Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 08. November 1991 abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989 aufgehoben. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen beider Rechtszüge trägt die Beklagte. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Als Rechtsnachfolgerinnen der am 13. November 1995 in Chile verstorbenen S … B … – Versicherte – wenden sich die Klägerinnen zu 1) und 2) gegen die vorläufige Einstellung der Rentenzahlungen (Witwenrente und Altersruhegeld) an die Versicherte.
Die ehemalige Beklagte (LVA Westfalen) gewährte der Versicherten mit Bescheid vom 08. Januar 1970 Hinterbliebenenrente nach ihrem am 30. Oktober 1969 verstorbenen Ehemann P … B … Ab 01. Januar 1984 bezog die Versicherte von der ehemaligen Beklagten Altersruhegeld.
Am 01. August 1975 verlegte die Versicherte ihren Wohnsitz von G … nach Chile, wo sie als deutsche Staatsangehörige in der "Socieda Benefactora y Educacional Dignidad" (der sogenannten Colonia Dignidad, im folgenden CD) in der Gemeinde P … wohnt.
Die Rente wurde auf das Konto der Versicherten bei der Deutschen Bank in S … überwiesen (Kontonummer …).Die Versicherte übersandte die von der ehemaligen Beklagten jährlich erbetenen mit einem Legalisierungsvermerk der deutschen Botschaft in Santiago de Chile versehenen Lebens- und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen.
Im September 1987 übersandte die Versicherte die Bescheinigung ohne Legalisierungsvermerk einer deutschen Auslandsvertretung mit dem Hinweis, die deutsche Botschaft in Santiago de Chile habe die von der örtlichen Polizeibehörde erteilte Bescheinigung, die ihr zur Legalisierung übersandt worden sei, ohne den Legalisierungsvermerk zurückgesandt und sich dabei auf eine ihr (der Versicherten) nicht bekannte "Mitteilung des Versorgungsamtes B …" bezogen. Sie könne im Alter von 76 Jahren nicht mehr bei der 400 km entfernt liegenden Botschaft persönlich vorsprechen. Eine weitere unter dem 10. November 1987 legalisierte Lebensbescheinigung vom 12. August 1987 ging beim Versorgungsamt B … am 08. Dezember 1987 ein.
Am 22. Februar 1988 führte der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages, Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, eine öffentliche Anhörung zu dem Thema durch, ob sich deutsche Staatsangehörige unfreiwillig und unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen in der CD in Chile befänden. Diese Frage wurde von der überwiegenden Zahl der vom Untersuchungsausschuß gehörten Auskunftspersonen bejaht, von dem Arzt Dr. H …, der die CD vertrat, aber bestritten. Nach dem Ergebnis dieser öffentlichen Anhörung ergab sich der Verdacht, bei Einwohnern der CD könne infolge von physischer und psychischer Zwangseinwirkung ein die Geschäftsfähigkeit im Sinne von § 104 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) berührender Zustand der Fremdbeherrschung erreicht und nicht mehr sichergestellt sein, daß ihnen die Renten wirklich zuflössen.
Mit Schreiben vom 09. September 1988 wies die ehemalige Beklagte die Versicherte u.a. auf die Ergebnisse der Anhörung in dem vorgenannten Untersuchungsausschuß sowie auf ihre Zweifel daran hin, ob ihr die Renten auch tatsächlich zuflössen bzw. ob sie ihre Renten wirksam abgetreten habe. Sie, die Beklagte, sei gehalten, u.a. dem Verdacht einer unzulässigen Umgehung der Abtretungsregelungen nachzugehen. § 53 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) erlaube eine Abtretung im Interesse des Berechtigten nur bis zur Höhe eines bestimmten Betrages; keinesfalls dürfe dem Berechtigten die Rente, soweit sie der Sicherung des Existenzminimums diene, entzogen werden. Ferner seien Zweifel daran aufgetreten, ob bei ihr eine für den Weiterbezug der Renten erforderliche ordnungsgemäße Lebensbescheinigung vorliege. Die Klärung der vorgenannten Fragen sei angesichts der Verdachtsmomente nur in einem per sönlichen Gespräch mit ihr möglich. Zu dieser Mitwirkung sei sie nach § 61 SGB I verpflichtet. Danach habe der Rentner auf Veranlassung des Leistungsträgers persönlich zu erscheinen, sofern es um die Klärung von Zweifelsfragen über das Vorliegen der Voraussetzungen für den weiteren Rentenbezug gehe. Die Versicherte werde gebeten, am 23. November 1988 ab 9.00 Uhr im Hotel I … R … in Ch. vorzusprechen. Die Fahrtkosten würden erstattet. Sollte sie zu diesem persönlichen Gespräch nicht erscheinen, sehe sie, die Beklagte, sich gezwungen, von der gesetzlichen Regelung des § 66 SGB I Gebrauch zu machen. Danach könne der Leistungsträger, sofern der Rentner seiner Mitwirkungspflicht nach § 61 SGB I nicht nachkomme, die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ohne weitere Ermittlung ganz oder teilweise versagen oder entziehen. Den vollständigen Wortlaut des § 66 SGB I könne die Versicherte aus der beiliegenden Anlage ersehen. Sollte die Versicherte aus gesundheitlichen Gründen verhindert sein, nach Ch. zu reisen, werde um Mitteilung und Erlaubnis zu einem Hausbesuch gebeten.
