Rev. mit Urteil zurückgewiesen
Auf die Berufung des Beklagten wird der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 16.06.2015 klarstellend neu gefasst: Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die in Sachen L im Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 108.473,72 EUR zu erstatten. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Beklagte zu neun Zehnteln und die Klägerin zu einem Zehntel. Die Revision wird zugelassen. Der Streitwert wird für das Klageverfahren und für das Berufungsverfahren jeweils auf 117.823,73 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin als Jugendhilfeträger vom beklagten Landschaftsverband die Erstattung von Leistungen i.H.v. 108.473,72 EUR verlangen kann, die sie im Zeitraum vom 01.07.2009 bis 31.12.2010 für die Unterbringung des L aufgewandt hat.
Der am 00.00.1998 geborene L (im Folgenden: Leistungsberechtigter) leidet seit frühester Kindheit unter hochgradiger Schwerhörigkeit. Seit dem 20.10.1999 sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 wegen Taubheit sowie die Merkzeichen G, B, H und RF festgestellt (Bescheid des Versorgungsamtes T vom 18.02.2000), außerdem wurden ihm durch die Beklagte Hilfen für Gehörlose nach dem nordrhein-westfälischen Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG) gewährt (Bescheid vom 01.03.2000). Inzwischen ist er rechts mit einem Cochlea-Implantat versorgt. Zur Kommunikation bedient er sich der Gebärdensprache.
Die Eltern des Leistungsberechtigten sind seit Jahren geschieden, üben jedoch das Sorgerecht gemeinsam aus. Zwischen ihnen bestanden nach der Trennung erhebliche Spannungen, so dass eine Kommunikation nicht mehr stattfand. Von der Klägerin wurden aus diesem Grunde schon 2007/2008 ambulante Beratungen zu Fragen der Erziehung und zur Vermittlung der Gesprächsbereitschaft zwischen den Eltern durchgeführt. Der Leistungsberechtigte besuchte ab 2004 zunächst die Schwerhörigenschule in C und wechselte dann auf ein Internat in E, wo er in der Woche wohnte; am Wochenende hielt er sich bei seiner Mutter in J auf, wo auch weiterhin sein Wohnsitz war. Diese Gesamtsituation führte ab ca. 2008 dazu, dass insbesondere zwischen dem Leistungsberechtigten und seiner Mutter erhebliche Schwierigkeiten entstanden, bei denen es auch zu Polizeieinsätzen kam. Da ein Umzug zum Vater nicht möglich war, kam man bei der Beklagten nach interner Beurteilung im Mai 2009 zu dem Ergebnis, der Leistungsberechtigte solle in einer Wohngruppe untergebracht werden, damit er nicht mehr jedes Wochenende bei einem Elternteil sein müsse. Außerdem seien die Umgangskontakte zu begleiten, um die Möglichkeit massiver Beeinflussung durch die Eltern zu vermeiden. Die Eltern beantragten hierauf am 30.06.2009 bei der Klägerin Leistungen der Jugendhilfe.
Am 01.07.2009 wurde der Leistungsberechtigte in der in Trägerschaft des Beklagten stehenden Westfälischen Wohngruppe und Internat N aufgenommen, in der behinderte Kinder und Jugendliche betreut werden, die einer Betreuung außerhalb der Familie und ihres bisherigen Umfeldes bedürfen. Der fachliche Schwerpunkt liegt dabei in der Betreuung hörbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher. Die Klägerin erteilte der Einrichtung mit Schreiben vom 09.07.2009 eine bis auf Weiteres geltende Kostenzusage; dabei wurde der tägliche Entgeltsatz von 149,66 EUR zugrunde gelegt, der in der Leistungsvereinbarung nach § 78b SGB VIII vom 28.01.2009 zwischen dem Beklagten als Schulträger und dem Jugendamt der Stadt N geregelt war, sowie als Nebenkosten eine Bekleidungspauschale (täglich 1,23 EUR bis Vollendung des 14. Lebensjahres bzw. 1,34 EUR für Jugendliche) und Taschengeld (26,50 EUR im 12. Lebensjahr bzw. 30,90 EUR im 13. Lebensjahr). Mit Schreiben vom 01.06.2010 wurde die Kostenzusage bis zum 30.09.2010 verlängert, mit Schreiben vom 29.09.2011 bis zum 30.11.2009 und mit Schreiben vom 30.12.2010 bis zum 31.03.2011. Auch für die Folgezeit, in der der Leistungsberechtigte weiter in der Wohngruppe verblieb, wurden seitens der Klägerin Kostenzusagen gegeben. Die Klägerin erhielt seit August 2009 einen monatlichen Kostenbeitrag des Vaters i.H.v. 275,00 EUR, von dem sie in einzelnen Monaten Teilbeträge in dem Verhältnis zurückerstattete, wie sich der Leistungsberechtigter – etwa in den Schulferien – bei dem Vater aufgehalten hatte. Ab Februar 2011 wurde auch das Kindergeld i.H.v. 184,00 EUR direkt an die Klägerin ausgezahlt. Die monatlich erstellten Rechnungen des Schulträgers wurden von der Klägerin ebenso beglichen wie die monatlichen Rechnungen des eingesetzten Dolmetschers für Gebärdensprache.
Regelmäßig fanden Hilfeplangespräche unter Beteiligung der Eltern, der Schule und des Jugendamtes der Klägerin statt. In den hierzu erstellten Berichten wurde ausgeführt, dass beim Leistungsberechtigten – bedingt durch seine hochgradige Schwerhörigkeit – eine allgemeine Entwicklungs- und Sprachentwicklungsstörung bestehe, die zu einem hohen Förder- und Betreuungsbedarf führe. Nach schwieriger Eingewöhnung zeige der Leistungsberechtigte zwar eine positive Entwicklung, habe aber immer wieder Probleme bei der Integration in die Gruppe; auch sein Sozialverhalten sei manchmal nicht angemessen. Es bestehe Übereinstimmung darin, dass die Unterbringung in der Einrichtung fortgeführt werden solle. In der Wohngruppe habe er einen optimalen Förderplatz gefunden. Bereits im ersten Hilfeplangespräch vom 08.02.2010 wurde vermerkt, dass der Leistungsberechtigte wahrscheinlich bis zum 18. Lebensjahr, wenn nicht auch darüber hinaus, auf diese Hilfeform angewiesen sein werde; auch in den darauffolgenden Hilfeplangesprächen gingen die daran Beteiligten von einer langfristigen Hilfe bzw. einem zeitlichen Rahmen zumindest bis zur Volljährigkeit aus (Protokolle der Hilfeplangespräche vom 07.12.2010, 14.04.2011 und 24.01.2012).
