Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24.03.1999 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen die teilweise Aufhebung des Herabsetzungsbescheides vom 23.08.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.1997 durch das Sozialgericht Dortmund.
Der Beklagte hatte im Bescheid vom 06.08.1987 bei der 1987 geborenen Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt wegen
"1. Lymphsystemerkrankung bei Histiocytose
2. Wirbelsäulen-Fehlhaltung"
und den Nachteilsausgleich "H" gewährt. Mit Bescheid vom 11.08.1987 wurden bei der Klägerin des weiteren die Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "B" zuerkannt.
Mit Bescheid vom 14.04.1993 setzte der Beklagte wegen Ablaufs der Heilungsbewährung den GdB auf 80 herab und entzog den Nachteilsausgleich "H".
Im April 1995 beantragte die Klägerin beim Beklagten u.a. die Feststellung eines höheren GdB s. Sie trug vor, sie bedürfe einer ständigen Beobachtung, da sie an einem Knochenschwund leide. Daraufhin holte der Beklagte einen Befundbericht von dem praktischen Arzt Dr. B ein und ließ diesen durch den ärztlichen Dienst auswerten. Des Weiteren veranlasste er eine gutachterliche Untersuchung der Klägerin durch den Direktor der Kinderklinik der S Kliniken D , Prof. Dr. D. Dieser stellte bei der Klägerin einen Zustand nach Histiocytose X und Polyche motherapie, eine leichte Ataxie sowie einen Zustand nach Unterschenkelfraktur rechts fest. Den leichten ataktischen Störungen mit Gangunsicherheiten sei allenfalls ein GdB von 20, maximal von 30 beizumessen. Der Gesamt-GdB werde auf 30, allenfalls 40 geschätzt. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche lägen nicht mehr vor.
Daraufhin hörte der Beklagte mit Schreiben vom 30.07.1996 die Klägerin zu der beabsichtigten Herabsetzung des GdB s von 80 auf 30 und dem Entzug der Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "B" an. In diesem Schreiben heißt es u.a.:
"aufgrund ihrer Angaben wurde der Sachverhalt aufgeklärt. Die versorgungsärztliche Überprüfung der beigezogenen Unterlagen hat ergeben, das gegen über den in dem Bescheid vom 14.04.1993 getroffenen Feststellungen eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese besteht darin, dass hinsichtlich der Behinderung der Histiocytose die vorgesehene Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen ist …, der Gesamtgrad der Behinderung sich von bisher 80 verringert, die gesundheitlichen Merkmale "G", "aG" und "B" nicht mehr vorliegen.
Die mit § 4 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) i.V.m. § 48 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) ist entsprechend den geänderten Verhältnissen eine neue Entscheidung zu treffen.
Das Versorgungsamt beabsichtigt daher, einen Bescheid zu erteilen, mit dem folgendes festgestellt werden wird:
Es liegen folgende Behinderungen vor:
Störung der Bewegungskoordination (Ataxie) nach Ablauf der Heilungsbewährung.
Der Grad der Behinderung beträgt insgesamt: 30 …".
Mit Bescheid vom 23.08.1996 setzte der Beklagte den GdB unter Berufung auf § 48 SGB X auf 30 herab. Des weiteren stellte er fest, dass es zu den von der Klägerin außerdem beantragten weiteren gesundheitlichen Merkmale es keiner Feststellung bedürfe, weil der GdB nicht mindestens 50 betrage und ihr ein Ausweis nicht zustehe.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte am 24.02.1997 zurück.
Am 26.02.1997 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben.
Sie hat vorgetragen, die gesundheitlichen Auswirkungen der langjährigen Chemoterapie seien vom Beklagten nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 23.08.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.1997 aufzuheben und den Be klagten zu verurteilen, den GdB mit mindestens mehr als 30 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aussergewöhnliche Gehbehinderung" ("aG") und "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" ("G") ab April 1995 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von dem Dr. B sowie von dem Chefarzt der E -Klinik in D Dr. L ein kinderpsychiatrisches Gutachten eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 10.06.1998 sowie der ergänzenden Stellungnahmen vom 11.11.1998 Bezug genommen.
Der Beklagte ist den Feststellungen des Sachverständigen unter Vorlage von Stellungnahmen von Dr. M nicht gefolgt.
Mit Urteil vom 24.03.1999 hat das Sozialgericht Dortmund den Bescheid des Beklagten vom 23.08.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.1997 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den GdB ab April 1995 mit 70 festzusetzen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es ist den Feststellungen des Sachverständigen Dr. L gefolgt, wonach der Gesamtbehinderungszustand der Klägerin einen GdB von 70 bedingt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nicht vorliegen.