Im September 1988 ging bei der ehemaligen Beklagten eine weitere Lebensbescheinigung vom 23. August 1988 ein, die durch zwei chilenische Ministerien und das chilenische Konsulat in Bonn am 05. September 1988 bestätigt worden war.
Mit Schreiben vom 07. November 1988 lehnte ein chilenischer Rechtsanwalt die Teilnahme der Versicherten an einem Gespräch mit der ehemaligen Beklagten ab und bestritt die im Anhörungstermin des genannten Unterausschusses des Bundestages erhobenen Anschuldigungen gegen die CD. In dem Schreiben heißt es weiter, da die deutsche Botschaft in Santiago sich geweigert habe, die vom chilenischen Justiz- und Außenministerium legalisierte Unterschrift des chilenischen Notars auf der Lebensbescheinigung für den deutschen Rechtsverkehr nochmals zu legalisieren, habe die Versicherte die Legalisierung durch das chilenische Konsulat in Bonn erbeten und erhalten. Mit der Übersendung dieser Lebensbescheinigung habe sie ihrer insoweit bestehenden Mitwirkungspflicht nach § 61 SGB I voll genügt. Dem Schreiben war u.a. eine von der Versicherten vor einem chilenischen Notar abgegebene eidesstattliche Erklärung beigefügt, in der es u.a. heißt, sie erhalte ihre Rente auf ihr Konto Nummer … bei der Kreissparkasse S … und verfüge frei darüber. Sie habe ihre Rente niemals ganz oder teilweise abgetreten.
Nachdem die Vertreter der ehemaligen Beklagten am 23. November 1988 in Ch. vergeblich auf das Erscheinen der Versicherten gewartet hatten, stellte die ehemalige Beklagte durch Bescheid vom 24. Januar 1989 die Rentenzahlungen an die Versicherte aus den beiden Renten mit Ablauf des Monates Februar 1989 vorläufig mit der Begründung ein, da die Versicherte die ihr gebotene Gelegenheit zu einem Gespräch über die geäußerten Zweifel (Frage der Lebensbescheinigung bzw. der wirksamen Abtretung der Rente) nicht wahrgenommen habe, habe sie – die Beklagte – sich zu diesem Schritt gezwungen gesehen. Die Rentenzahlungen (einschließlich der Nachzahlungsbeträge) würden unverzüglich wieder aufgenommen, so bald die Berechtigung der Versicherten zum Weiterbezug der Renten in einem persönlichen Kontaktgespräch mit der deutschen Botschaft festgestellt werden könne, wobei die Versicherte auch selbst aufgesucht werden könne.
Gegen diesen Bescheid erhob die Versicherte innerhalb der ihr gesetzten Frist von drei Monaten nach Zustellung am 09. März 1989 Widerspruch und bat um Mitteilung, aus welchen Gründen Zweifel an der Lebensbescheinigung bzw. an einer wirksamen Abtretung der Rente aufgetreten sein sollte. Vorsorglich bat sie um Überlassung einer etwaigen Abtretungserklärung. Im übrigen sei die vorläufige Einstellung der Rentenzahlung ohne Rechtsgrund erfolgt und in jedem Falle völlig unverhältnismäßig. Sie gerate dadurch in existenzielle Schwierigkeiten und fordere die ehemalige Beklagte aus diesem Grunde auf, die Rentenzahlungen, die auch zu Händen ihre Prozeßbevollmächtigten erfolgen könnten, umgehend wieder aufzunehmen.