Mit Schreiben vom 14.09.2012 (Eingang beim Beklagten am 15.09.2012) bat die Klägerin den Beklagten um die Übernahme des Falles und um Kostenerstattung. Sie habe bisher als nachrangiger Kostenträger geleistet und habe daher Anspruch auf Kostenerstattung aus § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X. Dessen Voraussetzungen seien erfüllt, da einerseits eine eigene Leistungspflicht als Trägerin der Jugendhilfe nach §§ 27, 33 SGB VIII bestehe, andererseits eine Leistungspflicht des Beklagten als Träger der Sozialhilfe nach § 54 SGB XII. Im Falle solcher konkurrierenden Leistungen richte sich das Rangverhältnis nach § 10 Abs. 4 SGB VIII. Grundsätzlich gingen zwar die Leistungen nach dem SGB VIII denen des SGB XII vor; nach S. 2 der Vorschrift bestehe jedoch ein ausnahmsweiser Vorrang der Leistungen nach dem SGB XII in Fällen, in denen junge Menschen körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht seien. Diese Ausnahme greife im Falle des Leistungsberechtigten wegen dessen körperlicher Behinderung. Die Leistungen der Jugendhilfe und die der Sozialhilfe seien hier gleichartig und kongruent. Beim Leistungsberechtigten liege eine nicht unerhebliche körperliche Behinderung vor, weshalb nicht nur ein Hilfebedarf hinsichtlich der erzieherischen Defizite, sondern zugleich auch aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigungen bestehe.
Nach Übersendung weiterer Unterlagen erkannte der Beklagte den geltend gemachten Erstattungsanspruch für die Zeit ab dem 15.09.2012 an (Schreiben vom 14.11.2013). Gleichzeitig erklärte er sich bereit, den Hilfefall ab dem 01.01.2014 in eigener Zuständigkeit zu übernehmen. Mit Bescheid vom selben Tag bewilligte der Beklagte dem Leistungsberechtigten Leistungen der Sozialhilfe.
Die Klägerin machte den Erstattungsanspruch für die Zeit ab dem 01.07.2009 (bis 14.09.2012) weiterhin geltend (Schreiben vom 26.11.2013). Es gehe nicht um einen Fall des § 105 SGB X, sondern um einen Anspruch nach § 104 SGB X. Eine § 105 Abs. 3 SGB X entsprechende Regelung enthalte § 104 SGB X nicht. Die Ausschlussfrist des § 111 SGB X sei gewahrt, da eine laufende Jugendhilfeleistung die Ausschlussfrist nicht in Gang setzen könne. Für einen Erstattungsanspruch aus § 104 SGB X sei daher lediglich die vierjährige Verjährungsfrist des § 113 SGB X zu beachten. Insoweit werde wegen des drohenden Verjährungseintritts um Verzicht auf die Geltendmachung der Verjährungseinrede gebeten; dem kam der Beklagte nach (Schreiben vom 12.12.2013). Er teilte der Klägerin darüber hinaus mit, da es sich zutreffender Weise um einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X handele, gelte auch die Ausschlussfrist des § 111 S. 1 SGB X. Diese beginne mit dem Entstehen des Erstattungsanspruches zu laufen, welcher aber zeitabschnittsweise Monat für Monat entstehe. Fristbeginn sei somit nicht der Ablauf der Gesamtmaßnahme des Jugendamtes, sondern jeweils der Ablauf eines jeden monatlichen Leistungsabschnittes. Seien Kostenerstattungsansprüche nach § 104 SGB X gemäß § 111 S. 1 SGB X zwölf Monate rückwirkend ab Eingang des Kostenerstattungsbegehrens anzuerkennen, werde dem Erstattungsanspruch bereits ab dem 01.09.2011 entsprochen (Schreiben vom 21.10.2014).
Die Klägerin erwiderte (Schreiben vom 30.10.2014), von einer monatsweisen Entstehung des Erstattungsanspruchs sei seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 19.08.2010 – 5 C 14.09 nicht mehr auszugehen. Diesem Urteil zufolge beginne die Frist des § 111 SGB X nicht zu laufen, wenn der Erstattungsanspruch während der laufenden Hilfegewährung angemeldet werde. Das BVerwG erachte es als ausreichend, den Kostenerstattungsanspruch während der laufenden Hilfe zu stellen. Das Gericht knüpfe damit gerade nicht an bestimmte Zeitabschnitte an, und es lasse demzufolge jede innerhalb der Frist des §§ 111 S. 1 SGB X erfolgende Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der (Gesamt-)Leistung ausreichen. Eine andere Bewertung werde den Besonderheiten des Jugendhilferechts nicht gerecht, denn Jugendhilfe werde in den seltensten Fällen zeitabschnittsweise gewährt. Folgte man der anderen Ansicht der Beklagten, stellte sich die Frage, an welchen Zeitabschnitt bei zeitlich unbegrenzt bewilligten Hilfemaßnahmen für den Beginn der Ausschlussfrist anzuknüpfen wäre. Mittlerweile drohe im Übrigen eine Verjährung der Ansprüche für 2009 und 2010; insoweit werde zur Vermeidung einer gerichtlichen Auseinandersetzung um Erneuerung des Verjährungsverzichts für 2009 und entsprechende Erklärung für 2010 gebeten. Weitere gleichgelagerte Fälle seien vor dem Sozialgericht Dortmund und dem Verwaltungsgericht (VG) Arnsberg anhängig. Ein Urteil des VG Arnsberg vom 17.11.2014 – 11 K 4180/13 stütze die Auffassung der Klägerin.
Am 18.12.2014 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben. Der Leistungsberechtigte sei durch seine Behinderung wesentlich in der Fähigkeit eingeschränkt, an der Gesellschaft teilzuhaben. Hieraus folge ein Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung der bisher aufgewandten Kosten aus § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X. Die eigene Leistungspflicht als Träger der Jugendhilfe nach §§ 27, 34 SGB VIII sei deckungsgleich mit der Leistungspflicht der Beklagten als Träger der Sozialhilfe nach §§ 53, 54 SGB XII. Nach § 10 Abs. 4 SGB VIII gehe im Fall des körperlich behinderten Leistungsberechtigten die Leistungspflicht des Beklagten vor. Der Beklagte habe seine Verpflichtung zur Übernahme des Falles inzwischen grundsätzlich anerkannt, und es gehe einzig noch um eine Erstattung für die Zeit vor dem 01.09.2011 bzw. um die Auslegung von § 111 SGB X. Für die Ansprüche aus den Jahren 2009 und 2010 drohe zum 31.12.2014 die Verjährung. Die Erstattungsforderung erstrecke sich auf den Zeitraum vom 01.07.2009 bis 31.12.2010.
Nach einem in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht vom 16.06.2015 geschlossenen Vergleich besteht zwischen den Beteiligten Einvernehmen, dass sich die Kostenerstattung betreffend den Zeitraum vom 01.01. bis zum 31.08.2011 nach der letztinstanzlichen Entscheidung über die streitgegenständliche Erstattungsforderung für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 richten soll.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 117.823,73 EUR zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat Erstattungsansprüche für die Zeit vor dem 01.09.2011 nach § 111 SGB X von vornherein für ausgeschlossen gehalten. Denn die Klägerin habe den Erstattungsanspruch erstmals mit Schreiben vom 14.09.2012 angemeldet. Die von ihr in Bezug genommene Rechtsprechung des BVerwG sowie des VG Arnsberg beziehe sich auf Erstattungsverfahren zwischen Trägern der Jugendhilfe; sie sei auf trägerübergreifende Erstattungsverfahren nicht anwendbar.
