Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 11.03.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.03.2015 bis zum 31.08.2015 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu zahlen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwältin U beigeordnet.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die 1976 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben erstmals im Sommer 2012 nach Deutschland ein. Am 03.01.2014 ist sie in das Frauenhaus L aufgenommen worden. In L war sie von Februar 2014 bis April 2014 abhängig beschäftigt. Die Antragstellerin wohnt seit dem 12.09.2014 im Frauenhaus in P. Für die Monate September, Oktober, November und Dezember 2014 hat die Antragstellerin Abrechnungen des Frauenhauses eingereicht. Die Mietübernahme für das Frauenhaus in P steht aus. Nach dortiger Erklärung muss aufgrund fehlender Mietzahlung das Mietverhältnis möglicherweise beendet werden.
Die Antragstellerin beantragte erstmals im September 2014 bei dem Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Entsprechende Leistungen wurden ihr zunächst für den Zeitraum 12.09.2014 bis 31.10.2014 gewährt.
Am 23.09.2014 beantragte die Antragstellerin die Weitergewährung der Leistungen für die Zeit ab November 2014. Den Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 08.12.2014 ab, weil ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein zur Arbeitsuche vorliege und sie daher nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei. Gegen diese Ablehnung richtet sich der Widerspruch vom 17.12.2014. Die Antragstellerin trug vor, sie sei im Juni 2013 Opfer einer Gewalttat geworden und trete als Nebenklägerin in einem noch nicht abgeschlossen Strafverfahren auf. Ihr Aufenthalt in Deutschland diene nicht allein der Arbeitsuche.
Im Rahmen eines Eilverfahrens verpflichtete das Sozialgericht Duisburg (Az. S 26 AS 5110/14 ER) den Antragsgegner, der Antragstellerin vorläufig und bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum 28.02.2015, Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 391,00 Euro nebst Kosten der Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe zu gewähren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Ab November 2014 sei die Antragstellerin weder Arbeitnehmerin noch Selbständige noch nach § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt. Der Arbeitnehmerstatus bleibe bei einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr maximal für sechs Monate unberührt. Die Klägerin habe nach eigenen Angaben drei Monate gearbeitet. Soweit die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen herleiten wolle, könne dem nicht gefolgt werden, weil sie nach dem Sachvortrag nicht Opfer einer der in dem dortigen Katalog abschließend aufgeführten Straftaten geworden sei. Die gegen die Ablehnung gerichtete Klage ging am 28.01.2015 bei Gericht ein (Az. S 49 AS 354/15).
Am 05.02.2015 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Duisburg und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie halte sich nicht allein zur Arbeitsuche in Deutschland auf, weil sie Nebenklägerin in einem Strafverfahren sei. Sie sei im Juni 2013 Opfer einer Gewalttat geworden. Der Täter sei am 14.11.2014 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und sechs Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung und Menschenhandel verurteilt worden. Das Urteil sei nicht rechtskräftig, da der Angeklagte Berufung eingelegt habe. Sie lebe derzeit im Frauenhaus P; bis September habe sie im Frauenhaus L gelebt. Sie habe einige Monate in L gearbeitet, habe dann allerdings aufgrund einer erforderlichen Operation als Folge der Gewalttat die Kündigung erhalten. Nach Beendigung des Widerspruchsverfahrens (Einstellung der Leistungsgewährung) könne sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Die Krankenversicherung sei ungesichert, sie müsse sich aber dringend in stationäre Behandlung begeben.
Das Sozialgericht hat die Stadt P als Träger der Leistungen nach dem SGB XII beigeladen. Die Beigeladene hat sich unter dem 16.02.2015 bereit erklärt, der Antragstellerin bis zum Abschluss des Eilverfahrens unabweisbare Krankenhilfe im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 2 des SGB XII zu gewähren. Im Übrigen ist sie der Ansicht, die Antragstellerin sei nach § 21 Abs. 1 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel ausgeschlossen sei, weil sie als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sei.
Mit Beschluss vom 11.03.2015 hat das Sozialgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Die Antragstellerin sei als Arbeitsuchende ohne anderweitiges Aufenthaltsrecht sowohl von Leistungen nach dem SGB II als auch von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen.
Gegen den am 11.03.2015 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 13.03.2015. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei auf sie nicht anwendbar. Sie halte sich nicht nur zur Arbeitsuche in Deutschland auf, sondern sei Nebenklägerin in einem Strafverfahren. Im Übrigen verstoße die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen geltendes EU-Recht, insbesondere gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie. Sie sei hilfebedürftig. Aufgrund einer mehrmonatigen Gewalterfahrung sei sie derzeit arbeitsunfähig, aber nicht erwerbsunfähig.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Verpflichtung des Antragsgegners zur einstweiligen Erbringung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Antragstellerin abgelehnt.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es – wie hier – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 – L 7 AS 2162/14 und vom 10.09.2014 – L 7 AS 1385/14 B ER). Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind (BVerfG, Beschlüsse vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12; Beschluss des Senats vom 11.07.2014 – L 7 AS 1035/14 B ER).
