Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.04.2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist die Gewährung von Überbrückungsgeld zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit.
Die am 00.00.1963 geborene Klägerin beantragte am 19.11.2003 Überbrückungsgeld zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit. Zu dieser Zeit bezog sie Arbeitslosengeld in Höhe von 15,85 EUR pro Tag. Diese Leistung hätte sie noch bis 24.06.2004 beziehen können. Die Klägerin hatte vor, zum 02.01.2004 eine selbständige Tätigkeit als Pächterin eines L-Backshops in C aufzunehmen. Dabei handelte es sich um die Übernahme einer bestehenden Filiale. Die Klägerin legte eine Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vor. Zum 01.01.2004 hat sie ein selbständiges Gewerbe "Einzelhandel mit Brot- und Backwaren, Abbackstation" beim Gewerbeamt in C angemeldet. Nach Angaben der Klägerin sprach sie bei der Antragstellung bei der Arbeitsagentur auch über einen Antrag nach § 421 l Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) – Existenzgründungszuschuss -. Man habe ihr aber zu einer Antragstellung nach § 57 SGB III (Überbrückungsgeld) geraten.
Mit Bescheid vom 17.02.2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von Überbrückungsgeld mit der Begründung ab, bei dieser Leistung handele es sich um eine Ermessensleistung. Die Klägerin habe einen bereits am Markt etablierten Betrieb mit einem festen Kundenstamm übernommen. Deshalb werde im Rahmen des Ermessensspielraums davon ausgegangen, dass solche Existenzgründer von der Förderung auszuschließen seien, sofern die erzielten Einkünfte ausreichen würden, um in der Anlaufzeit den Lebensunterhalt und die Aufwendungen für die soziale Sicherheit aufzubringen.
Mit ihrem Widerspruch vom 12.03.2004 machte die Klägerin geltend, dass sie zwar einen bestehenden Betrieb übernommen habe, damit aber auch erhebliche Kosten verbunden seien und sie sich einen eigenen Kundenstamm aufbauen müsse.
Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.06.2004 zurück. Der angefochtene Bescheid sei insofern zu korrigieren, als es sich ab 01.01.2004 bei dem Überbrückungsgeld nicht mehr um eine Ermessensentscheidung handele. Im Ergebnis ändere sich jedoch nichts. Überbrückungsgeld werde gemäß § 57 Abs. 1 SGB III zur Sicherung des Lebensunterhaltes und der sozialen Sicherung gezahlt. Damit müsse auf Seiten des Antragstellers eine entsprechende Bedürftigkeit bestehen. Dies bedeute, dass Existensgründungswillige, die einen bestehenden Betrieb übernehmen oder in einen solchen eintreten würden, gefördert werden könnten, soweit die aus dem Betrieb erzielten Einkünfte nicht ausreichen würden, um in der Anlaufzeit den Lebensunterhalt und die Aufwendungen für die soziale Sicherung aufzubringen. Für die Entscheidung über Überbrückungsgeld sei daher grundsätzlich die Gewinnsituation des Betriebes vor der Übernahme ausschlaggebend. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die aus dem Betrieb erzielten Einkünfte nicht ausreichen würden, um in der Anlaufzeit den Lebensunterhalt und die Aufwendungen für die soziale Sicherheit aufzubringen.
Hiergegen hat die Klägerin am 15.07.2004 Klage vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Beklagte verkenne, dass eine Förderung auch bei Übernahme eines bestehenden Betriebes in Betracht komme. Auch sei nicht berücksichtigt worden, dass sie in der Anlaufzeit lediglich einen Gewinn von monatlich 900,00 EUR erzielt habe, von dem sie noch Versicherungsbeiträge und Rücklagen für die Entrichtung der Einkommensteuer abzuziehen gehabt habe.
Vor dem Sozialgericht hat die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.02.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2004 zu verurteilen, ihr ab dem 02.01.2004 Überbrückungsgeld zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat an ihrer im Widerspruchsverfahren vertretenen Rechtsauffassung festgehalten.
Mit Urteil vom 28.04.2004 hat das Sozialgericht der Klage entsprochen und die Beklagte zur Zahlung des Überbrückungsgeldes ab 02.01.2004 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Überbrückungsgeld nach § 57 SGB III vorlägen. Die Klägerin habe am 02.01.2004 ihre selbständige Tätigkeit aufgenommen und habe bis zu diesem Zeitpunkt Arbeitslosengeld bezogen. Durch die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit sei ihre Arbeitslosigkeit beendet worden. Die Klägerin habe auch eine Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorgelegt. Damit seien die Voraussetzungen für die Gewährung des Überbrückungsgeldes, das keine Ermessensleistung mehr sei, gegeben. Ob die Unterstützung im Einzelfall noch notwendig sei, wie die Beklagte meine, könne nach Wegfall der Ermessensausübung nicht mehr berücksichtigt werden. Das Sozialgericht hat sich insoweit auf die Kommentierung bei Gagel, SGB III, Stand Januar 2005, § 57 Randnr. 10, bezogen.