Mit Urteil vom 16.06.2015 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 117.823,73 EUR zu zahlen. Der Anspruch folge aus § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X. Zu Recht sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsgrundlage, § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X, erfüllt seien und der Klägerin ein Erstattungsanspruch dem Grunde nach zustehen könne. Denn die Leistungspflicht des Beklagten gehe gemäß § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII der überschneidenden Leistungspflicht der Klägerin vor. Der Anspruch sei nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen. Der Beginn Ausschlussfrist richte sich allein nach § 111 S. 1 SGB X. § 111 S. 2 SGB X sei nicht anwendbar, wenn – wie hier – der erstattungspflichtige Leistungsträger eine Entscheidung über Leistungen überhaupt nicht mehr treffen könne und dürfe; der Anspruch des Leistungsberechtigten gelte jedoch als erfüllt, so dass ihm gegenüber keine dem Anspruch entsprechende Leistungspflicht des Beklagten mehr bestehe, über die eine Entscheidung ergehen könne. Die Klägerin habe den streitigen Erstattungsanspruch rechtzeitig innerhalb der Frist des § 111 S. 1 SGB X geltend gemacht. Wenn ein nachrangig leistungspflichtiger Jugendhilfeträger von einem vorrangig leistungspflichtigen Sozialhilfeträger Kostenerstattung verlange, bestimme sich die "Leistung" im Sinne von § 111 S. 1 SGB X nach dem Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts. Eine eigenständige Definition des Leistungsbegriffs im SGB X gebe es nicht, so dass § 111 S. 1 SGB X Bezug auf die Leistung und den Leistungsbegriff des jeweils betroffenen Sozialleistungsbereichs nehme; ergänzend seien der jeweils einschlägige Erstattungsanspruch und die den Erstattungsanspruch begründenden Umstände bzw. Regelungen der besonderen Teile des SGB in den Blick zu nehmen. Jedenfalls bei Erstattungsansprüchen nach § 104 SGB X sei auf den Leistungsbegriff des Rechts abzustellen, das für den erstattungsberechtigten Träger maßgeblich sei. Denn "der letzte Tag, für den die Leistung erbracht wurde" (§ 111 S. 1 SGB X) lasse sich nur der Entscheidung des erstattungsberechtigten Trägers gegenüber dem Leistungsberechtigten selbst entnehmen, so dass es maßgeblich auf dieses Verhältnis ankommen müsse. Zudem ergebe ein Umkehrschluss aus § 104 Abs. 3 SGB X, dass für die rechtliche Bewertung des Anspruchs im Übrigen das für den erstattungsberechtigten Leistungsträger geltende Recht maßgebend sei. Nur eine solche Auslegung verhelfe dem Zweck des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII auch auf der Ebene der Kostenerstattung zur Geltung. Ausgehend vom jugendhilferechtlichen Leistungsbegriff sei die dem Leistungsberechtigten gewährte Hilfe als eine einzige Gesamtleistung anzusehen. Denn jugendhilferechtliche Leistungen seien anhand einer bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zu bestimmen und bildeten eine einheitliche Leistung, wenn sie ohne beachtliche zeitliche Unterbrechung gewährt würden. Die Klägerin habe den Erstattungsanspruch inhaltlich wie zeitlich im Einklang mit § 111 S. 1 SGB X geltend gemacht. Die ihm zugrundeliegenden Umstände habe sie hinreichend konkret mitgeteilt, und die Geltendmachung sei auch noch während der laufenden Gesamtleistung, mithin sogar noch vor Beginn des Fristlaufs, rechtzeitig erfolgt. Insoweit sei eine bedarfsorientierte Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der es nicht darauf ankomme, ob die Maßnahmekosten von einem Dritten gegebenenfalls zeitabschnittsweise in Rechnung gestellt und beglichen würden; vielmehr genüge jede während der laufenden Hilfe oder innerhalb der Frist erfolgende Geltendmachung des Anspruchs nach Beginn der Gesamtleistung. Zwar werde trotz Anwendbarkeit des jugendhilferechtlichen Leistungsbegriffs und der diesbezüglichen Ausführungen des BVerwG zum Teil dennoch vertreten, dass die Ausschlussfrist zeitabschnittsweise nach Ablauf einzelner und in Abhängigkeit des Abrechnungsverhältnisses zu bestimmender Teilzeiträume beginne; hierzu werde darauf verwiesen, anderes sei mit dem Normzweck des § 111 S. 1 SGB X nicht vereinbar, eine zeitnahe Geltendmachung von Erstattungsansprüchen zu sichern. Ein so aufgefasster Normzweck greife indes zu kurz. Der Gesetzgeber habe vielmehr durch die Neufassung des § 111 S. 2 SGB X eine im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand weitergehende Geltendmachung von Erstattungsansprüchen ermöglichen wollen und damit dem Ziel materieller Gerechtigkeit mehr Gewicht eingeräumt als einer schnellen Klarstellung der Verhältnisse. Eine allein auf den ursprünglichen Zweck des § 111 SGB X gestützte Argumentation überzeuge daher nicht. Jugendhilfe werde ohnehin nur sehr selten zeitabschnittsweise gewährt; ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Abrechnung des Leistungserbringers würde die Kostenerstattung von Zufälligkeiten abhängig machen. Schließlich verhindere eine Verjährung nach § 113 SGB X ein Ausufern des Erstattungsanspruches; diese Norm knüpfe nicht an den Leistungsbegriff, sondern an die Entstehung des Erstattungsanspruches an. Die Forderung der Klägerin sei nicht verjährt, da der Beklagte für 2009 auf die Verjährungseinrede verzichtet habe und für 2010 eine Verjährung jedenfalls durch Klageerhebung gehemmt sei.
Gegen das am 24.06.2015 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 01.07.2015 Berufung eingelegt. Der Umfang der Erstattung richte sich danach, welche Leistung der vorrangig verpflichtete Leistungsträger zu erbringen habe. Habe der Leistungsberechtigte bei Anmeldung des Erstattungsanspruchs Anspruch auf Sozialhilfe gehabt, könne im Hinblick auf den Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X nicht ausschließlich auf den Leistungsbegriff des erstattungsberechtigten Jugendhilfeträgers abgestellt werden. Denn Sozialhilfe werde zeitabschnittsweise gewährt. Die kurze Ausschlussfrist des § 111 S. 1 SGB X verfolge das Ziel, Erstattungsansprüche möglichst zeitnah nach ihrem Entstehen anzumelden und die Abwicklung einzuleiten. Der erstattungspflichtige Leistungsträger solle möglichst frühzeitig wissen, welche Ansprüche auf ihn zukommen; er solle insofern vor einer Geltendmachung weit zurückliegender Ansprüche geschützt werden. Dem werde das Urteil des Sozialgerichts nicht gerecht. Der Träger der Sozialhilfe prüfe das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen zeitabschnittsweise stets neu. Im Übrigen habe auch der Jugendhilfeträger gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 SGB VIII regelmäßig zu prüfen, ob die gewährte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig sei. Zwar werde nicht bestritten, dass Jugendhilfe grundsätzlich als Gesamtmaßnahme geleistet werde. Allerdings sei auch dort die Festlegung zeitlicher Abschnitte notwendig, innerhalb derer die Geeignetheit und Notwendigkeit der Leistungen zu überprüfen sei. Dementsprechend komme eine unbefristete Dauerbewilligung nicht in Betracht; vielmehr seien die Annahmen nach einem bestimmten Zeitablauf entsprechend der tatsächlichen Entwicklung zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren. So habe denn auch die Klägerin insbesondere sämtliche Kostenzusagen gegenüber der Wohngruppe befristet erteilt und damit jeweils eindeutig zeitlich begrenzt. Das vom Sozialgericht herangezogene Urteil des BVerwG vom 19.08.2010 betreffe zum einen eine Erstattungsstreitigkeit zwischen Trägern der Jugendhilfe, zum anderen einen auch im Übrigen nicht vergleichbaren Fall. Denn dort sei der Erstattungsanspruch bereits zu Beginn der Maßnahme geltend gemacht worden; im vorliegenden Fall habe die Klägerin den Erstattungsanspruch hingegen erstmals rund drei Jahre nach Maßnahmebeginn angemeldet. Stelle man für das Ende der Ausschlussfrist auf das Ende der Gesamtleistung ab, liege es zudem in der Hand der Behörde, § 111 SGB X außer Funktion zu setzen, in dem der letzte Tag der Hilfegewährung offengelassen werde. Dies widerspreche Sinn und Zweck der Vorschrift; es solle gerade der Anspruchsgegner geschützt werden, da sonst Leistungen über Jahre zurückgefordert werden könnten. Laut internem Vermerk der Klägerin sei im Übrigen bereits im Januar 2012 eine Überleitung des Falles an den Beklagten beabsichtigt gewesen, dann aber nicht erfolgt. Auf die mit der notwendigen zeitnahen Anmeldung von Erstattungsansprüchen verfolgte Informations- und Warnfunktion der Ausschlussfrist stelle auch das BVerwG weiterhin ab. Sei somit auf das monatliche, zeitabschnittsweise Entstehen des Erstattungsanspruches abzustellen, seien Ansprüche der Klägerin für die Zeit vor dem 01.09.2011 ausgeschlossen.