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt die Antragstellerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, hat ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und den gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Antragstellerin gilt als erwerbsfähig nach §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II. Zwar ergeben sich Zweifel an der Erwerbsfähigkeit, weil die Antragstellerin nach eigenem Vortrag in Folge der Gewalttat physisch und psychisch derzeit nicht in der Lage sei, einer Arbeit nachzugehen. Arbeitsunfähigkeit ist aber mit Erwerbsunfähigkeit nicht gleichzusetzen. Im Übrigen wird die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin nach § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II fingiert. § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II unterstellt das Vorliegen der Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs nach dem SGB II (BSG, Urteil vom 02.04.2014 B 4 AS 26/13 R; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – BVerfGK 5,237).
Umstritten ist zwischen den Beteiligten daher allein, ob die Antragstellerin als Arbeitsuchende gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
Auf Grund der Komplexität der in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden Rechtsfragen kann die Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist.
Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze lässt sich dem beim BSG unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das vorgenannte Verfahren ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu den verschiedenen Fragen einzuholen, u.a., ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R, Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache B).
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 11.11.2014 (Az. C-333/13, Rechtssache Dano) die europarechtliche Konformität des in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelten Leistungsausschlusses nicht ausdrücklich bestätigt. Die Entscheidung des EuGH beruht ausdrücklich auf der Feststellung, dass Frau Dano sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die mit dem Ziel eingewandert sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen (Rn. 78 der Entscheidung). Eine Entscheidung des EuGH für Personen, bei denen die Arbeitsuche zu bejahen ist, steht noch aus (BSG EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache B).
Die Antragstellerin bemüht sich um Arbeit im Sinne der genannten Vorschrift. Sie hat bis zum 30.04.2014 gearbeitet und musste sich dann einer langwierigen Operation aufgrund der Folgen der Gewalttat unterziehen, jedoch versichert sie glaubhaft nach Abklingen ihrer Beschwerden wieder auf der Arbeitsuche zu sein.
Selbst wenn die Antragstellerin nicht als Arbeitsuchende anzusehen wäre, wäre im Wege der Folgenabwägung wie geschehen zu entscheiden, weil auch dann nicht sicher wäre, dass sie keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hat. Für diese Fallgestaltung (wirtschaftlich inaktive Unionsbürger) ist umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II tatbestandlich greift oder im Wege des "Erst-Recht"-Schlusses anzuwenden ist oder sich ein Leistungsanspruch in Anwendung deutschen Verfassungsrechts – ggfs. gegen die Beigeladene – ergibt (einen Leistungsanspruch bejahend LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13 und vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/14, Revision anhängig unter B 14 AS 33/14 R; zustimmend Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12; abweichend LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30.01.2014 – L 13 AS 266/13 B ER; jeweils mwN).
Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Hierbei sind die besondere Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragstellerin gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners, die vorläufig erbrachten Leistungen im Falle des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten, abzuwägen. Vorliegend tritt das Interesse des Antragsgegners hinter das Interesse der Antragstellerin zurück. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II dienen der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Ohne die beantragten Leistungen drohen der Antragstellerin für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, welche sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da der Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des erzielten Einkommens nicht gesichert ist. Der Antragsgegner hingegen hat allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Daher kann der Antragstellerin im Lichte des in Art. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebots des effektiven Rechtsschutzes und der Menschenwürde nicht zugemutet werden, ohne jede staatliche Existenzsicherung eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Beschlüsse des Senats vom 05.03.2015 – L 7 AS 2376, vom 22.01.2015 – L 7 AS 2162/14 und vom 08.09.2014 – L 7 AS 1231/14 B mit Verweis auf Beschluss vom 03.04.2013 – L 7 AS 2403/12 B und Beschluss vom 28.04.2014 – L 7 AS 550/14 B ER). Durch die zeitliche Beschränkung der vorläufigen Gewährung sind die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners begrenzt.
Der Antragssteller hat auch die Kosten der Unterkunft der Antragstellerin zu übernehmen. Im Hinblick auf die Situation der Antragstellerin als Gewaltopfer und ist dieser eine Beendigung des Mietverhältnisses durch das Frauenhaus nicht zumutbar. Dem Frauenhaus als öffentlich geförderter Institution ist es – bei Bejahung eines Anordnungsanspruchs – ebenfalls nicht zumutbar, dauerhaft auf die Mietkosten der Antragstellerin zu verzichten.
Die Rechtsverfolgung der Antragsstellerin hatte aus den dargelegten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten und die Antragstellerin ist nicht in der Lage, die Kosten der Rechtsverfolgung zu tragen. Prozesskostenhilfe war daher sowohl erst- als auch zweitinstanzlich zu bewilligen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 114, 115 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 13.05.2015
Zuletzt verändert am: 13.05.2015