Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.02.2015 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe:
I.
Die 1973 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Im Anschluss an eine vom 20.10.2014 bis zum 15.06.2015 dauernde Beschäftigung bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 03.08.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.07.2015 bis zum 31.01.2016. Auf ihren Weiterbewilligungsantrag vom 04.01.2016 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 06.01.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.02.2016 bis zum 31.01.2017. Mit Bescheid vom 13.01.2016 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 06.01.2016 für die Zeit ab dem 01.02.2016 gestützt auf § 45 Abs. 2 SGB X auf. Die Antragstellerin sei als bulgarische Staatsangehörige gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach Ablauf von sechs Monaten nach Ende der letzten Beschäftigung von Leistungen ausgeschlossen. Hiergegen legte die Antragstellerin am 18.01.2016 Widerspruch ein.
Am 22.01.2016 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Gelsenkirchen (sinngemäß) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragt. Mit Beschluss vom 09.02.2016 hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 13.01.2016, da zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine ordnungsgemäße Anhörung der Antragstellerin gem. § 24 SGB X nicht erfolgt sei.
Gegen diese am 10.02.2016 zugestellte Entscheidung hat der Antragsgegner am 18.02.2016 Beschwerde eingelegt. Die unterbliebene Anhörung sei unbeachtlich, da diese gem. § 41 Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden könne.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthafte und zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 18.01.2016 gegen die Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 06.01.2016 angeordnet.
Der Antrag ist statthaft. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, keine aufschiebende Wirkung.
Der Antrag ist begründet. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko bei Rücknahmebescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs, hier des Widerspruchs, zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 19.03.2014 – L 7 AS 321/14 B ER; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.10.2015 – L 8 R 442/15 B ER; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn. 12c mwN).
Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung ist gegenwärtig mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich der angefochtene Bescheid im Hauptsachverfahren als rechtswidrig erweisen wird.
Einzig in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage für die angefochtene Entscheidung ist § 45 SGB X. Gem. § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden, soweit der Betroffene auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Unter den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann sich der Betroffene nicht auf Vertrauensschutz berufen.
Die Antragstellerin kann sich auf Vertrauensschutz iS dieser Vorschrift berufen.
Ohne Weiteres ist der Antragstellerin zuzugestehen, dass sie auf den Bestand des Bescheides vom 06.01.2016 vertraut hat.
Dieses Vertrauen ist auch schutzwürdig. Hätte der Antragsgegner nicht bereits mit dem Bescheid vom 06.01.2016 Leistungen bewilligt, hätte die Antragstellerin den Antragsgegner mit Erfolg im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zur Leistungszahlung verpflichten können. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vergl. ausführlich Beschlüsse vom 16.12.2015 – L 7 AS 1466/15 B ER und vom 22.03.2016 – L 7 AS 354/16 B ER) ist der Antragsgegner als Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach § 43 SGB I zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet, wenn er – wie hier – erstangegangener Leistungsträger ist. Die Frage, ob die Antragstellerin dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfällt, ist seit den Entscheidungen des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 B ER), vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R), vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R), vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R) sowie vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R) nur noch maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegt die Antragstellerin dem Leistungsausschluss nicht, weil sie über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügt (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R), ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegt die Antragstellerin hingegen dem Leistungsausschluss, ist der Träger der Sozialhilfe bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig. Unter diesen Umständen tritt das öffentliche Interesse an der Rücknahme des Bewilligungsbescheides zurück und muss die Antragstellerin es nicht hinnehmen, dass ihr einmal bewilligte Leistungen wieder entzogen werden.
Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin sich gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht auf Vertrauen berufen kann, sind nicht ersichtlich.
Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob dem Antrag bereits deshalb stattzugeben ist, weil – wie das Sozialgericht ausgeführt hat – der Antragsgegner die erforderliche Anhörung unterlassen hat. Dagegen spricht allerdings, dass die hier gem. § 41 Abs. 2 SGB X gegebene Möglichkeit, Verfahrens- oder Formfehler im Widerspruchs- und Klageverfahren zu heilen, bei der Interessenabwägung zugunsten des Leistungsträgers zu berücksichtigen sind (Werhahn, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 86b Rn 46 mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 21.04.2016
Zuletzt verändert am: 21.04.2016