Auf Nachfrage des Senats, ob die Erstattungsforderung der Klägerin der Höhe nach unbestritten sei, hat der Beklagte mitgeteilt, für die streitigen Jahre 2009 und 2010 müsse sich die Erstattungsforderung auf lediglich 108.473,72 EUR belaufen. Dem hat die Klägerin unter Hinweis auf einen offensichtlichen Berechnungsfehler beigepflichtet (Schriftsatz vom 05.01.2017); in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sie die Klage ausdrücklich insoweit zurückgenommen, als mehr als 108.473,72 EUR eingeklagt worden sind.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.06.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit die Klage im Berufungsverfahren nicht zurückgenommen worden ist.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. § 113 SGBX gewährleiste eine ausreichende Begrenzung von Erstattungsansprüchen für weit zurückliegende Leistungszeiträume. § 111 SGB X solle nach der Intention des Gesetzgebers nicht mehr allein der zeitnahen Abwicklung von Erstattungsansprüchen dienen, sondern ebenso eine materielle Ausgleichsgerechtigkeit zwischen den Trägern sicherstellen. Jugendhilfe werde in der Regel nicht für einen bestimmten Zeitraum gewährt, so dass die Hilfe nach dessen Ablauf automatisch auslaufe. Vielmehr werde Hilfe so lange gewährt, wie sie notwendig und geeignet sei; eine vorzeitige Beendigung einer weiterhin notwendigen Hilfemaßnahme durch den Jugendhilfeträger wäre rechtswidrig. Das Hilfeplanverfahren diene der Feststellung, ob konkrete Hilfemaßnahmen weiterhin geeignet und notwendig seien. Die Zeitabschnitte der Hilfeplangespräche orientierten sich am jeweiligen Bedarf. Folgte man der Ansicht des Beklagten, so wäre zu fragen, an welche Zeitabschnitte dann anzuknüpfen wäre. Ein Abstellen auf den Leistungsbegriff der Sozialhilfe erscheine daher nicht sachgerecht. Der Ansicht des Beklagten, die erstattungsberechtigte Behörde habe es in der Hand, § 111 SGB X außer Funktion zu setzen, sei entgegenzuhalten, dass eine Kostenerstattung Konstellationen betreffe, in denen zugleich ein Zuständigkeitswechsel auf den erstattungspflichtigen Träger stattfinde, oder in denen die Hilfe bereits beendet sei. Der erstattungsberechtigte Träger habe deshalb überhaupt kein Interesse, das Ende der Hilfegewährung durch eigene Leistungen offen zu lassen. Unerheblich sei schließlich, dass das in Bezug genommene Urteil des BVerwG einen Erstattungsstreit zwischen zwei Jugendhilfeträgern betreffe; denn § 111 SGB X unterscheide nicht nach verschiedenen Trägern. Auch die Entscheidung des BVerwG vom 17.12.2015 – 5 C 9/15 bestätige im Übrigen die Auffassung der Klägerin.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten von Klägerin und Beklagtem Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
A. Nach in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich erklärter teilweiser Rücknahme der Klage steht noch ein Erstattungsanspruch in Höhe von 108.473,72 EUR im Streit.
B. Beiladungen mussten nicht erfolgen. Eine Pflicht zur Beteiligung der Westfälischen Wohngruppe und Internat N oder des Leistungsberechtigten nach § 75 Abs. 2 SGG scheidet schon deshalb aus, weil beide die ihnen zustehenden Leistungen jeweils vollständig erhalten haben. Andere Leistungsträger waren nicht zu beteiligten, da die Klägerin anderweitig keine Erstattungsansprüche geltend gemacht hat.
C. Die Berufung ist gem. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG).
D. Die Berufung des Beklagten ist (soweit die Klage nicht im Berufungsverfahren zurückgenommen wurde) unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung von 108.473,72 EUR, die sie anlässlich der Unterbringung des Leistungsberechtigten in der Zeit vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 aufgewandt hat.
I. Die Klage ist als Erstattungsstreit zwischen einander im Gleichordnungsverhältnis gegenüberstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts als allgemeine Leistungsklage i.S.d. § 54 Abs. 5 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere war eine Klagefrist nicht einzuhalten, da es sich nicht um eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage handelt (vgl. § 87 SGG). Die Klägerin hat ein Rechtsschutzbedürfnis; denn der Beklagte hat den von ihr erhobenen Erstattungsanspruch bezüglich der Jahre 2009 und 2010 vor Klageerhebung jedenfalls konkludent mit Schreiben vom 21.10.2014 abgelehnt und auf weitere Zahlungsaufforderung der Klägerin nicht mehr reagiert.
II. Die Klage ist in Höhe des noch streitigen Erstattungsbetrages auch begründet.
Anspruchsgrundlage für die Erstattung der von der Klägerin für den Leistungsberechtigten in der Zeit vom 01.07.2009 bis zum 31.12.2010 erbrachten Leistungen ist § 104 Abs. 1 SGB X. Danach ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, grundsätzlich der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte (S. 1). Ein Leistungsträger ist nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet wäre (S. 2).
1. Die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X liegen vor. Im streitigen Zeitraum bestanden nebeneinander Leistungspflichten zweier Leistungsträger, die miteinander konkurrierten (dazu a und b), wobei die Leistungspflicht der Klägerin gegenüber der Leistungspflicht des Beklagten nachrangig war (dazu c).
a) Die Leistungspflicht der Klägerin als zuständigem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (§ 69 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. § 2 AG-KJHG NW und § 1 der Verordnung über die Bestimmung Großer kreisangehöriger Städte und Mittlerer kreisangehöriger Städte zu örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, zuletzt i.d.F. vom 17.11.2011, GV. NRW S. 598) folgt aus §§ 27, 34 SGB VIII. Danach hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Nach § 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII wird Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt. In § 34 S. 1 SGB VIII ist Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform vorgesehen, die Kindern und Jugendlichen durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern soll.
