.2014 – B 9 BL 2/13 B, juris), ergibt sich die schwerbehindertenrechtliche Beurteilung eines solchen Falls eindeutig (spätestens) aus dem Urteil des BSG vom 24.10.2019 (B 9 SB 1/18 R).
Erstellt am: 29.07.2020
Zuletzt verändert am: 29.07.2020