Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.06.2007 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatteten.
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Kostenübernahme für das Fertigarzneimittel Captagon (Wirkstoff: Fenetyllin) in Anspruch.
Die 1976 geborene Klägerin leidet unter Narkolepsie (Tagesmüdigkeit). Im Rahmen eines in der Zeit vom 16.08.2004 bis 23.08.2004 durchgeführten stationären Aufenthaltes in der I-Klinik T wurde sie u.a. auf das Arzneimittel Captagon eingestellt. Nach Beendigung des Aufenthaltes wurde die Klägerin bis Anfang Dezember 2004 im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung mit Captagon behandelt. Die zunächst bestehende Fiktivzulassung (§ 105 Arzneimittelgesetz (AMG)) für Captagon endete zum 30.06.2003, nachdem der Hersteller einen Antrag auf Nachzulassung zurückgenommen hatte. Captagon ist aktuell in Belgien zugelassen; eine europaweite Zulassung besteht nicht.
Am 03.12.2004 beantragte die Apotheke C (W) unter Vorlage einer vertragsärztlichen Arzneimittelverordnung (Frau L – Ärztin für Neurologie) für die Klägerin die weitere Kostenübernahme für die Versorgung mit dem Arzneimittel Captagon: Die Klägerin befinde sich in Dauerbehandlung; die Einstellung sei durch eine psychiatrische Klinik vorgenommen worden. Der behandelnde Arzt lehne eine Änderung der Einstellung ab. Das Präparat Captagon sei in Deutschland nicht mehr im Handel und ein Alternativpräparat mit identischem Wirkstoff gebe es nicht. Der Preis für 100 Tabletten als Import belaufe sich auf 68,21 EUR.
Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab und stützte sich im Wesentlichen auf die fehlende arzneimittelrechtliche Zulassung für Captagon (Bescheid vom 18.01.2005).
Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass ihrer Ansicht nach Captagon in Deutschland weiterhin verkehrs- und verschreibungsfähig sei. Denn bei Captagon handele es sich um eine Zubereitung aus dem Stoff Fenetyllin gemäß Abschnitt 1 § 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). In der Anlage III zum BtMG seien die verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel aufgelistet. Dort seien Mittel mit dem Wirkstoff Fenetyllin aufgenommen worden. Ein Anspruch auf Kostenübernahme ergebe sich ferner angesichts der in Belgien bestehenden Zulassung.
Zur weiteren Begründung legte die Klägerin den Behandlungsbericht der I-Klinik vom 13.10.2004 vor. Dort heißt es abschließend, dass sich in der Austestung vigilanzsteigernder Medikamente Fenetyllin (Captagon) hinsichtlich der optimalen vigilanzsteigernden Wirkung unter nur gering auftretenden Nebenwirkungen am effektivsten gezeigt habe.
In einem von der Klägerin übersandten Bericht vom 21.03.2005 legte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. N (I-Klinik) u.a. dar, dass Captagon zur Behandlung der Tagesmüdigkeit sehr gut geeignet sei. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Erkrankung bereits ihren Arbeitsplatz verloren und erlebe durch die mangelnde Wachheit eine massive Einschränkung ihrer Lebensqualität. Der Gesamtgesellschaft entstünden hierdurch sehr hohe Folgekosten, die durch einfache Verordnung und Kostenübernahme für Captagon reduziert werden könnten.
Den Widerspruch wies die Beklagte zurück. Dazu führte sie aus, dass Captagon weder EU-weit noch in Deutschland zugelassen sei. Eine Kostenübernahme komme auch nicht nach den von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen zur zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln ("Off-Label-Use") in Betracht. Voraussetzung sei auch hier zumindest eine – wenn auch für andere Indikationen – bestehende Zulassung in Deutschland. Des Weiteren sei eine Kostenerstattung auch nicht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18.05.2004 – Az.: B 1 KR 21/02 R – möglich, da es sich bei der Narkolepsie nicht um eine singuläre Erkrankung handele, die den für die Zulassung eines Arzneimittels erforderlichen Wirksamkeitsnachweis erschwere (Widerspruchsbescheid vom 28.04.2005).
