Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 117.823,73 EUR zu zahlen. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten gestützt auf § 104 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Erstattung von Kosten, die sie in der Zeit vom 01.07.2009 bis einschließlich zum 31.12.2010 im Hilfefall des XXX (fortan: Hilfeempfänger) als Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform nach §§ 24, 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) aufgewandt hat.
Der am 25.02.1998 geborene Hilfeempfänger ist hochgradig schwerhörig. Er ist auf der rechten Seite mit einem Cochlea-Implantat versorgt. Infolge der ausgeprägten Schwerhörigkeit besteht eine allgemeine Sprach- und Entwicklungsstörung. Seit November 1999 erhält er Leistungen nach dem Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG). Mit Bescheid vom 18.02.2000 wurde beim Hilfeempfänger ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche G, B, H und RF festgestellt. Nach erheblichen Konflikten zwischen den geschiedenen Eltern des Hilfeempfängers untereinander und mit dem Hilfeempfänger gewährte die Klägerin dem Hilfeempfänger auf Antrag der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern vom 30.06.2009 seit dem 01.07.2009 Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform nach §§ 27, 34 SGB VIII durch Unterbringung in der Wohngruppe für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche des XXX in XXX, wo er seitdem auch die Förderschulde für Hören und Kommunikation besucht. Die Hilfe wird seit dem 01.07.2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen und ohne Unterbrechung gewährt.
Mit dem am 15.09.2012 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben vom 14.09.2012 bat die Klägerin den Beklagten, den Hilfefall in seine Zuständigkeit zu übernehmen und ihren auf § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützten Anspruch auf Kostenerstattung hinsichtlich der bisher gewährten Hilfe anzuerkennen. Die Klägerin habe als gegenüber dem Beklagten nachrangig verpflichteter Leistungsträger Leistungen erbracht. Denn sowohl die Klägerin als zuständiger Jugendhilfeträger nach Maßgabe der §§ 27, 34 SGB VIII als auch der Beklagte als im konkreten Fall für die Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) zuständiger Sozialhilfeträger nach Maßgabe der §§ 53, 54 SGB XII seien gegenüber dem Hilfeempfänger leistungspflichtig. Da die nach dem SGB VIII und SGB XII zu erbringenden Leistungen deckungsgleich seien, ergebe sich der Vorrang der Leistungspflichten des Beklagten gegenüber dem i.S.v. § 1 Nr. 5 Eingliederungshilfeverordnung körperlich behinderten Hilfeempfänger aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII und begründe den geltend gemachten Anspruch auf Fallübernahme und Kostenerstattung.
Nachdem die Klägerin dem Beklagten auf seinen Wunsch hin weitere Unterlagen zum Hilfefall übersandt hatte – u.a. die letzten drei Hilfepläne, den Antrag auf Hilfe sowie das Schulzeugnis des Hilfeempfängers vom 06.07.2012 – erklärte der Beklagte sich im Schriftsatz vom 14.11.2013 bereit, den Hilfefall ab dem 01.01.2014 in eigener Zuständigkeit zu übernehmen und erkannte einen Erstattungsanspruch der Klägerin für den Zeitraum ab dem 15.09.2012 an.
Mit Schriftsatz vom 26.11.2013 machte die Klägerin geltend, auch für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 14.09.2012 erstattungsberechtigt zu sein. Insbesondere sei die Ausschlussfrist des § 111 SGB X gewahrt, da eine laufende Jugendhilfeleistung diese Frist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) nicht in Gang setzen könne. Da der Erstattungsanspruch für das Jahr 2009 zum 31.12.2013 zu verjähren drohe, bat die Klägerin bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage hinsichtlich des vor dem 15.09.2012 liegenden Zeitraums um einen Verzicht auf die Einrede der Verjährung durch den Beklagten. Mit Schriftsatz vom 12.12.2013 teilte der Beklagte mit, dass er auf die Einrede der Verjährung verzichte.
Die Klägerin bezifferte die Kosten für den Hilfefall im Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2013 mit Schriftsatz vom 02.10.2014 auf insgesamt EUR 311.407,67.
