I. Der Bescheid vom 8. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. März 2004 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte verpflichtet wird, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 v.H. ab dem 6. September 2004 zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 3/4 zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Parteien ist streitig, ob dem Kläger wegen eines Arbeitsunfalls vom 29.07.1999 eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren ist.
Der am 1966 geborene Kläger war Arbeiter in einem Ziegelwerk. Am 29.07.1999 stand er auf einem 80 cm hohen Podest. Von dort stieg er mit dem linken Fuß ins Leere und schlug mit dem rechten Bein im Bereich des Kniegelenks auf dem Podest auf.
Wegen starker Schmerzen begab er sich noch am Unfalltag ins Kreiskrankenhaus M. in ambulante Behandlung. Dort wurde eine schwere Kontusion des rechten Kniegelenkes diagnostiziert. Nachdem die Beschwerden anhielten, wurde am 04.10.1999 eine Arthroskopie durchgeführt, die keinen pathologischen Befund ergab. Bei einer Kernspintomographie des rechten Kniegelenks am 19.10.1999 wurde ein osteochondraler Kontusionsherd am ventro-medialen Tibiakopf festgestellt.
Am 31.03.2000 erstellte Prof. Dr. B. von der Unfallklinik M. ein chirurgisches Gutachten. Bei der Untersuchung gab der Kläger geringe Belastungsschmerzen im rechten Kniegelenk an. Die festgestellten Umfangmaße beider Beine waren im Wesentlichen seitengleich. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass es bei dem Unfall zu einer Kontusion des rechten Kniegelenks gekommen sei; jetzt seien keine Unfallfolgen mehr nachweisbar.
Am 01.02.2001 erlitt der Kläger daheim einen weiteren Unfall; beim Hinaufgehen der Treppe stürzte er. Zu diesem Unfall wurde der Beklagten von der gesetzlichen Krankenversicherung des Klägers als Diagnose die eines Meniskusrisses (Anmerkung des Gerichts: Diese Diagnose wurde zu keinem Zeitpunkt so bestätigt.) und eines Knorpelschadens rechts mitgeteilt. Nach Ansicht der AOK handele es sich um Folgen des Arbeitsunfalls vom 29.07.1999.
Mit Bescheid vom 08.12.2003 erkannte die Beklagte den Unfall vom 29.07.1999 als Arbeitsunfall an. Dabei sei es zu einer Kontusion des rechten Kniegelenks gekommen, die soweit ausgeheilt sei, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem/messbarem Grade nicht verblieben sei.
Der dagegen mit Schreiben vom 18.12.2003 erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2004 als unbegründet zurückgewiesen. Der beim Kläger vorliegende Knorpelschaden sei unfallunabhängig und auf eine Kniescheibenfehlbildung zurückzuführen.
Dagegen erhoben die Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 31.03.2004 Klage. Der Knorpelschaden sei Unfallfolge; der weitere Unfall vom 01.02.2002 sei Folge des Unfalls vom 29.07.1999, da der Kläger infolge der massiven Schmerzsymptomatik im rechten Kniegelenk auf der Treppe gestürzt sei.
Zur Untermauerung des Klageanspruchs legten die Bevollmächtigten ein für die private Unfallversicherung des Klägers erstelltes Gutachten des Chirurgen Dr. Z. vom 17.06.2003 vor, wonach der Knorpelschaden im rechten Kniegelenk auf den Unfall vom 29.07.1999 zurückzuführen sei.
Nach der Einholung von Befundberichten gab das Gericht ein unfallchirurgisches Gutachten bei Prof. Dr. R. in Auftrag.
Dieser wies im Gutachten vom 13.09.2004, das auch auf einer Untersuchung des Klägers am 06.09.2004 beruhte, auf Folgendes hin: Der Unfall vom 29.07.1999 habe zu einer Stauchungs- bzw. Quetschverletzung des die Gelenkfläche tragenden Knochens geführt. Dies sei durch die Kernspintomographie belegt. Der Unfallzusammenhang ergebe sich weiter aus der auffällig scharfen Abgrenzung der Spongiosaveränderungen. Durch den Unfall sei es zu einer osteochondralen Kontusion mit nachfolgender Knorpelschädigung in diesem Gebiet gekommen. Das Ereignis vom 01.02.2002 bedürfe gutachterlich keiner weitergehenden Erörterung, da sich die Gesamtsituation für den Kläger nach kurzfristig stärkeren Beschwerden nicht geändert habe, so dass diesem Ereignis keine wesentliche Bedeutung zuzumessen sei. Es bestehe auch kein Anhalt dafür, dass die in der späteren Arthroskopie beschriebene "Ausdünnung" des vorderen Kreuzbandes bei diesem Ereignis in Form eines Teileinrisses entstanden sei.