Die Klägerin hat mit der am 13.06.2005 bei dem Sozialgericht (SG) erhobenen Klage daran festgehalten, dass die Voraussetzungen des "Off-Label-Use" erfüllt seien. Aufgrund der Einnahme von Captagon sei sie wieder arbeitsfähig gewesen. Sie habe nach Beendigung ihres Studiums eine 2-jährige Ausbildung zur Fachredakteurin abschließen können. Anschließend sei sie jedoch arbeitslos geworden. Sie sei finanziell nicht in der Lage, das Medikament Captagon selbst zu bezahlen. Bei der Narkolepsie handele es sich um eine seltene Erkrankung, bei der wissenschaftliche Studien zur Erforschung der Wirksamkeit eines Arzneimittels regelmäßig nicht durchgeführt werden könnten.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2005 zu verurteilen, die Kosten für die Behandlung mit dem Import-Arzneimittel Captagon zu übernehmen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich im Wesentlichen auf die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen gestützt.
Das SG hat einen Befund- und Behandlungsbericht der I-Klinik T eingeholt. In dem Bericht vom 20.02.2005 hat Prof. Dr. N nochmals ausgeführt, dass sich unter Captagon die geringsten Nebenwirkungen gezeigt hätten. Die Beklagte hat eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 29.08.2006 vorgelegt. Danach ist eine Behandlung mit den zugelassenen Arzneimitteln Vigil und Ritalin möglich.
Einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das SG abgelehnt (Beschluss vom 28.10.2005 – Az.: S 4 KR 53/05 KR ER). Die hiergegen erhobene Beschwerde ist vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) zurückgewiesen worden (Beschluss vom 29.03.2006 – Az.: L 11 B 19/05 KR ER).
Mit Urteil von 15.06.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Kostenübernahme angesichts der fehlenden Zulassung nicht in Betracht komme. Ein Fall des "Off-Label-Use" sei nicht gegeben, da Captagon weder in Deutschland noch EU-weit zugelassen sei. Die Beklagte sei auch unter dem Gesichtspunkt des "Seltenheitsfalls" nicht zur Kostenübernahme verpflichtet. Da zur Behandlung der Narkolepsie zugelassene Arzneimittel existierten, sei davon auszugehen, dass durch kontrollierte Studien ein Wirksamkeitsnachweis geführt werden könne. Auch die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 06.12.2005 aufgestellten Voraussetzungen seien nicht erfüllt.
Gegen das ihr am 20.08.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19.09.2008 Berufung erhoben. Sie hält daran fest, dass ein Anspruch auf Kostenübernahme gegen die Beklagte besteht.
Die Klägerin beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen entsprechend,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.06.2007 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2005 zu verurteilen, die Kosten für die Versorgung mit dem Arzneimittel Captagon auf Basis vertragsärztlicher Verordnungen zu übernehmen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 21.08.2008 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt.
Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter, nachdem sich die Beteiligten im Erörterungstermin am 21.08.2008 übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend abgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Kostenübernahme für das Arzneimittel Captagon. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 18.01.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2005 ist rechtmäßig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Captagon gehört nicht zu den Leistungen, die die Krankenkassen den Versicherten als Sachleistung zu erbringen haben. Captagon ist als Fertigarzneimittel weder in Deutschland noch EU-weit zugelassen (§ 21 Abs. 1 AMG). Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (BSG, Urteil vom 27.03.2007 – Az.: B 1 KR 30/06 R, sozialgerichtsbarkeit.de, m.w.N.). Die bestehende Arzneimittelzulassung in Belgien entfaltet nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für die Bundesrepublik Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechendes – vom Hersteller eingeleitetes und positiv beschiedenes – Antragsverfahren vor.