Gegen dieses ihr am 06.05.2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 02.06.2005 eingegangene Berufung der Beklagten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dem Sozialgericht sei darin zuzustimmen, dass die Klägerin die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Satz 1 SGB III erfülle. Übersehen worden sei aber, dass die Klägerin die Tatbestandsvoraussetzungen des § 57 Abs. 1 SGB III nicht erfülle. Das Überbrückungsgeld müsse nämlich der Sicherung des Lebensunterhalts und der sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung dienen. Das Überbrückungsgeld solle den Gründer in der Startphase seines Unternehmens unterstützen, in der er sich zunächst einen Marktzutritt verschaffen und gegen die Konkurrenz bestehen müsse. Die Gründungsphase sei in der Regel von unsicherer wirtschaftlicher Entwicklung gekennzeichnet. Die Förderung einer Betriebsübernahme sei grundsätzlich ausgeschlossen, wenn bei Übernahme eines bestehenden Betriebes davon ausgegangen werden könne, dass typische Startschwierigkeiten, die ein Neugründer in der Regel zu bewältigen habe, nicht bestünden. Dies sei im vorliegenden Fall gegeben. Es könne hier bei der Übernahme eines gut laufenden Backbetriebes von ausreichenden Einnahmen ausgegangen werden. Die Argumentation der Klägerin, sie müsse sich noch einen eigenen neuen Kundenstamm aufbauen, könne nicht nachvollzogen werden. Finanzielle Engpässe, die im Zusammenhang mit der Startphase der Existensgründung stünden, seien nicht ersichtlich. Der Klägerin hätten vielmehr erhebliche finanzielle Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden. Bankbürgschaften und Fremdkredite der Eltern könnten nicht berücksichtigt werden. Auch sei zu berücksichtigen, dass es die familiäre Einkommenssituation aufgrund des Einkommens des Ehemannes der Klägerin nicht erfordere, das Überbrückungsgeld als unterhaltssichernde Leistung in Anspruch zu nehmen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.04.2005 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das Urteil sei im Übrigen selbst dann zu bestätigen, wenn man einmal der Rechtsansicht der Beklagten folgen würde. Eine gesicherte Existenz sei zu Beginn der Übernahme nicht gewährleistet gewesen. Von den etwa 900,00 bis 945,00 EUR Überschuss im Monat hätten Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 316,97 EUR, Altersvorsorgeleistungen in Höhe von 150,00 EUR und Rückstellungen für die zu erwartende Einkommensteuervorauszahlung geleistet werden müssen. Auch habe sie eine Bankbürgschaft in Höhe von 10.000,00 EUR der Firma L vorlegen müssen, die durch Verpfändung eines Sparguthabens in Höhe von 5.000,00 EUR und ein Darlehen ihrer Eltern ebenfalls in Höhe von 5.000,00 EUR abgesichert worden sei. Auf das Einkommen ihres Ehemannes könne es nach dem Gesetz nicht ankommen.
Letztlich verhalte sich die Beklagte auch nicht fair. Sie könne ihr nicht zu einer Antragstellung nach § 57 SGB III raten, diesen dann aber ablehnen und sie nicht auf eine vorher diskutierte Antragstellung nach § 421 l SGB III hinweisen. Wäre die Rechtsauffassung der Beklagten zu § 57 SGB III zu bestätigen, sei an einen sozial-rechtlichen Herstellungsanspruch bezüglich einer unterlassenen Antragstellung nach § 421 l SGB III zu denken.
Die Beklagte hat erwidert, dass die Klägerin bei Gewährung des Überbrückungsgeldes mehr als das Doppelte des früheren Arbeitslosengeldes zur Verfügung gehabt hätte. Dies könne nicht Sinn der Leistung des § 57 SGB III sein. Anhaltspunkte für einen sozial-rechtlichen Herstellungsanspruch bezüglich einer Leistung nach § 421 l SGB III seien nicht aktenkundig.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin Anspruch auf Überbrückungsgeld nach § 57 SGB III (Fassung ab 01.01.2004) hat.
Nach § 57 Abs. 1 SGB III haben Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbständigen, hauptberuflichen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld. Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Senats erfüllt. Die Klägerin hat bis zur Aufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit Arbeitslosengeld in Höhe von 15,85 EUR pro Tag im Jahr 2003 erhalten. Sie erfüllte auch die Voraussetzungen für diese Leistung, wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist. Ihre Arbeitslosigkeit hat die Klägerin mit der Aufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit am 02.01.2004 beendet. Die selbständige Tätigkeit umfasste mehr als 40 Stunden pro Woche, wie aus den Öffnungszeiten des Ladens hervorgeht, die die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 01.03.2006 mitgeteilt hat. Die Klägerin war somit nicht mehr arbeitslos, was folgerichtig zur Einstellung der Arbeitslosengeldzahlung führte. Hieraus folgt, dass die Klägerin zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld hat. Nach Abschaffung der Ermessensprüfung geht der Gesetzgeber davon aus, dass das Überbrückungsgeld zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlich ist. Eine Überprüfung, ob die Förderung im konkreten Einzelfall notwendig ist, soll seit dem 01.01.2004 nicht mehr stattfinden. Der vom Sozialgericht zitierten Auffassung von Winkler (in Gagel, Kommentar zum SGB III, Stand Januar 2005, § 57 Randnr. 10) schließt sich der erkennende Senat an, weil er sie für zutreffend und überzeugend hält.