Gegen das am 03.05.1999 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 26.05.1999 Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt. Er hat unter Bezugnahme auf Stellungnahmen von Dr. M vom 18.05.1999 und dem leitenden Arzt des Landesversorgungsamtes Dr. B vom 21.07.1999 dargelegt, das Vorliegen von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sowie eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung sei bei der Klägerin nicht erwiesen. Die Feststellungen von Dr. L seien teilweise in sich widersprüchlich und nicht nachvollziehbar. Falls der Senat einen Anhörungsfehler im Verwaltungsverfahren als gegeben ansehe, sei das Klageverfahren auszusetzen, um ihm Gelegenheit zu geben, den Widerspruchsbescheid aufzuheben und die Anhörung im neu eröffneten Widerspruchsverfahren nachzuholen.
Der Beklagte beantragt,
unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 24.03.1999 die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitsandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Bei dem angefochtenen Bescheid vom 23.08.1996 i. d. F. Widerspruchsbescheides vom 24.02.1997 handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt, da in ihm der GdB herabgesetzt und Nachteilsausgleiche entzogen werden. Insoweit ist der Bescheid mit einer reinen Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 2 SGG anzufechten. Nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ist der in dem angefochtenen Bescheid verfügte Entzug der Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "B" sowie die Herabsetzung des GdB von 80 auf 70 bestandskräftig geworden, da die Klägerin kein Rechtsmittel gegen das teilweise klageabweisende Urteil eingelegt hat. Damit ist Streitgegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die Herabsetzung des GdB von 70 auf 30.
Der angefochtene Bescheid vom 23.08.1996 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 24.02.1997 ist wegen unterbliebener Anhörung hinsichtlich der Herabsetzung des GdB rechtswidrig und damit aufzuheben.
Durch die Herabsetzung des GdB hat der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid in die Rechte der Klägerin eingegriffen, so dass der Beklagte gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 SGB X verpflichtet war, der Klägerin vor Erlass des Bescheides Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Der Beklagte hat daher mit Schreiben vom 26.02.1997 eine Anhörung der Klägerin durchgeführt. Diese ist aber nicht wirksam erfolgt.
Wirksam ist eine Anhörung i.S.d. § 24 SGB X, wenn sie ordnungsgemäß erfolgt ist. Dies ist der Fall, wenn ein Anhörungsschreiben die für die beabsichtigte Entscheidung erheblichen Tatsachen aus führt und der Betroffenen eine ausreichende Frist zur Stellungnahme gegeben wird. Der Betroffenen müssen die entscheidungserheblichen Tatsachen in einer Weise unterbreitet werden, das sie diese als solche erkennen und sie sich zu ihnen sachgerecht äußern kann. Was unter einer erheblichen Tatsache i.S.v. § 24 Abs. 2 SGB X zu verstehen ist, richtet sich nach dem Inhalt des Verwaltungsaktes, dessen Erlass beabsichtigt ist, sowie nach den Umständen des Einzelfalles und der jeweils anzuwendenden Vorschrift. In einem Verfahren mit dem Ziel der Herabsetzung des GdB sind nach gefestigter Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG-Urteil vom 28.04.1999, B 9 SB 5/98 R m.w.N.) einer Betroffenen vor der Entscheidung als erhebliche Tatsachen die Ergebnisse der beigezogenen ärztlichen Berichte, die Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme sind, zusammengefasst, einschließlich der Namen der Verfasser, bekanntzugeben. Dies gilt nach Auffassung des Senates auch für die Ergebnisse einer auf Veranlassung des Beklagten durchgeführten Untersuchung einer Betroffenen durch dessen ärztlichen Dienst oder einem Außengutachter. Ein solches Gutachten ist nicht mit der Auswertung beigezogener Befundberichte durch den ärztlichen Dienst, dessen Ergebnis als verwaltungsinterne Vorbereitungsmaßnahme zur GdB-Feststellung durch den Beklagten einer Betroffenen nicht mitzuteilen ist (vgl. BSG,Urteil vom 25.03.1999, B 9 SB 14/97 R) gleichzustellen, vielmehr bildet ein solches Gutachten, insbesondere die dafür erhobenen Befunde, neben den beigezogenen ärztlichen Berichten die Entscheidungsgrundlage für die GdB-Feststellung.
Das Anhörungsschreiben vom 30.07.1996 genügt den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung nicht. Zwar hat der Beklagte in diesem Schreiben mitgeteilt, aufgrund welcher Tatsachen – Ablauf der Heilungsbewährung – er eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die zur Herabsetzung des GdB berechtigt, als gegeben ansieht. Auch hat er das durch die Beiziehung des Befundberichtes von Dr. B und der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. D gewonnene Ergebnis hinsichtlich der bei der Klägerin tatsächlich vorliegenden Gesundheitsstörungen, welches der Bewertung des Gesamtbehinderungszustandes der Klägerin mit einem GdB von 30 zu Grunde gelegt wird, mitgeteilt. Dem Schreiben ist aber nicht zu entnehmen, auf welche Unterlagen sich der Beklagte in seiner Auffassung stützt. Er beschränkt sich lediglich auf die formularmäßige Mitteilung, daß die beigezogenen Unterlagen versorgungsärztlich überprüft worden seien. Der Inhalt dieser Unterlagen einschließlich der Namen der Verfasser – Befundbericht von Dr. B und Gutachten von Prof. Dr. D – sind dem Schreiben nicht zu entnehmen. Die Tatsache, daß die Klägerin Kenntnis davon hatte, daß sie auf Veranlassung des Beklagten von Prof. Dr. D untersucht worden war, entbindet den Beklagten nicht von der Verpflichtung, der Klägerin mitzuteilen, auf welche Unterlagen er konkret seine Entscheidung stützen will.