Diese Voraussetzungen waren erfüllt. Eine dem Wohl des Leistungsberechtigten entsprechende Erziehung durch seine getrennt lebenden und zerstrittenen Eltern war nicht gewährleistet. Dies folgt aus den von der Klägerin zur Fallvorstellung erstellten Berichten zu den Jahren 2008 und 2009; dort sind erhebliche Konflikte zwischen dem Leistungsberechtigten und insbesondere seiner Mutter (bei der er wohnte) sowie auch der Eltern untereinander beschrieben, die zu massiven Aggressionen des Leistungsberechtigten vor allem gegen seine Mutter führten. Die Hilfe in Form der Unterbringung in der Westfälischen Wohngruppe war für die Entwicklung des Leistungsberechtigten als hörgeschädigtes Kind geeignet und notwendig. Den Berichten über die Hilfeplangespräche ist insoweit zu entnehmen, dass sich der Leistungsberechtigte (nach einer anfänglichen Phase, in der er nach Hause wollte) gut eingelebt habe und eine positive Entwicklung zeige. So gestalteten sich die Besuche bei den Eltern als harmonisch und nicht mehr spannungsvoll. Verursacht durch die hochgradige Schwerhörigkeit wurden indes ein allgemeiner Entwicklungsrückstand und eine Sprachentwicklungsstörung beschrieben, woraus sich ein hoher Förderungs- und Betreuungsbedarf ergebe. In der auf hörgeschädigte Kinder und Jugendliche spezialisierten Einrichtung habe der Leistungsberechtigte einen optimalen Förderplatz gefunden, auf dem er insbesondere Hilfen zur Sprachförderung erhalte. Dies alles hat der Beklagte nicht bezweifelt und ist auch für den Senat offensichtlich.
b) Die gleichzeitige Leistungspflicht des Beklagten für sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe an den Leistungsberechtigter folgt aus §§ 53, 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX. Danach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Anspruch umfasst die in § 54 SGB XII i.V.m. den dort in Bezug genommenen Vorschriften des SGB IX beschriebenen Leistungen, so auch nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten.
Der Leistungsberechtigte war durch seine hochgradige Schwerhörigkeit bei einem GdB von 100 im beschriebenen Sinne körperlich behindert i.S.d. § 1 Abs. 5 EinglH-VO und wesentlich in seiner Teilhabefähigkeit an der Gesellschaft eingeschränkt. Seine Unterbringung in der speziell auf hörgeschädigte Kinder und Jugendliche ausgerichteten Wohngruppe war angesichts des durch diese hochgradige Schwerhörigkeit verursachten Entwicklungsrückstandes mit Sprachentwicklungsstörung die geeignete Teilhabemaßnahme, da sie erwarten ließ, dass die Behinderungsfolgen gemildert und dem Leistungsberechtigter so die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werde.
c) Im Konkurrenzverhältnis dieser jeweiligen Ansprüche nach dem SGB VIII bzw. dem SGB XII war die Leistungspflicht der Klägerin als Jugendhilfeträger im Verhältnis zur sozialhilferechtlichen Hilfepflicht des Beklagten nachrangig.
Das Rangverhältnis zwischen Jugend- und Sozialhilfe bestimmt sich nach § 10 Abs. 4 SGB VIII. Nach S. 1 der Vorschrift gehen grundsätzlich die Leistungen nach dem SGB VIII denjenigen nach dem SGB XII vor. S. 2 bestimmt jedoch eine Rückausnahme (dazu ausführlich Urteil des Senats vom 14.02.2011 – L 20 SO 110/08 Rn. 59 ff.); der sich danach ergebende Vorrang des Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII gegenüber demjenigen nach dem SGB VIII setzt voraus, dass eine wesentliche körperliche oder geistige Behinderung vorliegt und die Leistungen der Jugendhilfe und der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 – 5 C 6/11; BSG, Urteil vom 24.03.2009 – B 8 SO 29/07 R; vgl. auch Urteil des Senats vom 28.01.2013 – L 20 SO 170/11 Rn. 59).
Diese Voraussetzungen nach § 10a Abs. 4 S. 2 SGB VIII für einen Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe durch den Beklagten sind im vorliegenden Fall erfüllt. Denn es bestand im streitigen Zeitraum – neben dem Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII – ein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für einen körperlich behinderten jungen Menschen (s.o.). Die Unterbringung des Leistungsberechtigten, bei dem hoher Förderungs- und Betreuungsbedarf bestand, erfolgte in einer speziellen Fördereinrichtung für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche, da die Hörschädigung eine bestimmende Ursache des allgemeinen Entwicklungsrückstandes des Leistungsberechtigten war. Waren die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII und die der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII im vorliegenden Fall damit jedenfalls teilkongruent, genügt für den Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen nach dem SGB XII bereits diese Überschneidung der Leistungsbereiche; nicht erforderlich ist hingegen, dass der Schwerpunkt des Hilfebedarfs bzw. -zwecks im Bereich einer der den Eingliederungsbedarf auslösenden Behinderungen liegt (vgl. Urteil des Senats vom 30.07.2007 – L 20 SO 15/06 Rn. 45; Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 03.02.2017, § 10 Rn. 15).
Einer Anwendung von § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII steht auch nicht entgegen, dass anspruchsberechtigt für die Leistungen der Klägerin nach Jugendhilferecht die sorgeberechtigten Eltern des Leistungsberechtigten waren, während der sozialhilferechtliche Eingliederungshilfeanspruch dem Leistungsberechtigten selbst zustand. Denn § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII setzt allein eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten, nicht aber eine Identität der Anspruchsberechtigten voraus (BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 – 5 C 6/11; LSG Saarland, Urteil vom 29.11.2012 – L 11 SO 9/10 Rn. 34).
2. War mithin die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe gegenüber Leistungen der Jugendhilfe vorrangig, so richtet sich ein nach § 104 Abs. 1, 3 SGB X bestehender Erstattungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten. Denn dieser war im betroffenen Zeitraum der sachlich und örtlich zuständige Träger der Sozialhilfe.
a) Die sachliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers bestimmt sich nach § 97 Abs. 1 und 2 SGB XII. Für die Sozialhilfe ist danach grundsätzlich der örtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig, soweit nicht der überörtliche Träger sachlich zuständig ist (Abs. 1). Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe wird dabei nach Landesrecht bestimmt (Abs. 2 S. 1); insoweit war im streitigen Zeitraum nach § 2 Abs. 1a AG-SGB XII NW a.F. i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1a AV-SGB XII NW der überörtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig u.a. für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII für Personen, die in § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII genannt sind, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn es wegen der Behinderung oder des Leidens dieser Personen in Verbindung mit den Besonderheiten des Einzelfalls erforderlich ist, die Hilfe in einer teilstationären oder stationären Einrichtung zu gewähren. Als überörtliche Träger der Sozialhilfe führen nach § 1 Abs. 1 AG-SGB XII NW die Landschaftsverbände die Aufgaben der Sozialhilfe durch.
Nach dieser Maßgabe war der Beklagte für die Eingliederungshilfeleistungen sachlich zuständig. Denn der Leistungsberechtigte ist eine von § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII erfasste Person, die wegen ihrer Behinderung der Hilfe in Form einer Unterbringung in der Westfälischen Wohngruppe bedurfte; hierbei handelte es sich um eine stationäre Einrichtung i.S.d. § 13 Abs. 2 SGB XII.
b) Der Beklagte war zudem örtlich zuständig. Nach § 98 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist für die Sozialhilfe grundsätzlich der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Für stationäre Leistungen ist der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat.