Unter dem 21.10.2014 teilte der Beklagte mit, dass der Lauf der Ausschlussfrist aus § 111 SGB X seiner Auffassung nach entsprechend des zeitabschnittsweisen Entstehens des Erstattungsanspruchs und damit nach Ablauf eines jeden (monatlichen) Leistungsabschnitts und nicht erst nach Ablauf der Gesamtmaßnahme (des Jugendamtes) beginne. Dementsprechend könnten Kostenerstattungsansprüche zwölf Monate rückwirkend ab Eingang des Kostenerstattungsbegehrens anerkannt werden. Dem Erstattungsanspruch der Klägerin werde somit ab dem 01.09.2011 entsprochen und ein Betrag von EUR 156.849,26 zur Zahlung angewiesen.
Die Klägerin teilte mit Schriftsatz vom 30.10.2014 mit, dass sie die Ansicht einer monatsweisen Entstehung eines Erstattungsanspruchs aufgrund des Urteils des BVerwG vom 19.08.2010 (5 C 14.09) für überholt halte. Nach Auffassung des BVerwG beginne die Frist des § 111 SGB X nicht zu laufen, wenn der Erstattungsanspruch während der laufenden Hilfegewährung angemeldet werde. In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung lasse das Gericht deshalb jede innerhalb der Frist des § 111 Satz 1 SGB X erfolgende Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der (Gesamt-)Leistung ausreichen und gehe davon aus, dass die Ausschlussfrist im Zweifel erst mit dem Ende der Gesamtleistung zu laufen beginne. Eine andere Bewertung würde der Besonderheit des Jugendhilferechts nicht gerecht, da Jugendhilfe in den seltensten Fällen auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt, also zeitabschnittsweise gewährt werde, sondern sich allein an der andauernden Notwendigkeit der Maßnahme orientiere. Folge man einer anderen Ansicht, stelle sich die Frage, an welchen Zeitabschnitt für den Beginn der Ausschlussfrist bei zeitlich unbegrenzt bewilligten Hilfemaßnahmen anzuknüpfen sei. Insoweit an die Abrechnungen der Anbieter anzuknüpfen, erscheine ungeeignet, da die Abrechnungsintervalle anbieterabhängig seien und teilweise monatlich, teilweise aber auch nur quartalsweise oder sogar nur jährlich abgerechnet würden. Überdies laufe der Jugendhilfeträger dann Gefahr, auf den Kosten etwa im Säuglingsalter beginnender Hilfen sitzenzubleiben, wenn das Vorliegen einer Behinderung sich erst im späteren Verlauf des Hilfefalls herausstelle. Dabei werde dem Zweck des § 111 SGB X auch ausreichend Rechnung getragen, selbst wenn der Erstattungsanspruch erst innerhalb eines Jahres nach Ende der Hilfeleistung gestellt würde. Denn der Erstattungsanspruch werde zusätzlich durch die Verjährungsvorschrift des § 113 SGB X begrenzt. Zur Unterstützung ihrer Argumentation übersandte die Klägerin unter dem 19.11.2014 ein von ihr erstrittenes Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Arnsberg vom 17.11.2014 (11 K 4180/13). Eine Reaktion des Beklagten folgte nicht mehr.
Am 18.12.2014 hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung wiederholt sie die bisher außergerichtlich gegenüber dem Beklagten angebrachten Argumente und weist darauf hin, dass die Klageerhebung im Hinblick auf die drohende Verjährung ihrer mit der Klage geltend gemachten Erstattungsansprüche die Jahre 2009 und 2010 betreffend geboten sei.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilten, an sie EUR 117.823,73 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist weiterhin der Auffassung, dass Erstattungsansprüche der Klägerin aus der Zeit vor dem 01.09.2011 nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen seien. Da die Klägerin mit Schreiben von 14.09.2012 erstmals Erstattungsansprüche angemeldet habe, seien gem. § 111 SGB X alle etwaigen Ansprüche vor dem 01.09.2011 ausgeschlossen. Sofern die Klägerin sich zur Begründung ihrer Klage auf Urteile des BVerwG und des VG Arnsberg stütze, so beträfen diese Urteile Erstattungsverfahren zwischen Trägern der Jugendhilfe und fänden daher in Fällen trägerübergreifender Erstattungsverfahren keine Anwendung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I. Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf Erstattung der in dem Hilfefall Marius Krasny in der Zeit vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 aufgewandten Kosten in Höhe von EUR 117.823,73.
Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfüllt sind und der Klägerin damit gegen den Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der für den Hilfebedürftigen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform (§§ 27, 34 SGB VIII) aufgewandten Kosten dem Grunde nach zustehen kann. Denn es bestehen hier die Leistungspflichten der Klägerin aus §§ 27, 34 SGB VIII (Hilfe zur Erziehung) und der Beklagten aus §§ 53, 54 SGB XII (Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) nebeneinander, und die Leistungspflicht des Beklagten gegenüber dem i.S.v. § 1 Nr. 5 Eingliederungshilfeverordnung körperlich behinderten Hilfeempfänger überschneidet sich mit der entsprechenden Leistungspflicht der Klägerin und geht ihr deshalb gem. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vor (vgl. BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R –, juris-Rn 26; BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 – 5 C 3/11 –, juris-Rn 31). Streitig und zu entscheiden ist allein über die Frage, ob der geltend gemachte Erstattungsanspruch gem. § 111 SGB X ausgeschlossen ist.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Erstattung ist zur Überzeugung der Kammer nicht gem. § 111 SGB X ausgeschlossen ist. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der nach Satz 1 bestehenden zwölfmonatigen Geltendmachungsfrist beginnt nach Satz 2 der Vorschrift frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt.
1. Der Fristbeginn richtet sich im vorliegenden Fall allein nach § 111 Satz 1 SGB X und nicht nach dem – im Verhältnis zu § 111 Satz 1 SGB X als Ausnahmevorschrift zu wertenden (Kater, in KassKomm, 84. Erg.Lfg. Dezember 2014, § 111 Rn 25 m.w.N.) – § 111 Satz 2 SGB X. Eine Kenntnisnahme von der – gegenüber der leistungsberechtigten Person zu treffenden – "Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht" i.S.v. § 111 Satz 2 SGB X scheidet jedoch aus und § 111 Satz 2 SGB X ist deshalb nicht anzuwenden, wenn der erstattungspflichtige Leistungsträger eine Entscheidung über Leistungen, wie sie der erstattungsberechtigte Leistungsträger bereits erbracht hat, überhaupt nicht mehr treffen kann und darf (BSG, Urteil vom 10.05.2005 – B 1 KR 20/04 R –, juris-Rn 16; LSG NRW Urteil vom 04. Juni 2012 – L 20 AY 8/10 –, juris-Rn 66 m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall, weil der Anspruch des Hilfebedürftigen gegenüber dem Beklagten gem. § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gilt und deshalb auch keine dem Anspruch entsprechende Leistungspflicht des Beklagten mehr besteht, über die eine sachliche Entscheidung des Beklagten im Verhältnis zum Hilfeempfänger ergehen könnte (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2007 – B 10 KR 1/05 R –, juris-Rn 16; Kater, aaO., § 111 Rn 15 m.w.N.).
2. Die Klägerin hat den streitgegenständlichen Erstattungsanspruch die Zeit vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 betreffend auch innerhalb der materiellen Ausschlussfrist (vgl. von Wulffen, in: ders., SGB X-Kommentar, 6. Auflage 2008, § 111 Rn 8 m.w.N.). des § 111 Satz 1 SGB X geltend gemacht. Denn jedenfalls für den hier streitgegenständlichen Fall, dass ein nachrangig leistungspflichtiger Jugendhilfeträger von einem wegen § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorrangig leistungspflichtigen Sozialhilfeträger Kostenerstattung nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt, ist die Leistung im Sinne von § 111 Satz 1 SGB X nach dem Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts zu bestimmen. Danach sind die von der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum gewährten Leistungen der Hilfe zur Erziehung als einheitliche jugendhilferechtliche Leistung zu werten und genügt es für das fristgerechte Geltendmachen dieser (Gesamt-)Leistung, dass die Klägerin ihren Erstattungsanspruch mit Schreiben vom 14.09.2012 und damit während der laufenden Hilfe zur Erziehung geltend gemacht hat.