Bei der Messung der Umfänge der Beine des Klägers im Rahmen der Begutachtung ergab sich ein Mindermaß von 2,5 cm im Oberschenkel 15 cm oberhalb des oberen Kniescheibenrandes rechts sowie eine Umfangsvermehrung im rechten Kniegelenk von 1 cm. Die Verhältnisse der Bandstrukturen in den Knien des Klägers beurteilte der Gutachter als seitengleich und ohne wesentliche Instabilität. Als Unfallfolgen lägen – so der Gutachter – Knorpelveränderungen auf der Innenseite des rechten Kniegelenkes mit Belastungsbeschwerden und Belastungsunsicherheit vor. Die MdE sei auf 20 v.H. zu schätzen, auch wenn die Beweglichkeit im rechten Kniegelenk bis auf eine enggradige Einschränkung der Beugefähigkeit (Einschränkung um 10 Grad gegenüber links) frei sei, da durch die nachgewiesenen Knorpelveränderungen in der Hauptbelastungszone beim Stehen und Auftreten eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung gegeben sei. Auf die "gängige" Literatur zur Unfallbegutachtung könne in diesem Fall nicht Bezug genommen werden, da die hier gegebene Situation, nämlich ein Knorpelschaden bei weitgehend freier Gelenkbeweglichkeit und noch ohne röntgenologische Arthrosezeichen, weder bei Schönberger noch im Kursbuch der Unfallbegutachtung von Ludolph oder bei Mehrhoff und Muhr berücksichtigt seien. Das Problem eines umschriebenen traumatischen Knorpeldefekts über einem gequetschten Spongiosaareal sei nirgends erfasst.
Mit Schreiben vom 14.12.2004 wies die Beklagte darauf hin, dass die von Prof. Dr. R. festgestellten Unfallfolgen nicht zu beanstanden seien. Jedoch könne in Anbetracht der guten Beweglichkeit für Streckung und Beugung des rechten Kniegelenks (0-0-140 Grad) eine MdE in Höhe von 20 v.H. nicht angenommen werden. Zur Begründung wurde auf eine gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. B. vom 02.11.2004 hingewiesen.
Im Auftrag des Gerichts äußerte sich Prof. Dr. R. in einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 03.01.2005 zur Höhe der MdE. Die vom Kläger angegebenen Beschwerden seien durch die objektivierten Knorpelveränderungen objektivierbar. Die MdE sei unter Anerkennung solcher Beschwerden höher einzuschätzen als dies ausschließlich aufgrund des Bewegungsumfangs gerechtfertigt wäre. Ein Gelenk habe die Funktion, beweglich, aber auch schmerzfrei zu sein, so dass beide Gesichtspunkte bei der Einschätzung der Beeinträchtigung der Funktion Berücksichtigung finden müssten. Der Bewegungsumfang eines geschädigten und schmerzhaften Gelenkes dürfe nicht der alleinige Maßstab zur Beurteilung der Funktionsbehinderung sein.
Mit Schreiben vom 24.03.2005 wies die Beklagte darauf hin, dass sie weiterhin von einer MdE in Höhe von unter 20 v.H. ausgehe. Die Argumentation über die Muskelminderung am rechten Oberschenkel sei nicht überzeugend, da bei der von Prof. Dr. R. gemessenen Differenz von 2,5 cm von Messungenauigkeiten auszugehen sei; zudem sei die unfallunabhängig erlittene Kreuzbandverletzung am rechten Kniegelenk vom 01.02.2002 entsprechend anzurechnen. In der zugrunde liegenden gutachtlichen Stellungnahme von Prof. Dr. B. vom 01.03.2005 wurde zudem mit Blick auf die Argumentation des gerichtlichen Gutachters zugestanden, dass die Bewegungsausmaße sicher nicht als alleiniges Entscheidungskriterium für die Höhe der MdE zu sehen seien.