Die Verletzung der Anhörungspflicht ist auch nicht nach § 41 Abs. 1 SGB X unbeachtlich. Denn die fehlerhafte Anhörung der Klägerin, ist weder durch die Wiedergabe der Entscheidungsgrundlage in dem Ausgangsbescheid noch durch eine Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren geheilt worden. Der Bescheid vom 21.08.1996 enthält in seinem Verfügungssatz die beabsichtigte Entscheidung, die Herabsetzung des GdB von 80 auf 30, sowie als unselbstständige Begründungselement das ermittelte Krankheitsbild. Die Entscheidungsgrundlage – Inhalt und Verfasser der beigezogenen ärztlichen Unterlagen – ist in dem Bescheid nicht wiedergegeben. Des weiteren ist im Widerspruchsverfahren eine erneute Anhörung zu den schon im Verwaltungsverfahren beigezogenen und verwerteten Unterlagen unterblieben.
Da die Verletzung der Anhörungspflicht nicht bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens geheilt worden ist, ist der angefochtene rechtswidrige Bescheid – unabhängig von der materiellen Rechtslage -, soweit er Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, aufzuheben.
Der Senat ist nicht verpflichtet gewesen, daß Verfahren auszusetzen, um dem Beklagten nach Aufhebung des Widerspruchsbescheides Gelegenheit zu geben, die ordnungsgemäße Anhörung in dem neu eröffneten Widerspruchsverfahren nachzuholen und einen neuen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. zuletzt Urteil vom 25.3.1999, B 9 SB 14/97 R m.w.N.) ein Gerichtsverfahren zwecks Nachholung eines ordnungsgemäßen Widerspruchsverfahrens auszusetzen, wenn der Widerspruchsbescheid gegenüber dem Ausgangsbescheid eine zusätzliche eigenständige und selbständige Beschwer in Form der Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift enthält, die zur Aufhebung des Widerspruchsbescheides durch ein Teilurteil berechtigt, und der Erlaß eines Schlußurteils hinsichtlich des Ausgangsbescheides aus verfahrensrechtlichen Gründen – formelle Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheides und Wegfall einer Prozeßvoraussetzung (vorheriges abgeschlossenes Widerspruchsverfahren) – nicht möglich ist. Vorliegend enthält der Widerspruchsbescheid keine zusätzliche eigenständige Beschwer, vielmehr hat die im Verwaltungsverfahren geschehene Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift sowohl die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides als auch die des Widerspruchsbescheides zur Folge, so daß keine prozessualen Gründe der Aufhebung beider Bescheide durch ein Schlußurteil entgegenstehen. Eine Aussetzung des Verfahrens ist auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Großen Senats vom 06.10.1994 – GS 1/91 -) nicht geboten. Danach ist der Beklagte während eines Gerichtsverfahrens berechtigt, einen Verwaltungsakt, der Gegenstand des Gerichtsverfahrens ist, aufzuheben und einen neuen Verwaltungsakt in Bezug auf den Regelungsgegenstand des aufgehobenen Verwaltungsaktes nach Anhörung zu erlassen, und somit einen Anhörungsfehler zu heilen. Diese Kompetenz des Beklagten steht aber einer abschließenden Entscheidung des Senates durch Urteil nicht entgegen, da der Ausgangsbescheid wie auch der Widerspruchsbescheid allein aus formellen Gründen aufzuheben ist. Dem Beklagten steht lediglich die Möglichkeit offen, in einem parallel zum Gerichtsverfahren betriebenen Verwaltungsverfahren unter Nachholung einer ordnungsgemäßen Anhörung die beiden rechtswidrigen Bescheide – Ausgangsbescheid und Widerspruchsbescheid -, aufzuheben und einen neuen Bescheid, der sowohl Ausgangsbescheid und Widerspruchsbescheid gemäß § 96 SGG ersetzt, zu setzen. Ein solches Verwaltungsverfahren hat der Beklagte aber weder eingeleitet noch durchgeführt. Die Befugnis des Beklagten zur isolierten Aufhebung eines Widerspruchsbescheides ist während eines laufenden Gerichtsverfahrens auf den Fall beschränkt, daß der Widerspruchsbescheid eine neue eigenständige und selbständige Beschwer in Form der Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften enthält. Andernfalls würde dem Beklagten die Kompetenz eingeräumt, den Wegfall einer Prozeßvoraussetzung durch eine isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides zu bewirken, obwohl die Streitsache aus formellen Gründen entscheidungsreif ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
Erstellt am: 15.08.2003
Zuletzt verändert am: 15.08.2003