Zur Begründung ihres ablehnenden Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989 – per Einschreiben am 17. Mai 1989 abgesandt – führte die ehemalige Beklagte aus, die Rentenzahlungen seien mit dem angefochtenen Bescheid eingestellt worden, da Zweifel an der Richtigkeit der vorliegenden Lebensbescheinigung aufgekommen seien. Die Versicherte habe keine für den Weiterbezug der Renten ordnungsgemäß ausgestellte Lebensbescheinigung vorgelegt. Werde die Bescheinigung – wie hier – durch eine ausländische Stelle ausgestellt, könne der Versicherungsträger bei deutschen Staatsangehörigen die Legalisierung durch eine deutsche Auslandsvertretung verlangen. Eine solche mit Legalisierungsvermerk einer deutschen Auslandsvertretung versehene Lebensbescheinigung habe sie nicht vorgelegt. Da die Versicherte den angebotenen Gesprächstermin am 23. November 1988 in Ch. nicht wahrgenommen und auch keinen Ausweichtermin genannt habe, hätten die Rentenzahlungen auch aus diesem Grunde eingestellt werden müssen. Aus ihrer Widerspruchsschrift ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art.
Zur Begründung ihrer am 19. Juni 1989 erhobenen Klage hat die Versicherte vorgetragen, entgegen der Auffassung der ehemaligen Beklagten sei es für die Legalisierung der Lebensbescheinigung nicht erforderlich, daß sie persönlich bei der deutschen Botschaft in Santiago de Chile erscheinen müsse. Sie habe ihre Lebensbescheinigung mit der Unterschrift des chilenischen Notars, wonach dieser ihr persönliches Erscheinen bescheinigt habe, über den rechtlich vorgeschriebenen Legalisationsweg durch das chilenische Justiz- und Außenministerium bestätigen lassen. Wenn die deutsche Botschaft zur Legalisierung ihr persönliches Erscheinen verlangt habe, so sei das nicht gerechtfertigt, da es insoweit lediglich um eine Beglaubigung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Beurkundung der ausländischen Stelle gegangen sei. Das folge aus § 13 Konsulargesetz, wonach die Legalisierung einer ausländischen öffentlichen Urkunde ausschließlich dazu diene, die Echtheit von Unterschrift und Siegel sowie die Eigenschaft, in welcher der Unterzeichner der Urkunde gehandelt habe, zu bestätigen. Nach der rechtswidrigen Verweigerung der Legalisierung durch die deutsche Botschaft sei ihr kein anderer Weg geblieben, als die Lebensbescheinigung durch die chilenische Botschaft in Bonn legalisieren zu lassen. Damit habe sie alle ihr obliegenden Mitwirkungspflichten erfüllt. Wegen ihres angegriffenen gesundheitlichen Zustandes sei ihr weder eine Reise nach Santiago de Chile noch zum Gesprächstag nach Ch. von über 100 km zuzumuten gewesen.
Darauf, daß das Direktorium der CD weitere Besuche amtlicher deutscher Vertreter und Kommissionen abgelehnt habe, habe sie persönlichen keinen Einfluß, sie habe auch keine Kenntnis der diesbezüglich geführten entsprechenden Korrespondenzen. Diese ablehnende Haltung habe sie auch nicht zu vertreten.
Zweifel an dem tatsächlichen Erhalt der Rentenzahlungen könnten eine Entziehung der Renten nach § 66 Abs. 1 SGB I überhaupt nicht rechtfertigen. Im übrigen dürften Sozialleistungen nach § 66 Abs. 3 SGB I nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf die Folgen schriftlich hingewiesen worden sei. Ein derartiger konkreter Hinweis sei nicht erfolgt. Ebenso fehle es an der erforderlichen Festsetzung zur Nachholung der Mitwirkungsverhandlung. Die ehemalige Beklagte habe auch ermessensfehlerhaft gehandelt, indem sie die Rentenzahlungen vollständig eingestellt habe. Dadurch sei ihr Lebensunterhalt nicht mehr gesichert. Es hätten noch andere Wege offen gestanden, um sicherzustellen, daß die Rente sie tatsächlich erreiche.
Die Versicherte hat eine von der deutschen Botschaft in Santiago de Chile legalisierte Lebensbescheinigung vom 14. August 1991 vorgelegt.