In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 25.04.2005 wies Prof. Dr. R. darauf hin, dass die Knorpelveränderungen die vom Kläger angegebenen Schmerzen objektivierbar machten. Es bestehe daher kein Anlass, von seiner Einschätzung einer MdE in Höhe von 20 v.H. abzuweichen.
Mit Schreiben vom 06.09.2005 legte die Beklagte eine gutachterliche Beurteilung nach Aktenlage durch den Orthopäden Dr. O. vom 25.08.2005 vor. Eine sichere Trennung, inwiefern die Muskelverschmächtigung auf dem Unfall vom Jahre 1999 einerseits und vom Jahre 2002 andererseits beruhe, sei nicht möglich. Ungeachtet dieser fehlenden Zuordnung lasse sich jedoch mit der schonungsbedingten Muskelverschmächtigung allein eine MdE in Höhe von 20 v.H. nicht annähernd begründen, sofern nur eine enggradige Bewegungseinschränkung von 10 Grad vorliege, wobei die Schonung durch die festgestellten Knorpelschäden nachvollziehbar sei.
In der Sitzung vom 09.01.2006 erkannte der Vertreter der Beklagten den Knorpeldefekt mit Faserersatzknorpel von ca. 1 x 2 cm Fläche im Bereich des ventralen Tibiaplateaus rechts als Unfallfolge an.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragte in der Sitzung vom 09.01.2006,
den Bescheid vom 08.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2004 aufzuheben und dem Kläger eine Unfallrente nach einer MdE in Höhe von 20 v.H. zuzusprechen.
Der Beklagtenvertreter beantragte,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Akten des Gerichts und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und überwiegend auch begründet.
Nachdem der Beklagtenvertreter in der Sitzung vom 09.01.2006 den Knorpeldefekt im rechten Knie des Klägers als Unfallfolge anerkannt hat, ist Gegenstand dieses Verfahrens nur noch die Frage, wie hoch die MdE aufgrund dieser Unfallfolge einzuschätzen ist.
Diesbezüglich ist das Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Unfallfolge eine MdE in Höhe von 20 v.H. begründet, wobei jedoch erst ab dem Zeitpunkt der gutachtlichen Untersuchung durch Prof. Dr. R. am 06.09.2004 von dieser MdE auszugehen ist.
Ein Arbeitsunfall ist gemäß § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) ein Versicherungsfall. Dabei sind nach § 8 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.
Das äußere Ereignis muss mit der die Versicherteneigenschaft begründenden Tätigkeit rechtlich wesentlich zusammenhängen. Dabei bedürfen alle rechtserheblichen Tatsachen des vollen Beweises, d. h. sie müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorgelegen haben (vgl. BSGE 45, 285, 287). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann (vgl. BSGE 58, 80, 83; 61, 127, 128). Hingegen genügt für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie zwischen der schädigenden Einwirkung und der Gesundheitsstörung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 58, 80; 61, 127, 129).
Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSGE 45, 285, 286; 60, 58, 59).
Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 280). Daran fehlt es, wenn eine Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte (vgl. BSGE 62, 220, 221).
Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des Klägers (vgl. BSGE 6, 70, 72).
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Sofern die MdE mindestens 10 v. H. beträgt, ist bei Vorliegen mehrerer Versicherungsfälle eine Berücksichtigung im Rahmen einer Stützrente möglich (§ 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB VII).
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Dabei kommt es nicht auf die Schwere der beim versicherten Unfall ursprünglich erlittenen Verletzungen an. Entscheidend ist vielmehr, welcher Gesundheitsschaden aufgrund des Unfalls verblieben ist und welche Funktionsbeeinträchtigungen in Sinne einer Beeinträchtigung körperlicher oder geistiger Fähigkeiten sich aus diesem verbliebenen Schaden ergeben. Auch auf den bisherigen Beruf oder die bisherige Tätigkeit kommt es grundsätzlich nicht an (vgl. Ricke, in: Kasseler Kommentar, § 56 SGB VII, RdNr. 16). Damit ist sichergestellt, dass bei identischen Unfallfolgen die MdE aller Verletzten unabhängig von der individuellen beruflichen Tätigkeit prinzipiell die selbe ist. Bei der Festlegung der MdE ist auf den Maßstab der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor Eintritt des Versicherungsfalls abzustellen (vgl. BSGE 21, 63, 66), wobei für die MdE die Erwerbsfähigkeit jedes Versicherten vor dem Versicherungsfall mit 100 anzusetzen ist (vgl. BSGE 43, 209, 210).