Die Meinung der Beklagten würde die seit dem 01.01.2004 abgeschaffte Ermessensausübung "durch die Hintertür" weiter aufrechterhalten. Gerade die Frage, ob das Überbrückungsgeld zur Sicherung des Lebensunterhalts überhaupt benötigt wurde, war vor dem 01.01.2004 vielfach Gegenstand von Ermessenserwägungen, die der Gesetzgeber abschaffen wollte. Wenn der Gesetzgeber dann nur die Worte "können … erhalten" durch "haben … Anspruch" ersetzt, den Gesetzestext im Übrigen aber bezüglich der Sicherung des Lebensunterhalts unverändert lässt, so kann daraus nur gefolgert werden, dass die Förderung der Regelfall sein soll, auf die individuelle Notwendigkeit aber nur noch in Ausnahmefällen (z.B. offensichtlicher Mitnahmeeffekt oder Mißbrauch) abgestellt werden soll. Wollte der Gesetzgeber nach der Gesetzesänderung ab 01.01.2004 auch weiterhin eine Prüfung der subjektiven Bedürftigkeit fordern, müsste die Beklagte konsequenterweise bei der Antragstellung die finanziellen Verhältnisse der mit dem Antragsteller in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen – z.B. Ehepartner – abfragen, was sie aber nicht tut und auch im Falle der Klägerin nicht getan hat. Das Einkommen des Ehemannes kann für die Frage, ob die Arbeitslosigkeit im konkreten Fall beendet wird, keine entscheidende Rolle spielen. Auch der Umstand, dass die Klägerin nach der Selbständigkeit mit dem Überbrückungsgeld mehr Barmittel zur Verfügung hat als zur Zeit des Arbeitslosengeldbezugs, kann kein entscheidendes Kriterium sein. Dies setzt das Gesetz nämlich praktisch voraus, denn das Überbrückungsgeld orientiert sich der Höhe nach am vorherigen Arbeitslosengeldbezug und akzeptiert zusätzlich eine Einnahme aus der selbständigen Tätigkeit, so dass fast jeder Existenzgründer – vom Gesetzgeber bewusst gewollt – mehr Barmittel als vorher zur Verfügung hat. Würde man die Auffassung der Beklagten akzeptieren, könnte Überbrückungsgeld praktisch erst nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes von 6 Monaten nach Prüfung der wirtschaftlichen Ertragsfähigkeit des Betriebes bewilligt werden, was aber gerade Sinn und Zweck des Überbrückungsgeldes zuwiderlaufen würde. Das Urteil des Sozialgerichts war somit aus den dort genannten Gründen zu bestätigen.
Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass er im Übrigen auch unter Berücksichtigung der Ausführung der Beklagten den Anspruch für gegeben hält, denn die Einnahmen aus dem Backshop waren jedenfalls in der Gründungsphase trotz bestehenden Kundenstamms für die Klägerin keine gesicherte Existenzgrundlage. Der Senat nimmt Bezug auf die Ausführungen der Klägerin im Schriftsatz vom 02.09.2005 und die dortige Auflistung der monatlichen Ausgaben für Krankenversicherung, Altersvorsorge, Bürgschaftskosten und Rückstellungen für die anstehende Einkommensteuervorauszahlung. Diese Ausgaben sind zu berücksichtigen und belegen eindeutig, dass der Lebensunterhalt der Klägerin allein durch das Einkommen der selbständigen Tätigkeit in der Anfangsphase eben nicht gesichert war, wenn man das Überbrückungsgeld und das Einkommen des Ehemannes unberücksichtigt lässt.
Da der Klägerin ein Anspruch auf Überbrückungsgeld nach § 57 SGB III zusteht, scheidet nach § 421 l Abs. 4 Nr. 1 SGB III ein Anspruch auf einen Existenzgründungszuschuss aus. Es bedarf daher keiner Prüfung, ob die Klägerin bei Erfolg der Berufung hilfsweise einen Anspruch auf Prüfung der Voraussetzungen des § 421 l Abs. 1 SGB III im Wege des sozial-rechtlichen Herstellungsanspruchs gehabt hätte.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil er der Frage grundsätzliche Bedeutung zumisst, ob der Auffassung des Senats und von Gagel zu § 57 SGB III zu folgen ist. Höchstrichterliche Rechtsprechung ist zu diesem Punkt bisher nicht ergangen. Im Hinblick auf die Abschaffung der Leistungen nach § 421 l SGB III ab dem 01.01.2006 (vgl. § 421 l Abs. 5 SGB III) könnte der Vorschrift des § 57 SGB III wieder verstärkt Bedeutung zukommen, so dass eine höchstrichterliche Klärung in allgemeinem Interesse liegt.
Erstellt am: 26.05.2006
Zuletzt verändert am: 26.05.2006