Die Versicherte hat beantragt,
den Bescheid vom 24. Januar 1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989 aufzuheben.
Die ehemalige Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig gehalten.
Mit Urteil vom 08. November 1991 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das ihr am 11. Dezember 1991 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Versicherten vom 13. Januar 1992, einem Montag.
Die Klägerinnen, die nach dem gemeinschaftlichen Erbschein des Amtsgerichts Düsseldorf vom 30. Mai 1996 die am 13. November 1995 verstorbene Versicherte zu je 1/2 Anteil beerbt haben, tragen zur Begründung der Berufung vor, abgesehen davon, daß das Schreiben der ehemaligen Beklagten vom 09. September 1988 nicht den Anforderungen des § 66 Abs. 3 SGB I genüge, fehle es in den angefochtenen Bescheiden an konkreten, nachvollziehbaren Ausführungen über eine ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens. Es hätte auch berücksichtigt werden müssen, daß die Versicherte eine von der deutschen Botschaft in Santiago de Chile ausgestellte Lebensbescheinigung vom 14. August 1991 vorgelegt habe. Wenn die ehemalige Beklagte die Leistungen dennoch nicht wiederaufgenommen habe, so zeige das, daß es in Wirklichkeit nicht um ihren konkreten Fall, sondern um die Durchsetzung politischer Ziele gehe.
Die Klägerinnen beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 08. November 1991 abzuändern und den Bescheid vom 24. Januar 1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989 aufzuheben.
Die nach dem am 01. Januar 1994 in Kraft getretenen deutsch-chilenischen Abkommen über Rentenversicherung gemäß Art. 21 Abs. 2 und 3 als Verbindungsstelle für die Durchführung des Abkommens zu ständig gewordene Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz ist im Wege des Parteiwechsels kraft Gesetzes anstelle der bisherigen Beklagten in deren Rechte und Pflichten eingetreten und führt den Rechtsstreit als jetzige Beklagte fort. Sie beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, entgegen der Auffassung der Klägerinnen sei § 66 SGB I fehlerfrei angewandt worden. Die Versicherte sei den mehrfachen Aufforderungen der deutschen Botschaft, persönlich ihre Unterschrift zu leisten, damit der Legalisierungsvermerk habe erstellt werden können, nicht gefolgt. Auch die Möglichkeit, den angereisten Vertreter der Botschaft an ihrem Wohnort zu sprechen, habe sie nicht wahrgenommen. Mit ihrem Schreiben vom 09. September 1988 habe die ehemalige Beklagte auch den Anforderungen des § 66 Abs. 3 SGB I hinsichtlich der Fristsetzung und der Folge einer fehlenden Mitwirkung entsprochen. Der Versicherten sei im Schreiben hinreichend bedeutet worden, welche Sanktion des § 66 Abs. 3 SGB I eintreten würde. Wenn keine ordnungsgemäße Lebensbescheinigung vorliege, also ungewiß sei, ob der Versicherte überhaupt noch lebe, könne als logische Folge ausschließlich die vollständige Entziehung der Rente in Betracht kommen. Nur so habe das Schreiben vom 09. September 1988 von der Versicherten verstanden werden können. Daß sie es tatsächlich auch so aufgefaßt habe, ergebe sich aus dem Schreiben des chilenischen Anwaltes vom 07. November 1988. Denn darin heiße es, die Beklagte habe kein Recht "zur Einstellung der Rentenzahlung". Deswegen habe die Versicherte durch die spätere Entscheidung über die Rentenentziehung nicht überrascht sein können. Die frühere Beklagte habe auch ermessensfehlerfrei entschieden, denn ihr Ermessen sei auf Null reduziert gewesen, weil eine andere Entscheidung wegen des Fehlens einer legalisierten Lebensbescheinigung gar nicht möglich gewesen sei. Im übrigen habe die Versicherte die ehemalige Beklagte daran gehindert, ggfs. weitere Ermessenserwägungen anzustellen, weil sie die Möglichkeit, mit dem angereisten Botschaftsvertreter zu sprechen, nicht wahrgenommen habe. Wenn sie sich unter diesen Umständen darauf berufe, die ehemalige Beklagte habe nicht ermessensfehlerfrei entschieden, sei dies rechtsmißbräuchlich und ein grober Verstoß gegen Treu und Glauben.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozeßakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerinnen ist begründet. Der Entziehungsbescheid der ehemaligen Beklagten vom 24. Januar 1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989 waren aufzuheben, weil die ehemalige Beklagte zu Unrecht die Renten der Versicherten entzogen hat.