Die Beurteilung, ob und in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Bewertung der MdE sind die von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung in jedem Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22 m.w.N.).
Die ärztlichen Schätzungen zur MdE sind für das Gericht bedeutsame, oft unentbehrliche Anhaltspunkte, ohne dass das Gericht daran gebunden wäre (vgl. Schönberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S. 154). So hat das Bundessozialgericht mehrfach (vgl. z.B. Beschluss vom 22.08.1989, Az.: 2 BU 101/89) darauf hingewiesen, dass die Bewertung der MdE nicht die eigentliche Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen ist. Dessen Sachkunde bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben daher keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen.
Auf den hier zu entscheidenden Fall übertragen bedeutet dies Folgendes:
Die Problematik und Besonderheit dieses Falls liegt darin, dass – wie dies bereits der gerichtliche Gutachter Prof. Dr. R. zutreffend angemerkt hat – die Verletzung des Klägers und der daraus resultierende Gesundheitsschaden in der maßgeblichen Begutachtungsliteratur keine Erwähnung findet.
Die in der Begutachtungsliteratur genannten Erfahrungswerte bei Knieverletzungen stellen im Wesentlichen auf die Einschränkung der Beweglichkeit ab (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 674 – 724). Dies begründet sich damit, dass die ganz überwiegende Zahl der Knieverletzungen Einschränkungen der Kniegelenksbeweglichkeit nach sich zieht.
Von dieser ganz überwiegenden Zahl der Fälle unterscheidet sich der hier vorliegende Schaden maßgeblich. Hier liegt ein Knorpelschaden am Schienbeinkopf, also in der Hauptbelastungszone beim Stehen und Auftreten vor. Durch diesen Schaden werden insbesondere Schmerzen beim Gehen und Stehen verursacht. Auswirkungen auf die Beweglichkeit ergeben sich aus diesem Schadensbild jedoch derzeit nicht. Insofern wäre es fehlerhaft, maßgeblich auf Bewegungseinschränkungen abzustellen, wie dies bei den sonstigen Knieverletzungen regelmäßig der Fall ist. Der von der Beklagten gezogene Schluss, dass sich mangels relevanter Bewegungseinschränkung eine rentenberechtigende MdE nicht ergeben könne, ist daher nicht haltbar. Auch der Gutachter Prof. Dr. R. hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass ein Gelenk nicht nur beweglich, sondern auch schmerzfrei sein muss. Bei den in der maßgeblichen Begutachtungsliteratur angegebenen Orientierungswerten für Bewegungseinschränkungen des Kniegelenks (vgl. z. B. Schönberger, a.a.O., S. 724) ist regelmäßig davon auszugehen, dass im Rahmen der dort aufgezeigten noch eröffneten Bewegungsmaße eine Schmerzfreiheit des Kniegelenks gegeben ist. Von Schmerzen ist entweder gar nicht oder erst bei der Begrenzung der Beweglichkeit auszugehen. Im Gegensatz zu den bei Schönberger u. a. genannten Erfahrungswerten ist hier zwar das Gelenk im Wesentlichen in der Bewegung frei (Reduzierung der Beugung nur um 10 Grad), aber nicht schmerzfrei. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass die Schmerzen gerade bei den üblichen und den größten Zeitanteil beanspruchenden Bewegungen des Stehens und Gehens auftreten. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Beschwerden nicht objektivierbar seien. Dies hat Prof. Dr. R. überzeugend u. a. mit Hinweis auf den deutlich reduzierten Oberschenkelumfang rechts dargelegt.
Dass sich die Einschätzung der MdE nicht maßgeblich an den von der Literatur vorgegebenen Erfahrungswerten zur Bewegungseinschränkung des Kniegelenks (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 724: Für eine Bewegungseinschränkung des Knies in der Beugung auf 120 Grad wird eine MdE in Höhe von 10 v.H., bei Bewegungseinschränkung auf 90 Grad in Höhe von 20 v.H. angenommen) orientieren darf, ergibt sich auch aus dem Urteil des BSG vom 02.05.2001, Az.: B 2 U 24/00 R.