a) Es gibt keine eigenständige Definition des Begriffs der Leistung im Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) und im SGB X, auf die im Rahmen des § 111 SGB X zurückgegriffen werden könnte. § 111 Satz 1 SGB X nimmt vielmehr Bezug auf die Leistung und den Leistungsbegriff des jeweiligen Sozialleistungsbereichs, in dem der geltend zu machende Anspruch auf Kostenerstattung im Einzelfall seine Rechtsgrundlage findet (BVerwG, Urteil vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 –, juris-Rn 18; Becker, in: Hauck/Noftz, SGB X-Kommentar, Lfg. 3/13 Dezember 2013, § 111 Rn 24). Dabei sind nach Auffassung der Kammer ergänzend der jeweils einschlägige Erstattungsanspruch und die den Erstattungsanspruch begründenden Umstände bzw. Regelungen der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs in den Blick zu nehmen. Denn nur so kann der Entscheidung des materiellen Sozialrechts über die endgültige Kostentragung im Wege der Kostenerstattung angemessen Geltung verschafft werden.
Auf dieser Grundlage ist vorliegend der Leistungsbegriff des Jugendhilferechts maßgeblich, wie das BVerwG ihn in seinem Urteil vom 29.01.2004 (5 C 9/03, juris-Rn 18) herausgearbeitet und in seinem Urteil vom 19.08.2010 (5 C 14/09, juris-Rn 18 ff.) in einem Erstattungsstreit zwischen Jugendhilfeträgern im Rahmen des § 111 Satz 1 SGB X angewandt hat. Denn zur Überzeugung der Kammer ist jedenfalls bei Erstattungsansprüchen nach § 104 SGB X auf den Leistungsbegriff i.S.d. Rechts des erstattungsberechtigten Trägers abzustellen.
Schon ganz allgemein lässt sich der "letzte Tag, für den die Leistung erbracht wurde" (§ 111 Satz 1 SGB X), nur der Entscheidung des erstattungsberechtigten Trägers gegenüber dem Leistungsberechtigten selbst entnehmen, so dass es insoweit auch auf den in diesem Verhältnis maßgeblichen Leistungsbegriff ankommen muss (vgl. Böttiger, LPK-SGB X, 3. Auflage 2010, § 111 Rn 27 und Kater, aaO., § 111 SGB X Rn 34, die zur Bestimmung des Zeitraums, für den die Leistung erbracht wurde, das materielle Recht des erstattungsberechtigten Trägers für maßgeblich halten). Bezogen speziell auf Erstattungsansprüche nach § 104 SGB X folgt dies darüber hinaus auch aus dessen Abs. 3. Wenn dieser bestimmt, dass sich (nur) der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften richtet, muss im Umkehrschluss für die rechtliche Bewertung des Anspruchs im Übrigen – d.h. auch für den in diesem Rahmen zu prüfenden § 111 SGB X – auf das für den erstattungsberechtigten Leistungsträger geltende Recht abgestellt werden. So entspricht es etwa allgemeiner Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit der Leistung als Voraussetzung für den Erstattungsanspruch am Recht des erstattungsberechtigten Trägers zu messen ist (vgl. nur Pattar in: jurisPK-SGB X, § 104 Rn 21 m.w.N.). Speziell im Rahmen eines auf § 104 SGB X gestützten Erstattungsanspruchs eines Jugendhilfeträgers gegen einen Sozialhilfeträger verhilft schließlich nur diese Auslegung – d.h. die Anwendung des für den Jugendhilfeträger maßgeblichen Leistungsbegriffs – dem Zweck des die vorrangige Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers begründenden § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII auch auf der Ebene der Kostenerstattung zur Geltung. Diese Norm ordnet gerade auch vor dem Hintergrund der mit der Durchführung der Eingliederungshilfe erforderlichen Spezialisierung und der dazu nötigen und bei den zuständigen Sozialhilfeträgern vermuteten Finanzausstattung zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten umfassend und nur anhand des rein formalen Kriteriums der Gleichartigkeit / Überschneidung der Leistungspflichten die vorrangige Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers für die Erbringung von Eingliederungshilfe an (BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 – 5 C 6/11 –, juris-Rn 18 ff.; in diese Richtung auch LSG NRW, Urteil vom 28.01.2013 – L 20 SO 170/11 –, juris-Rn 63). Der von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gewollte Vorrang der Eingliederungshilfe mit seiner die Jugendhilfeträger (auch) finanziell entlastenden Wirkung kann aber über die Kostenerstattung rückwirkend nur dann angemessen realisiert werden, wenn auf den (weiten, vgl. unten) Leistungsbegriff abgestellt wird, der für die Jugendhilfeträger maßgeblich ist.