Kommt es danach auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten im Zeitpunkt des Eintritts in die Einrichtung an, lag dieser im Märkischen Kreis (J) bei seiner Mutter, bei der er auch gemeldet war. Damit aber befand sich der gewöhnliche Aufenthalt im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten, welcher sich aus § 1 Abs. 1 der Hauptsatzung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom 12.01.1995 ergibt.
3. Der Erstattungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten für die hier betroffene Zeit vom 01.07.2009 bis 31.12.2010 ist nicht nach § 111 SGB X ausgeschlossen.
Nach § 111 SGB X ist der Erstattungsanspruch ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht (S. 1). Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat (S. 2). Es handelt sich um eine materielle Ausschlussfrist, so dass der Erstattungsanspruch nach Ablauf der Ausschlussfrist untergeht (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.2000 – B 8 KN 3/98 U R Rn. 14; Roller in von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 111 Rn. 16).
a) aa) Ein anderer Fristbeginn als der in der Grundregel des § 111 S. 1 SGB X vorgesehene folgt hier nicht etwa aus § 111 S. 2 SGB X. Diese Regelung bewirkt das Hinausschieben des Fristbeginns unter besonderen Voraussetzungen, nämlich bei Vorliegen einer Entscheidung des erstattungspflichtigen Trägers über seine Leistungspflicht; die Frist soll unter diesen Umständen erst im Zeitpunkt der Kenntnis des erstattungsberechtigten Trägers hiervon beginnen. Die "Entscheidung" im Sinne des S. 2 ist dabei die sachliche Entscheidung des erstattungspflichtigen Trägers gegenüber dem Leistungsberechtigten. Im Verhältnis zum erstattungsberechtigten Träger ergeht eine Entscheidung über die Leistungspflicht im Sinne des S. 2 hingegen nicht (Mutschler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand: 11.05.2016, § 111 Rn. 32; BSG, Urteil vom 15.12.2015 – B 1 KR 14/15 R Rn. 11). § 111 S. 2 SGB X setzt somit voraus, dass eine sachliche Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers gegenüber dem Leistungsberechtigten in der Sache bereits vorliegt oder zumindest in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 10.05.2005 – B 1 KR 20/04 R Rn. 21). Eine derartige materiell-rechtliche Entscheidung ist indessen in aller Regel ausgeschlossen, wenn der Erstattungsverpflichtete eine Entscheidung über Leistungen, wie sie der Erstattungsberechtigte bereits erbracht hat, gar nicht mehr treffen kann und darf (Roller a.a.O. Rn. 8, vgl. auch BSG a.a.O.). Das ist jedoch der Fall, wenn der Leistungsberechtigte – wie hier – die Sachleistung bereits erhalten hat und der Bedarf – durch einen unzuständigen Träger – bereits gedeckt worden ist. Sein Anspruch gegenüber dem zuständigen Leistungsträger ist dann faktisch und auch kraft der Fiktion des § 107 SGB X erfüllt (vgl. für den Bereich der Krankenversicherung: BSG, Urteil vom 30.6.2009 – B 1 KR 21/08 R Rn. 20; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.03.2016 – L 2 SO 67/14 Rn. 47). Dementsprechend konnte der Beklagte bei bereits von der Klägerin für den Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen zur Unterbringung in der Wohngruppe nicht nochmals über diese Leistungen entscheiden. Der Anwendungsbereich des § 111 S. 2 SGB X ist damit von vornherein verschlossen.
bb) Richtet sich der Fristbeginn gemäß § 111 S. 1 SGB X somit nach dem letzten Tag, für den die Leistung erbracht wurde, hat die Klägerin die zwölfmonatige Ausschlussfrist im Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs bei der Beklagten am 15.09.2012 gewahrt.
(1) Die Zwölfmonatsfrist beginnt am Folgetag des Tages, für den der erstattungsberechtigte Träger die Sozialleistung letztmals erbracht hat und ihm die entsprechenden Kosten entstanden sind (Mutschler a.a.O. Rn. 25). Die Leistung ist "erbracht" worden, wenn der Leistungsberechtigte sie tatsächlich erhalten hat, sein Anspruch auf eine Sozialleistung also erfüllt wurde (§ 362 Abs. 1 BGB); bei Dienst- und Sachleistungen kommt es auf die tatsächliche Zuwendung (reale Bewirkung) an.
(2) (a) Zur Bestimmung des Begriffs der Leistung i.S.d. § 111 SGB X stellt das BSG in ständiger Rechtsprechung bei wiederkehrenden Leistungen, die für bestimmte Leistungszeiträume erbracht werden, grundsätzlich auf den Ablauf eines jeden Leistungszeitraums und damit auf den jeweiligen Zeitraum ab, für den die einzelne Leistung erbracht wurde. So wird etwa Arbeitslosengeld II für Zahlungsabschnitte von jeweils einem Kalendermonat erbracht (§ 41 Abs. 1 SGB II); Arbeitslosengeld I sowie eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung werden ebenfalls für Kalendermonate geleistet (§ 154 SGB III, § 64 SGB VI). Ein Erstattungsanspruch muss danach im Zwölf-Monats-Zeitraum nach dem Ablauf des ersten Leistungszeitraums und für jeden weiteren Leistungsabschnitt gesondert geltend gemacht werden; auf den oft längeren Bewilligungszeitraum kommt es dabei nicht an (BSG, Urteile vom 06.04.1989 – 2 RU 34/88 Rn. 23; vom 22.08.2000 – B 2 U 24/99 R Rn. 16; vom 10.05.2005 – B 1 KR 20/04 R Rn. 13; vgl. auch das Urteil des Senats vom 04.06.2012 – L 20 AY 8/10 Rn. 68; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.03.2016 – L 2 SO 67/14 Rn. 43; Mutschler a.a.O. Rn. 28 f.). Wäre im vorliegenden Fall – etwa in Ansehung der monatlichen Abrechnungen des Einrichtungsträgers – ebenfalls der jeweilige Kalender- bzw. Abrechnungsmonat maßgebend, so wäre der erst am 15.09.2012 geltend gemachte Erstattungsanspruch der Klägerin bis einschließlich August 2011 ausgeschlossen.
(b) Der Senat legt jedoch bei einem Erstattungsbegehren eines Jugendhilfeträgers gegen den Sozialhilfeträger wie im vorliegenden Fall bei § 111 S. 1 SGB X einen jugendhilferechtlich geprägten Leistungsbegriff nach dem SGB VIII zugrunde. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des BVerwG handelte es sich danach bei der Unterbringung des Leistungsempfängers um eine einzige einheitliche – und nicht eine monatsweise zu betrachtende – Gesamtleistung, welche im Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs noch andauerte.