Nach dem am 01. Januar 1994 in Kraft getretenen deutsch-chilenischen Abkommen über Rentenversicherung ist die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz im vorliegenden Fall als Verbindungsstelle zuständig geworden, weil sich die Versicherte im Hoheitsgebiet der Republik Chile gewöhnlich aufhält (Art. 21 Abs. 2 und 3 des Abkommens). Prozeßrechtlich führt der Zuständigkeitswechsel nicht zu einer unzulässigen Klageänderung, sondern zu einem Parteiwechsel kraft Gesetzes (Fall der Funktionsnachfolge). Richtige Beklagte ist nunmehr allein die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (BSGE 7, 60 f.; BSG SozR 1200 § 48 SGB I Nr. 14).
Die ehemalige Beklagte war nicht berechtigt, der Versicherten die ihr gewährten Renten nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I zu entziehen.
Nach Maßgabe dieser Vorschrift kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise (versagen oder) entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung erhält, seinen Mitwirkungspflichten u.a. nach § 61 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert wird. Darüber hinaus dürfen nach § 66 Abs. 3 SGB I Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur (versagt oder) entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessen Frist nachgekommen ist.
Der streitige Verwaltungsakt ist eine Leistungsentziehung im Sinne dieser Vorschrift. Zwar lautet der Verfügungssatz des Bescheides vom 24. Januar 1989, die Rentenzahlungen aus den beiden Renten würden mit Ablauf des Monats Februar 1989 vorläufig eingestellt. Dies könnte auf den Erlaß eines einstweiligen Verwaltungsaktes ebenso hindeuten, wie die Zusage der ehemaligen Beklagten, die Rentenzahlung unverzüglich wiederaufzunehmen und die Nachzahlungsbeträge anzuweisen, sobald das persönliche Gespräch stattgefunden habe und die Rentenberechtigung festgestellt sei. Gegenstand der gerichtlichen Prüfung ist aber gemäß § 95 Sozialgerichtsgesetz – SGG – der ursprüngliche Verwaltungsakt nur in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1989. Darin ist aber die vorgenannte Zusage nicht wiederholt, sondern auf das Hinweisschreiben vom 09. September 1988 abgestellt worden, in dem eine Regelung nach § 66 SGB I in Aussicht gestellt worden war. Demgemäß sind die streitigen Verwaltungsentscheidungen so zu verstehen, daß die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Regelung 2 SGB I vorgesehene Rechtsfolge gesetzt werden sollte, nämlich "die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen" (BSG, Urteile vom 22.02.1995 – 4 RA 44/93 und 4 RA 44/94).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Versicherte entgegen der Auffassung der Klägerinnen ihre Mitwirkungspflicht verletzt hat, indem sie den von der ehemaligen Beklagten angebotenen Gesprächstermin vom 23. November 1988 nicht wahrgenommen hat. Jedenfalls ist entgegen der Auffassung der Beklagten die Entziehung der Renten jedenfalls schon deswegen rechtswidrig gewesen, weil die Versicherte nicht in der nach § 66 Abs. 3 SGB I erforderlichen Weise auf die in ihrem Fall zu erwartende Folge des Nichterscheinens hingewiesen worden ist. Im Gegensatz zu den beiden vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen, im übrigen vergleichbaren Fälle (BSG a.a.O.), in denen die dortige Beklagte die Klägerinnen im Schreiben vom 08. September 1988 unmißverständlich und konkret darauf hingewiesen hatte, die Rente würde ihnen im Sinne vom § 66 SGB I entzogen, wenn sie zu dem angebotenen Gesprächstermin persönlich nicht erschienen und auch mit einem Hausbesuch einverstanden seien, hat sich die ehemalige Beklagte im vorliegenden Verfahren in ihrem Schreiben vom 09. September 1988 damit begnügt, der Versicherten mitzuteilen, daß ihr die Renten ganz oder teilweise entzogen werden müßten, wenn sie ihrer Mitwirkungspflicht nach § 61 SGB I nicht nachkomme. Den vollständigen Wortlaut des § 66 SGB I könne sie aus der beiliegenden Anlage ersehen. Das genügt den Anforderungen einer konkreten Hinweispflicht nicht. Denn der Hinweis darf sich nicht auf die Wiederholung des Gesetzes wortlautes oder Belehrungen allgemeiner Art beschränken; er muß vielmehr anhand der dem Leistungsträger durch § 66 Abs. 1 und 2 SGB I eingeräumten Entscheidungsmöglichkeiten unmißverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnen, die im Einzelfall beabsichtigt ist, wenn der Betroffene dem Mitwirkungsverlangen innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommt. Fehlt wie hier der Hinweis, welches Ausmaß die Entziehung im Fall der Versicherten haben werde, ist nicht gewährleistet, daß der Betroffene in Kenntnis der ihm drohenden Folgen seiner Haltung überdenkt (BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13). Auf diese Entscheidung hat das BSG in den beiden oben erwähnten Entscheidungen noch einmal ausdrücklich hingewiesen.
