Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.11.2017 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe der großen Witwenrente der Klägerin.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und übersiedelte im Januar 1995 in die Bundesrepublik Deutschland. Sie heiratete am 00.00.0000 den am 00.00.0000 in Oberschlesien geborenen D (im Folgenden: Versicherter).
Der Versicherte war 1988 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Er verstarb am 00.00.2013. Von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland bezog er seit dem 01.04.2005 bis zu seinem Tode eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Anwendung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 09.10.1975 (DPRA 1975, BGBl 1976 II 396) auf der Basis von 43,6560 persönlichen Entgeltpunkten.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin auf deren Antrag vom 08.07.2013 große Witwenrente mit Bescheid vom 14.01.2014, beginnend am 01.08.2013, auf der Grundlage von 30,2838 persönlichen Entgeltpunkten. Mit Bescheid vom 04.08.2014 berechnete die Beklagte die Rente ab 30.06.2014 neu, da sich das mit der Rente zusammentreffende Einkommen geändert habe.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.08.2014 stellte die Beklagte die Rente ab 01.08.2013 neu fest. Die Rente werde neu festgestellt, weil ausländische Versicherungszeiten zu berücksichtigen seien. Die Rente wurde aus innerstaatlicher Rente mit persönlichen Entgeltpunkten von 30,2839 und zwischenstaatlicher Rente mit persönlichen Entgeltpunkten von 30,2207 ermittelt.
Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin u.a. geltend, der Versicherte habe eine Altersrente auf der Basis von insgesamt 43,6560 Entgeltpunkten bezogen. Der Berechnung der großen Witwenrente seien diese zugrunde zu legen. Der Anspruch folge aus der Besitzschutzregelung des § 88 Abs 2 S 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Dieser Regelung stehe nicht Art 27 Abs 1 S 1 und Abs 2 S 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 08.12.1990 (DPSVA 1990, BGBl 1991 II 743) entgegen. Die Klägerin berief sich auf ein Urteil des 18. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28.01.2014 – L 18 KN 57/13.
Die Beklagte berechnete die große Witwenrente neu mit Bescheid vom 27.11.2014 ab dem 01.08.2013, mit Bescheid vom 17.07.2015 ab dem 01.07.2014.
Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 29.08.2014 in der Fassung des Bescheides vom 27.11.2014 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2015 zurück. Die Klägerin habe weder Anspruch auf Ermittlung der Hinterbliebenenrente auf der Basis von 43,6560 persönlichen Entgeltpunkten noch könne sie ihren Anspruch auf die Besitzschutzregelung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI stützen. Die Klägerin sei erst nach dem 31.12.1990, nämlich am 00.00.1995 nach Deutschland gezogen. Deshalb sei hinsichtlich der Prüfung der Berücksichtigungsfähigkeit der ausländischen Versicherungszeiten nicht das DPRA 1975, sondern das Fremdrentengesetz (FRG) in Verbindung mit den Europäischen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnungsrecht – EWGV) zu beachten. Die Klägerin könne keinen Besitzschutz nach der innerstaatlichen Vorschrift des § 88 Abs 2 SGB VI aus der festgestellten Altersrente des verstorbenen Versicherten geltend machen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen.
Die Beklagte berechnete die große Witwenrente mit Bescheid vom 10.03.2016 ab dem 01.02.2016 sowie mit Bescheid vom 13.05.2016 ab dem 17.11.2015 neu.
Mit ihrer am 24.08.2015 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Witwenrente sei auf der Grundlage der Entgeltpunkte des verstorbenen Versicherten zu berechnen. Nach § 88 Abs 2 S 1 SGB VI seien bei der Hinterbliebenenrente mindestens die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte des verstorbenen Versicherten zugrunde zu legen.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 14.01.2014 in Gestalt des Bescheides vom 04.08.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2015 teilweise aufzuheben und eine große Witwenrente ab 01.08.2013 unter Berücksichtigung weiterer 13,3516 persönlicher Entgeltpunkte zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat an ihrer Auffassung festgehalten und hervorgehoben, dass das DPRA 1975 auf den Berechtigten abstelle. Die nach dem Abkommen nicht leistungsberechtigte Witwe könne keinen Besitzschutz nach der innerstaatlichen Vorschrift des § 88 Abs 2 SGB VI herleiten. Zwar werde die Rente auf der Grundlage des SGB VI berechnet. Die Bewertung ausländischer Versicherungszeiten erfolge jedoch ausschließlich unter Beachtung der jeweils vorhandenen Abkommen und der ergänzenden Richtlinien zur Eingliederung der Zeiten in das deutsche Recht.