(aa) Für den Fall eines Kostenerstattungsanspruchs unter Trägern der Jugendhilfe nach § 89d SGB VIII hat das BVerwG (Urteil vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 Rn. 17 ff.) ausgeführt, im SGB X existiere keine eigenständige Definition des Begriffs der Leistung, auf die für die Ausschlussfrist zurückgegriffen werden könne. § 111 S. 1 SGB X nehme vielmehr Bezug auf die Leistung und den Leistungsbegriff des jeweiligen Sozialleistungsbereichs, in dem der geltend zu machende Anspruch auf Kostenerstattung im Einzelfall seine Rechtsgrundlage finde. Die jugendhilferechtliche Leistung der Hilfe zur Erziehung sei anhand einer bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zu bestimmen. Demzufolge bildeten alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen eine einheitliche Leistung, zumal wenn sie im Einzelfall nahtlos aneinander anschlössen. Es sei dabei grundsätzlich möglich, den Erstattungsanspruch schon vor seiner Entstehung geltend zu machen; es genüge, dass der Antrag auf Erstattung der Kosten während der laufenden Hilfe zur Erziehung gestellt werde. Darauf, ob die Kosten für die Maßnahme von einem Dritten gegebenenfalls zeitabschnittsweise in Rechnung gestellt und beglichen würden, komme es nicht an.
An dieser im Jahre 2010 erstmals geäußerten Auffassung hat das BVerwG in jüngerer Zeit ausdrücklich festgehalten (Urteil vom 17.12.2015 – 5 C 9/15). Es hat 2015 – in ergänzender Begründung – für diese Lesart "systematische" Gesichtspunkte angeführt. Dem in § 111 S. 1 SGB X verwendeten Begriff der Leistung komme eine doppelte Funktion zu; er diene zum einen der näheren Beschreibung des gegenständlichen Anwendungsbereichs der Norm, da sich der geltend gemachte Erstattungsanspruch auf die Kosten einer "Leistung" beziehen müsse. Zum anderen markiere der Begriff den Beginn der Ausschlussfrist. Den Grundsätzen der systematischen Gesetzesauslegung entsprechend sei der Begriff der Leistung in § 111 S. 1 SGB X bezüglich beider Wirkungsrichtungen einheitlich zu verwenden. Seien die Voraussetzungen einer bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung erfüllt und sei deshalb mit Blick auf den Anwendungsbereich des § 111 S. 1 SGB X von einer einzigen Leistung auszugehen, spreche aus systematischen Gründen im Interesse der Einheitlichkeit des Leistungsbegriffs Überwiegendes dafür, auch für den Beginn der Frist des § 111 S. 1 SGB X von diesem Verständnis auszugehen. Dies spreche deutlich dagegen, für den Fristlauf von einem zeitabschnittsweisen Leistungsbegriff auszugehen, also die (Gesamt-) Leistung im Sinne des § 111 S. 1 SGB X in Teilleistungen zu stückeln (BVerwG a.a.O. Rn. 15 ff.).
(bb) Der Senat schließt sich dieser (zu Fällen von Erstattungsansprüchen unter verschiedenen Jugendhilfeträgern gefundenen) Auffassung des BVerwG an. Er geht zudem auch im hier betroffenen Verhältnis zwischen erbrachten Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII und zu erstattenden Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für die Ausschlussfrist des § 111 Abs. 1 SGB X von einem sich nach dem SGB VIII richtenden Leistungsbegriff aus. Dies folgt aus der Auslegung des Leistungsbegriffs in § 111 S. 1 SGB X:
Der bloße Wortlaut der Vorschrift ist indifferent; er liefert keinen Befund, was genau der Begriff der Leistung in § 111 S. 1 SGB X meint, und könnte sowohl im Sinne monatlich abschnittsweiser Einzelzeiträume als auch im Sinne einer bedarfsorientierten Heranziehung des gesamten Leistungszeitraums verstanden werden. Allerdings stützt der Wortlaut auch nicht den Einwand des Beklagten, die Rechtsprechung des BVerwG sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil dort – anders als hier – ein Streit zwischen zwei Trägern der Jugendhilfe betroffen gewesen sei. Denn der Wortlaut des § 111 SGB X differenziert nicht zwischen Erstattungsansprüchen bei einerseits gleichartigen und andererseits verschiedenartigen Leistungsträgern. Auch im Übrigen finden sich hierzu weder im SGB VIII noch im SGB XII Regelungen, die eine solche Unterscheidung im Rahmen von § 111 SGB X nahelegten.
Die Systematik der gesetzlichen Regelungen spricht hingegen dafür, "die Leistung" nach dem Recht des Sozialleistungsbereichs zu bestimmen, aus dem der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch hervorging. Eine allgemeine Definition des Begriffs "Leistung" existiert nicht. Knüpft § 111 S. 1 SGB X jedoch an den letzten Tag an, für den die Leistung erbracht wurde, ist nach Ansicht des Senats derjenige Leistungsbegriff maßgebend, der für den bewilligenden (erstattungsberechtigten) Leistungsträger galt. Entscheidend ist also das von diesem Träger anzuwendende materielle Leistungsrecht, im vorliegenden Fall also dasjenige des für die Klägerin geltenden SGB VIII. Muss für einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X die erbrachte Leistung zudem rechtmäßig gewesen sein, so beurteilt sich auch diese Rechtmäßigkeit nach dem für den erstattungsberechtigten Leistungsträger geltenden Recht (vgl. BSG, Urteil vom 25.01.1994 – 7 RAr 42/93 Rn. 32) und nicht etwa nach dem Recht des erstattungspflichtigen Trägers, der gar keine Leistungen an den Berechtigten erbracht hat. Diese Erwägungen legen bereits nahe, dass allein das Recht des Sozialleistungsbereichs maßgebend ist, nach dem die zu erstattende Leistung erbracht worden ist. Jedenfalls ergänzende Bestätigung findet diese Lesart zudem in dem vom Sozialgericht herangezogenen Umkehrschluss aus § 104 Abs. 3 SGB X; denn richtet sich danach (nur) der Umfang der Erstattung nach dem Recht des Erstattungspflichtigen, so gilt dies gerade nicht für den Leistungsbegriff.
Die vom Beklagten geäußerten Einwände hinsichtlich Sinn und Zweck des § 111 SGB X sprechen nicht gegen das vom Senat zugrunde gelegte Verständnis des Leistungsbegriffs. Zwar soll die Regelung – auch – erreichen, dass Erstattungsansprüche zeitnah geltend gemacht werden; der Erstattungspflichtige soll bereits kurze Zeit nach der Leistungserbringung wissen, welche Ansprüche auf ihn zukommen und welche Rückstellungen er gegebenenfalls bilden muss (so Bayerischer VGH, Beschluss vom 07.01.2014 – 12 ZB 13.2512 Rn. 5; BT-Drucks 9/95 S. 26 zu § 117). Nach Auffassung des BVerwG kommt der systematisch konsequenten einheitlichen Auslegung des Leistungsbegriffs (s.o.) indes bereits ein so hohes Gewicht zu, dass teleologische Erwägungen dahinter zurücktreten (BVerwG, Urteil vom 17.12.2015 – 5 C 9/15 Rn. 18). Insbesondere aber hat der Gesetzgeber durch das Vierte Euro-Einführungsgesetz (BGBl. 2000, 1983) mit Wirkung ab 01.01.2001 § 111 S. 2 SGB X geändert (zuvor: "Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit Entstehung des Erstattungsanspruchs.") und dabei ausdrücklich – in Ansehung der strikten Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. Urteile vom 19.03.1996 – 2 RU 22/95; vom 28.03.2000 – B 8 KN 3/98 U R) – der materiellen Ausgleichsgerechtigkeit zwischen den Sozialleistungsträgern den Vorrang eingeräumt. Ohnehin wird der Schutz des erstattungspflichtigen Leistungsträgers vor einer verzögerten Inanspruchnahme durch das Abstellen auf das Ende der (Gesamt-)Leistung nicht völlig ausgehöhlt. Dies ergibt sich aus rein praktischen Erwägungen (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 18). Denn im Falle einer nur über einen kurzen Zeitraum gewährten Hilfe ist die rechtzeitige Information des erstattungspflichtigen Leistungsträgers innerhalb eines Jahres nach dem Ende der (Gesamt-)Leistung in der Regel gewährleistet; erstreckt sich die Hilfegewährung hingegen über einen längeren Zeitraum, liegt es mit Blick auf die regelmäßig nicht unerheblichen Kosten schon im Eigeninteresse des erstattungsberechtigten Leistungsträgers, seinen Anspruch frühzeitig, gegebenenfalls schon während der laufenden Hilfegewährung anzumelden (unbeschadet dessen, dass die Klägerin im vorliegenden Fall recht lange zugewartet hat). Schließlich bietet auch die Verjährung nach § 113 SGB X Schutz vor der Geltendmachung von Erstattungsforderungen für weit zurückliegende Zeiträume.