Der Einwand der Beklagten, solange nicht geklärt gewesen sei, ob die Versicherte überhaupt noch lebe, sei als logische Folge nur die vollständige Entziehung der Renten in Betracht gekommen, liegt neben der Sache. Die ehemalige Beklagte hätte durch Rückfrage bei der deutschen Botschaft in Santiago des Chile sich vergewissern können, ob sie die vorgelegte Lebensbescheinigung gelten lassen wollte. Erst in letzterem Falle hätte sie auch insoweit die Mitwirkung der Versicherten verlangen können. Diese Rückfrage bei der deutschen Botschaft ist jedoch unterblieben, obwohl die ehemalige Beklagte dazu allen Anlaß hatte! Entgegen der vom deutschen Konsul in Santiago de Chile am 28. September 1987 fernmündlich geäußerten Auffassung, die Legalisierung der Lebensbescheinigung sei nicht möglich, weil die Unterschrift "gekauft" sein könnte, ist die Lebensbescheinigung vom 12. August 1987 von der deutschen Auslandsvertretung am 10. November 1987 legalisiert worden. Die ehemalige Beklagte hätte sich gedrängt fühlen müssen, die Gründe für diese widersprüchliche Sachbehandlung aufzuklären.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die ehemalige Beklagte bei der Entziehung der Renten außerdem nicht ermessensfehlerfrei entschieden. Vielmehr hat sie das ihr nach § 66 Abs. 1 SGB I ob liegende Ermessen überhaupt nicht ausgeübt. Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden darüber, warum die Renten ganz und nicht nur teilweise entzogen wurden, wären schon deswegen erforderlich gewesen, weil die ehemalige Beklagte in ihrem Schreiben an die Klägerin vom 09. September 1988 offengelassen hatte, welche der beiden Möglichkeiten sie im Falle der unterbliebenen Mitwirkung ergreifen werde. Zudem hätte sich die ehemalige Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1989 im Rahmen ihres Ermessens mit dem Vortrag der Versicherten in ihrer Begründung des Widerspruchs auseinandersetzen müssen, sie gerate durch die Entziehung der beiden Renten in existenzielle Schwierigkeiten; wenn Zweifel am ordungsgemäßen Zufluß der Renten bestünden, sei sie damit einverstanden, wenn die Zahlungen zu Händen ihres Prozeßbevollmächtigten erfolgten. Stattdessen hat die ehemalige Beklagten sich im Widerspruchsbescheid ohne Begründung auf den Standpunkt gestellt, aus der Widerspruchsschrift ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte rechtlicher und tatsächlicher Art.
Der Senat läßt es dahingestellt, ob die Versicherte überhaupt verpflichtet werden konnte, an einer in Chile – also einem fremden Hoheitsgebiet – von den chilenischen Behörden nicht genehmigten Befragung durch deutsche Konsulats – bzw. Botschaftsangestellte und Vertreter deutscher Versicherungsträger, teilzunehmen. Diese Bedenken stützen sich auch darauf, daß der am 06.10.1992 in Ch. geplante Rentensprechtag durch einstweilige Anordnung des Apellationsgerichts T. verboten wurde.
Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlaß, weil der Senat seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BSG zugrundegelegt hat, wie sie in den beiden Entscheidungen des BSG vom 22. Februar1995 – 4 RA 54/93 und 4 RA 44/94 – dargelegt ist.
Erstellt am: 10.08.2003
Zuletzt verändert am: 10.08.2003