Mit Urteil vom 24.11.2017 hat das Sozialgericht der Klage stattgegen und die Beklagte verurteilt, der Klägerin große Witwenrente ab dem 01.08.2013 unter Berücksichtigung von weiteren 13,3516 persönlichen Entgeltpunkten zu gewähren. Die Kammer ist uneingeschränkt der Begründung des 18. Senats des LSG NRW in dessen Urteil vom 28.01.2014 – L 18 KN 57/13 gefolgt.
Gegen dieses ihr am 14.12.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.12.2017 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht übersehe, dass die Nichtanwendung des DPRA 1975 durch Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 eine Rechtsfolge aufgrund einer zwischenstaatlichen Regelung sei. Die geforderte Anwendung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI würde diese Vereinbarung einseitig ändern. Aus Art 25 und Art 59 Abs 2 Grundgesetz ergebe sich, dass eine Vereinbarung zweier Abkommenspartner nicht durch Gerichte eines Staates einseitig geändert werden könnten, vgl. BSG Urteil vom 10.07.2012 – B 13 R 17/11 R, Rn 17. Die Regelung des DPRA 1975 i.V.m. Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 gelte gem. Art 8 Abs 1 S 1 bis 3 EGV 883/2004 i.V.m. mit Anhang II, vgl. BSG, a.a.O., Rn 26 ff.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.11.2017 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält an ihrer bislang vertretenen Auffassung fest. Zutreffend führe das Sozialgericht aus, aufgrund des DPRA 1975 erworbene Ansprüche und Anwartschaften würden durch das DPSVA 1990 nicht berührt, solange die Person, die diese erworben habe, auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland beibehalte. Dies sei hier der Fall, da der Versicherte seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Stichtag begründet gehabt habe. Die Vorschriften des Art 17 und des Art 18 DPSVA 1990 seien keine Anrechnungs- bzw. Kürzungsvorschriften. Damit würde die Regelung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI die zwischenstaatliche Vereinbarung auch nicht einseitig ändern.
Die Verwaltungsakte der Beklagten hat neben der Prozessakte vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Klägerin ab dem 01.08.2013 große Witwenrente auf der Grundlage von 43,6560 Entgeltpunkten zusteht und die Beklagte dementsprechend verpflichtet, große Witwenrente ab diesem Zeitpunkt unter Berücksichtigung weiterer 13,3516 persönlichen Entgeltpunkten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Denn der großen Witwenrente der Klägerin sind die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte des verstorbenen Versicherten zugrunde zu legen.
Hat der verstorbene Versicherte eine Rente aus eigener Versicherung bezogen und beginnt spätestens innerhalb von 24 Kalendermonaten nach Ende des Bezugs dieser Rente eine Hinterbliebenenrente, werden ihr mindestens die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte des verstorbenen Versicherten zugrunde gelegt, § 88 Abs 2 S 1 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.02.2002 (BGBl I 754).
Unstreitig hat der verstorbene Versicherte eine Rente aus eigener Versicherung auf der Basis von 43,6560 persönlichen Entgeltpunkten bezogen und beginnt die Hinterbliebenenrente der Klägerin innerhalb von 24 Kalendermonaten nach Ende des Bezugs dieser Rente, nämlich am 01.08.2013 nach dem Tod des Versicherten am 01.07.2013.
Somit sind die Voraussetzungen der Besitzschutzregelung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI für die Hinterbliebenenrente der Klägerin rein tatsächlich erfüllt. Der Besitzschutz gilt nach dem Wortlaut des Gesetzes in der hier anzuwendenden Fassung nicht für den Zahlbetrag, wie dies die Vorgängervorschrift geregelt hat, sondern ausdrücklich für die persönlichen Entgeltpunkte der vorausgehenden Rente.
Auch zur Überzeugung des Senats spielt es für die Anwendung dieser Besitzschutzregelung auf die Hinterbliebenenrente nach § 46 SGB VI nach keine Rolle, dass die Klägerin erst am 16.01.1995 und damit nach dem Stichtag des 31.12.1990 aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland verzogen ist. Insbesondere verhindert die Regelung des Art 27 DPSVA 1990 nicht die Anwendung des § 88 SGB VI.