Die Frage, ob zwischen dem jugendhilferechtlichen und sozialhilfe- bzw. eingliederungshilferechtlichen Leistungsbegriff überhaupt ein Unterschied besteht (verneinenden VG Bayreuth, Urteil vom 16.03.2015 – B 3 K 13.619 –, juris-Rn 67 in einem Rechtsstreit, indem das VG aufgrund von § 17a Abs. 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz -GVG- über einen Erstattungsanspruch eines Jugendhilfeträgers gegenüber einem Sozialhilfeträger zu entscheiden hatte), kann wegen der Anwendbarkeit des jugendhilferechtlichen Leistungsbegriffs vorliegend dahinstehen.
b) Auf Grundlage des jugendhilferechtlichen Leistungsbegriffs ist die dem Hilfeempfänger durch die Beklagte seit dem 01.07.2009 gewährte Hilfe als eine einzige (Gesamt-)Leistung zu werten. Denn eine jugendhilferechtliche Leistung ist anhand einer bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zu bestimmen und alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen bilden eine einheitliche Leistung, zumal wenn sie im Einzelfall nahtlos aneinander anschließen, also ohne beachtliche zeitliche Unterbrechung gewährt werden (BVerwG, Urteile vom 29.01.2004 – 5 C 9/03 –, juris-Rn 18 und vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 –, juris-Rn 18 ff.). Dem Hilfeempfänger wurde seit dem 01.07.2009 durch die Klägerin ohne Unterbrechung Hilfe zur Erziehung gewährt und die Jugendhilfe durch seine Unterbringung in ein und derselben Jugendhilfeeinrichtung erbracht. Die Hilfe unterlag inhaltlich allenfalls marginalen Veränderungen, hatte jedoch – wie sich vor allem aus den Protokollen über die Hilfeplanfortschreibungen ergibt – kontinuierlich dieselbe Stoßrichtung im Hinblick auf die behinderungsbedingten und erzieherischen Defizite und Bedarfe des Hilfeempfängers.
c) Die Klägerin hat ihren Erstattungsanspruch mit Schriftsatz vom 14.09.2012 in inhaltlicher wie in zeitlicher Hinsicht im Einklang mit § 111 Satz 1 SGB X geltend gemacht.
Das Geltendmachen im Sinne der Vorschrift ist die außerhalb eines förmlichen Verfahrens abgegebene empfangsbedürftige Erklärung mit dem erkennbaren Willen der Rechtssicherung für ein ausreichend konkretes Erstattungsbegehren, an die keine überzogenen formalen oder inhaltlichen Anforderungen gestellt werden dürfen (Mutschler, aaO., § 111 Rn 16 m.w.N.). Die inhaltlichen Anforderungen bestimmen sich dabei nach dem Zweck des § 111 SGB X, möglichst rasch klare Verhältnisse darüber zu schaffen, ob eine Erstattungspflicht besteht. Aus diesem Grund erfordert das Geltendmachen ein unbedingtes Einfordern der Leistung, ohne dass stets ein Darlegen des Erstattungsanspruchs in allen Einzelheiten erforderlich wäre. Es genügt vielmehr regelmäßig, dass die Umstände, die im Einzelfall für die Entstehung des Erstattungsanspruchs maßgeblich sind, und insbesondere der Zeitraum, für den die Leistung erbracht wurde, hinreichend konkret mitgeteilt werden (vgl. ausführlich BSG, Urteil vom 22.08.2000 – B 2 U 24/99 R –, juris-Rn 17 ff. und BVerwG, Urteil vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 –, juris-Rn 22 jeweils m.w.N.). Diesen inhaltlichen Anforderungen wird der Schriftsatz der Klägerin vom 14.09.2012 zur Überzeugung der Kammer ohne Weiteres gerecht. Darin ist ausgeführt, für welchen konkreten Hilfefall, für welche Leistungen und ab welchem Zeitpunkt Kostenerstattung gefordert wird und warum die Klägerin von einer Zuständigkeit der Beklagten für Hilfefall und Kostenerstattung ausgeht.