Der geltend gemachte Anspruch besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt der zulassungsüberschreitenden Anwendung ("Off-Label-Use"). Voraussetzung hierfür ist u.a., dass überhaupt eine Zulassung des streitigen Arzneimittels in der Bundesrepublik oder EU-weit besteht. Daran fehlt es jedoch.
Eine Verordnungsfähigkeit von Captagon kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt des sog. "Seltenheitsfalls" in Betracht. Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, sind vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der Gemeinsame Bundesausschuss dafür keine Empfehlung abgegeben hat oder weil das dabei verwendete Arzneimittel nicht in Deutschland oder EU-weit zugelassen ist und daher im Einzelfall eine Beschaffung aus dem Ausland erforderlich ist (BSG, Urteil vom 19.10.2004 – Az.: B 1 KR 27/02 KR, sozialgerichtsbarkeit.de – Visudyne). Bei einer Narkolepsie mag es sich zwar um eine seltene und auch die Lebensqualität der Klägerin nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung i.S.d. vorbezeichneten Rechtsprechung des BSG handeln. Das SG hat jedoch zutreffend darauf abgestellt, dass für Ritalin und Vigil arzneimittelrechtliche Zulassungen zur Behandlung der Narkolepsie bestehen und daraus die zutreffende Schlussfolgerung gezogen, dass kontrollierte Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit durchgeführt werden können. Auch die im Frühjahr 2007 erteilte Zulassung des Arzneimittels Xyrem zur Behandlung der Narkolepsie belegt, dass aussagekräftige Studien möglich sind.
Ein für die Klägerin günstiges Ergebnis ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Ausführungen des BVerfG in dem Beschluss vom 06.12.2005 (Az.: 1 BvR 347/98,bundesverfassungsgericht.de). Danach besteht die Möglichkeit, unter verfassungskonformer Auslegung derjenigen Regelungen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen, zu einer Verordnungsfähigkeit zu gelangen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt, eine andere Therapie nicht verfügbar ist (Alternativlosigkeit der konkreten Behandlung) und eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nicht erforderlich ist, dass bereits das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht ist. Eine Krankheit ist vielmehr auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren, wenn sie "erst" in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt (BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007 – Az.: 1 BvR 3101/06, bundesverfassungsgericht.de). Ausreichend für den Anspruch auf Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung ist demgegenüber nicht, dass sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu realisieren droht (BSG, Urteil vom 27.03.2007, a.a.O.).
Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass die Narkolepsie in absehbarer Zeit für die Klägerin einen tödlichen Verlauf nimmt, sind nicht erkennbar. Die im Erörterungstermin angesprochene "Leitlinie Narkolepsie" der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Letzte Überarbeitung: Oktober 2005) geht zwar davon aus, dass es sich bei der Narkolepsie um eine lebenslang andauernde Erkrankung handelt, diese jedoch nicht mit einer erhöhten Mortalität einhergeht. Auch kann die Narkolepsie wertungsmäßig nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden, wie dies das BSG etwa für den Fall akut drohender Erblindung erwogen hat (vgl. Urteil vom 04.04.2006 – Az.: B 1 KR 12/04 R, sozialgerichtsbarkeit.de). Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Klägerin auch vor dem Hintergrund der mit der gegenwärtigen Medikation (Ritalin und Vigil) verbundenen Nebenwirkungen nicht gänzlich unversorgt ist.
Die von der Klägerin schriftsätzlich im erstinstanzlichen Verfahren angedeutete, wenn auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG nicht ausdrücklich beantragte Kostenerstattung kommt ebenfalls nicht in Betracht. Denn nach der allein möglichen Anspruchsgrundlage des § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative SGB V muss es sich um eine Leistung handeln, die ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, die die gesetzlichen Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen haben. Dies ist jedoch – wie aufgezeigt – nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).
Erstellt am: 28.08.2008
Zuletzt verändert am: 28.08.2008