Sinn und Zweck der Besitzschutzregelung bei Hinterbliebenenrenten ist die Sicherung des Lebensstandards. Besitzschutz kommt nach der Norm deshalb nur in Betracht, wenn der Besitz durch den tatsächlichen Bezug der Versichertenrente bereits begründet war (KassKomm/Gürtner § 88 SGB VI Rn 13, Stand 01.05.2018). Im Falle des Bezugs einer Versichertenrente sind dann die persönlichen Entgeltpunkte dieser Rente, aus der sich die Hinterbliebenenrente ableitet, besitzgeschützt zu übernehmen.
In diesem Zusammenhang hat das Sozialgericht in seinen Entscheidungsgründen zutreffend darauf hingewiesen, dass § 88 Abs 2 SGB VI einerseits und Art 27 Abs 2 S 1 DPSVA 1990 andererseits Bestands- bzw. Vertrauensschutz für unterschiedliche Bereiche enthalten. Denn Art 27 Abs 2 S 1 DPSVA 1990 schützt (abstrakt) das Vertrauen derjenigen Personen, bei denen die Überführung ihrer Rentenanwartschaften in das deutsche Rentensystem für die Ausreise (wesentlich mit-)ursächlich gewesen sein mag. § 88 Abs 2 schützt demgegenüber das Vertrauen des Hinterbliebenen in den Fortbestand des Lebensstandards nach dem Tod des Ehepartners, den dessen Rente maßgeblich mitgeprägt hat.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass nach dem Wortlaut des Art 27 Abs 1 S 1 DPSVA 1990 das Abkommen im Bereich der Rentenversicherung für alle Ansprüche aus Versicherungszeiten gilt, die nach dem 31.12.1990 im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates zurückgelegt werden oder eintreten. Es trifft ferner zu, dass der Anspruch der Klägerin auf große Witwenrente erst mit dem Tod ihres Ehemannes entstanden ist.
Die Beklagte muss sich aber entgegenhalten lassen, dass bereits der Wortlaut des Art 27 Abs 1 und 2 DPSVA 1990 ihre Auffassung nicht stützt. Weder die weiteren Absätze des Art 27 DPSVA 1990 noch der Standort dieser Vorschrift im Normgefüge des Abkommens ergeben Anknüpfungspunkte für die Annahme einer der Anwendung des § 88 Abs 2 SGB VI entgegenstehenden Sonderregelung für Hinterbliebenenrenten von Polen, die ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben.
Allein die Tatsache, dass sich Art 27 DPSVA 1990 in einem (in nationales Recht transformierten) bilateralen Abkommen befindet, führt nicht dazu, dass die darin enthaltenen Vorschriften aus systematischen Gründen Sondervorschriften zu innerstaatlichen gleichrangigen Gesetzen sind. Schließlich ist die Regelung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI durch Art 85 Abs 1 RRG 1992 zum 01.01.1992 in Kraft getreten, damit nach Inkrafttreten des DPSVA 1990 in Deutschland zum 19.06.1991 (Art 6 des Zustimmungsgesetzes vom 18.06.1991, BGBl II 741) bzw. Inkrafttreten des bilateralen Abkommens zum 01.10.1991 (BGBl II 1072). Der erkennende Senat stimmt auch insofern mit der Entscheidung des 18. Senats des LSG NRW vom 28.01.2014 – L 18 KN 57/13 überein.
Schließlich ist festzustellen, dass durch die Anwendung des § 88 Abs 2 SGB VI auf den vorliegenden Sachverhalt keine Belastungen für den polnischen Sozialversicherungsträger entstehen. Der nationale Gesetzgeber trifft damit keine den polnischen Sozialversicherungsträger belastende Regelung. Er nimmt lediglich aus Vertrauensschutzgesichtspunkten und zur Sicherung des Lebensstandards nach dem Tod des Ehepartners Mehrbelastungen der Solidargemeinschaft im Bereich der nationalen Regelungen des SGB VI in Kauf.
In Ausführung dieses Urteils sind somit abzuändern die Bescheide vom 29.08.2014, 27.11.2014, 17.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2015 sowie die Bescheide vom 10.03.2016 und 13.05.2016.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs 2 Nrn 1 oder 2 SGG.
Erstellt am: 05.05.2020
Zuletzt verändert am: 05.05.2020