In zeitlicher Hinsicht muss das Geltendmachen gem. § 111 Satz 1 SGB X "spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde" erfolgen. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch den am 15.09.2012 bei dem Beklagten eingegangenen Schriftsatz der Klägerin vom 14.09.2012 erfolgte noch während der Erbringung der Gesamtleistung, damit sogar – zulässigerweise (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.02.2013 – OVG 9 B 58.11 –, juris-Rn 18) – vor Beginn des Fristlaufs und im Hinblick auf den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 rechtzeitig. Für das fristgerechte Geltendmachen eines Kostenerstattungsanspruchs für eine unter Bedarfsgesichtspunkten als eine Einheit zu wertende Jugendhilfemaßnahme ist nämlich eine bedarfsorientierte Gesamtbetrachtung zugrunde zu legen. Danach kommt es nicht darauf an, ob die Kosten für die Maßnahme von einem Dritten gegebenenfalls zeitabschnittsweise in Rechnung gestellt und beglichen werden. Vielmehr genügt zur Wahrung der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Maßnahmen und Hilfen, die jugendhilferechtlich als eine Leistung zu werten sind, jede während der laufenden Hilfe oder innerhalb der Frist des § 111 Satz 1 SGB X erfolgende Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der (Gesamt-)Leistung (BVerwG, Urteil vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 –, juris-Rn 17 und 22; VG Arnsberg, Urteil vom 17.11.2014 – 11 K 4180/13; VG Bayreuth, Urteil vom 16. März 2015 – B 3 K 13.619 –, juris-Rn 64 ff.; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2014, 199; Häußler, DVBl 2013, 1001, 1007).
Zum Teil wird zwar trotz Anwendbarkeit des jugendhilferechtlichen (Gesamt-)Leistungsbegriffs und der diesbezüglichen Ausführungen des BVerwG im Rahmen von § 111 Satz 1 SGB X an einem zeitabschnittsweisen Beginn der Ausschlussfrist nach Ablauf einzelner, in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des Abrechungsverhältnisses zwischen Jugendhilfeträger und Leistungserbringer zu bestimmender Teilzeiträume festgehalten (BayVGH, Beschluss vom 07.01.2014 – 12 ZB 13.2512; VG Regensburg, Urteil vom 24.10.2013 – RO 7 K 13.218; VG Augsburg, Urteil vom 27.01.2015 – Au 3 K 14.1617; VG Aachen, Urteil vom 20.11.2014 – 1 K 2893/12; VG Berlin; Urteil vom 18.03.2015 – VG 18 K 553.14; Ziegler, JAmt 2014, 222, 223; allgemein zur Anknüpfung des Fristbeginns an die Entstehung von Kosten beim erstattungsberechtigten Träger vgl. auch BSG, Urteil vom 22.08.2000 – B 2 U 24/99 R –, juris m.w.N.). Diese Auffassung stützt sich inhaltlich maßgeblich darauf, dass die hier im Anschluss an das BVerwG vertretene Auslegung des § 111 Satz 1 SGB X mit dem Zweck der Norm nicht vereinbar sei (BayVGH, Beschluss vom 07.01.2014 – 12 ZB 13.2512 –, juris-Rn 4 f.; VG Regensburg, Urteil vom 24.10.2013 – RO 7 K 13.218 –, juris-Rn 17). § 111 SGB X wolle erreichen, dass Erstattungsansprüche zeitnah geltend gemacht werden müssen, damit der Erstattungspflichtige bereits kurze Zeit nach der Leistungserbringung wisse, welche Ansprüche auf ihn zukommen und welche Rückstellungen er ggf. bilden muss. Der so dargestellte Normzweck greift jedoch zu kurz. Zwar wird insoweit zutreffend die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers bei der Schaffung der Ausschlussfrist in § 111 SGB X wiedergegeben (vgl. BT-Drs. 9/95, S. 26 zu § 117 des Entwurfs). Mit hinreichender Deutlichkeit ist jedoch sowohl dem Wortlaut des § 111 Satz 2 SGB X als auch der Gesetzesbegründung zum 4. Euro-Einführungs-Gesetz zu entnehmen, dass der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 111 Satz 2 SGB X die – gegenüber dem bisherigen Rechtszustand – weitergehende Geltendmachung von Erstattungsansprüchen ermöglichen wollte und damit dem Ziel materieller (Ausgleichs-)Gerechtigkeit mehr Gewicht, wenn nicht gar den grundsätzlichen Vorrang vor der schnellen Klarstellung der Verhältnisse eingeräumt hat (BSG, Urteil vom 10.05.2005 – B 1 KR 20/04 R –, juris-Rn 20 m.w.N.). Insofern greift die allein auf den (ursprünglichen) Zweck des § 111 SGB X gestützte Argumentation für einen zeitabschnittsweisen Fristbeginn nicht durch. Daneben weist die Klägerin zurecht darauf hin, dass Jugendhilfe in den seltensten Fällen zeitabschnittsweise gewährt wird und ein deshalb – hilfsweise notwendiges – Abstellen auf den Zeitpunkt der Abrechnung zwischen Jugendhilfeträger und Leistungserbringer die Kostenerstattung letztlich von Zufälligkeiten abhängig macht (vgl. auch Mutschler, aaO., § 111 Rn 30, der anhand eines Beispiels die praktischen Probleme der Auffassung des BayVGH erläutert). Schließlich trägt auch die Befürchtung, dass sich bei Annahme einer (Gesamt-)Leistung Hilfe zur Erziehung mit anschließender Hilfe für junge Volljährige im Extremfall ein Leistungszeitraum von 27 Jahren ergeben könnte und erst nach Ablauf dieses Zeitraums die Ausschlussfrist von 12 Monaten beginnen würde im Ergebnis nicht. Denn durch die Verjährung gem. § 113 SGB X wird ein unzumutbares Ausufern des Erstattungsanspruchs verhindert (DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2014, 199). Da § 113 SGB X – anders als § 111 SGB X – nicht an den Leistungsbegriff, sondern – jedenfalls dann, wenn keine Entscheidung über die Leistungspflicht durch den erstattungspflichtigen Leistungsträger ergeht (Böttiger, aaO., § 113 Rn 9) – an die Entstehung des Erstattungsanspruchs anknüpft, bleibt hier eine "zeitabschnittsweise" Verjährung des Erstattungsanspruchs möglich.
3. Die Klageforderung ist auch nicht gem. § 113 SGB X verjährt. Der Beklagte hat jedenfalls hinsichtlich der das Jahr 2009 betreffenden Erstattungsforderung durch Schriftsatz vom 12.12.2013 auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Ob der Verzicht des Beklagten auf die Verjährungseinrede auch die das Jahr 2010 betreffende Erstattungsforderung betrifft, kann vorliegend dahinstehen, weil insoweit jedenfalls durch Klageerhebung am 18.12.2014 Ablaufhemmung eingetreten ist (§ 113 Abs. 2 SGB X i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 1, § 209 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-).
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte als unterliegender Beteiligter (§197a Sozialgerichtsgesetz -SGG- in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Das Verfahren unterfällt dem Regelungsbereich des § 197a SGG, weil weder die Klägerin noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen gehören.
Erstellt am: 24.06.2015
Zuletzt verändert am: 24.06.2015