(cc) Ist sonach bei § 111 S. 1 SGB X im vorliegenden Fall der Leistungsbegriff nach dem SGB VIII maßgebend, so waren die dem Leistungsberechtigten von der Klägerin gewährten Hilfen zur Erziehung eine einheitliche Leistung (vgl. BVerwG a.a.O.).
Denn bei bedarfsorientierter Gesamtbetrachtung der Maßnahmen und Hilfen handelte es sich um einen einheitlichen, ununterbrochenen Hilfefall, der nach den Prognosen in den Hilfeplangesprächen mindestens bis zur Volljährigkeit des Leistungsberechtigten fortzuführen war. Wesentliche Änderungen in der Gestaltung der Erziehung des Leistungsberechtigten in der Einrichtung sind nicht aufgetreten; er war im streitigen Zeitraum kontinuierlich und ohne qualitative Veränderungen dauerhaft in der Wohngruppe untergebracht.
Nichts anderes folgt aus der Pflicht der Klägerin, gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 HS 2 SGB VIII regelmäßig zu prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Zwar mag eine solche Überprüfung im Einzelfall zu einer Ersetzung einer zunächst gewählten Art der Hilfeleistung durch eine andere führen. Selbst in einem solchen Fall handelt es sich aber bei bedarfsorientierter Gesamtbetrachtung in der Regel gleichwohl um eine einheitliche jugendhilferechtliche Maßnahme. Denn Erziehung ist notwendig ein prozesshaftes Geschehen.
Nichts anderes folgt zudem im vorliegenden Fall daraus, dass das Wohnheim und der Gebärdensprachdolmetscher monatliche Abrechnungen erstellt haben, welche die Klägerin stets beglichen hat. Dies ist allein durch praktische wirtschaftliche Notwendigkeiten bei den Erbringern der Leistungen bedingt, bedeutet aber nicht, dass stets nur zeitabschnittsweise wiederkehrend Einzelleistungen erbracht worden wären. Entscheidend ist vielmehr allein die am Bedarf des Leistungsberechtigten orientierte Gesamtbetrachtung der Erziehungsmaßnahme (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.08.2010 – 5 C 14/09 Rn. 22).
Geht es nach allem nicht um wiederkehrende Leistungen, so ist auch die Rechtsprechung des BSG zur Bestimmung des Leistungsbegriff bei wiederkehrenden Leistungen (vgl. oben) schon im Ansatz nicht einschlägig.
(dd) Angesichts der einheitlichen, noch andauernden Leistung hatte die zwölfmonatige Ausschlussfrist des § 111 S. 1 SGB X im Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsbegehrens noch gar nicht begonnen. Ein materieller Ausschluss des Erstattungsanspruchs der Klägerin für den streitigen Zeitraum konnte deshalb nicht eintreten.
b) Der Erstattungsanspruch ist gegenüber der Beklagten hinreichend konkret und in Form einer empfangsbedürftigen Willenserklärung geltend gemacht worden. Eine Bezifferung konnte zulässigerweise nachgeholt werden. Zudem war es auch möglich, die Erstattungsforderung bereits vor dem Beginn der Ausschlussfrist geltend zu machen (BVerwG a.a.O. Rn. 22; vgl. zu allem auch Roller a.a.O. § 111 Rn. 14 f.).
4. Die Erstattungsforderung besteht auch in der (noch) geltend gemachten Höhe von 108.473,72 EUR. Dieser Betrag deckt sich mit der Summe der monatlichen Abrechnungen des Wohnheimes, die auf den vereinbarten Tagessätzen zzgl. Bekleidungs- und Taschengeld beruhen, sowie denen des Gebärdensprachdolmetschers, unter Abzug der seit Februar 2011 vereinnahmten Kindergeldzahlungen und der erbrachten Eigenanteile des Vaters des Leistungsberechtigten. Diese Berechnung ist vom Beklagten ausdrücklich nicht in Zweifel gezogen worden. Dass an den Vater des Leistungsberechtigten in einzelnen Monaten Rückzahlungen erfolgt sind, soweit sich der Leistungsberechtigte – etwa in den Ferien – bei ihm aufgehalten hat, ist für den geltend gemachten Erstattungsanspruch unschädlich. Hierdurch hätte die Klägerin bei exakter Berechnung einen (geringfügig) höheren Erstattungsanspruch gehabt; dass sie diesen versehentlich nicht geltend gemacht hat, beschwert den Beklagten nicht.
5. Die Einrede der Verjährung ist vom Beklagten nicht erhoben worden. Ohnehin ist eine Verjährung im Sinne von § 113 SGB X nicht eingetreten. Denn die Klägerin hat die Forderung innerhalb von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, geltend gemacht (vgl. zu diesem Fristbeginn Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand: 10.10.2016, § 113 Rn. 30); hierdurch ist gem. § 113 Abs. 2 SGB X i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB eine Hemmung der Verjährung eingetreten. Auf den ausdrücklich erklärten Verzicht des Beklagten auf die Einrede der Verjährung kommt es damit nicht an.
E. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt, dass die Klägerin die Klage teilweise zurückgenommen hat.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3, § 40 GKG; danach war der Streitwert entsprechend dem Wert der im Antrag der Klägerin bezifferten Geldleistung im maßgebenden Zeitpunkt des Einleitens des Rechtszuges endgültig auf 117.823,73 EUR festzusetzen. Der Senat konnte den Streitwert auch für das Klageverfahren festsetzen. Die Befugnis dazu ergibt sich aus einer erweiternden Auslegung von § 63 Abs. 3 S. 1 GKG; danach darf das Rechtsmittelgericht aus Gründen der Prozessökonomie nicht nur von den Instanzgerichten getroffene Festsetzungen ändern, sondern auch unterbliebene Streitwertfestsetzungen nachholen (BSG, Urteil vom 05.10.2006 – B 10 LW 5/05 R Rn. 23; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.03.2006 – L 4 KA 3/04 Rn. 14; OLG Celle, Beschluss vom 24.04.2002 – 13 U 150/00 Rn. 2).
F. Die Revision hat der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 03.09.2019
Zuletzt verändert am: 03.09.2019