Das BSG hat in dieser Entscheidung darauf hingewiesen, dass sich im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung für die Schätzung der MdE in Form von Rententabellen oder Empfehlungen im Laufe der Zeit Erfahrungswerte herausgebildet haben. Voraussetzung für die Anerkennung von Empfehlungen zur MdE-Bemessung als allgemeine Erfahrungssätze ist, dass sie auf wissenschaftlicher Grundlage von Fachgremien ausschließlich aufgrund der zusammengefassten Sachkunde und Erfahrung ihrer sachverständigen Mitglieder erstellt worden sind und dass sie immer wiederkehrend angewendet und von Gutachtern, Verwaltungsbehörden, Versicherungsträgern, Gerichten sowie Betroffenen anerkannt und akzeptiert werden (vgl. BSGE 40, 120, 123,124).
Derartigen Empfehlungen oder MdE-Tabellen, wie sie z.B. bei Schönberger (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 724) enthalten sind, kommt nicht der Rechtscharakter einer gesetzlichen Norm zu. Sie stellen vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten allgemeine Erfahrungssätze im oben genannten Sinne dar, um den unbestimmten Rechtsbegriff der MdE auszufüllen, und tragen dazu bei, dass im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes gleichartige Schadenslagen mit der gleichen MdE eingeschätzt werden. Allgemeine Wertungen zur MdE bei bestimmten Schadenslagen sind dabei nur dann als Richtwerte im Sinne allgemeiner Erfahrungssätze anzusehen, wenn darin die Folgen dieser Schadenslagen für die Erwerbsfähigkeit so weitgehend abgeklärt sind, dass eine Beurteilung durch medizinische Sachverständige im Einzelfall hinsichtlich der Anwendung dieser Richtwerte, der Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls sowie der Prüfung, ob wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, dass diese Richtwerte einer erneuten Überprüfung bedürfen, ausreicht (vgl. BSG, Beschluss vom 19.03.1996, Az.: 2 BU 161/95).
Es ist damit, um dem zugrunde liegenden allgemeinen Gleichheitssatz gerecht zu werden, in jedem Einzelfall zunächst festzustellen, ob ein entsprechender allgemeiner Erfahrungssatz besteht, dann, ob der konkrete Einzelfall nicht so maßgeblich von dem zugrunde liegenden Regelfall abweicht, dass sich die Anwendung dieses Erfahrungssatzes aufgrund der Einzelfallbesonderheiten verbieten würde.
In dem hier zu entscheidenden Fall liegen keine allgemeine Erfahrungssätze zur MdE-Einschätzung vor. In sämtlichen bekannten Werken der Begutachtungsliteratur sind Erfahrungswerte für eine Schadenslage wie hier, nämlich einen Knorpelschaden im Bereich des Schienbeinkopfes im Bereich der Hauptbelastungszone nicht aufgeführt. Darüber besteht unter den mit dem hier zu entscheidenden Fall befassten Sachverständigen Einigkeit. Auch kann die hier vorliegende Schadenslage nicht mit den in der Literatur zugrunde gelegten Schadenslagen im Sinne einer Einschränkung der Kniegelenksbeweglichkeit verglichen werden, wie dies der gerichtliche Gutachter ausführlich dargelegt hat. Denn der beim Kläger vorliegende Schaden äußert sich durch Schmerzen gerade bei den häufig vorliegenden Bewegungen des Stehens und normalen Gehens, wohingegen derartige Bewegungen durch die in der Literatur aufgezeigten Bewegungseinschränkungen nicht beeinträchtigt sind (auch eine Beugebeschränkung auf 90 Grad, die einer MdE in Höhe von 20 v.H. entspricht, äußert sich nicht störend beim normalen Gehen, da dabei eine Beugung über 90 Grad hinaus nicht erforderlich ist). Die von der Beklagten angeführten Erfahrungswerte können daher hier nicht zur Anwendung kommen.
Es muss daher davon ausgegangen werden, dass bei der Beurteilung der MdE in dem hier vorliegenden Fall das Bewegungsmaß kein herausgehobenes Kriterium ist, sondern der Gesichtspunkt der objektivierbaren Schmerzen von besonderer Bedeutung ist. Insofern kann die MdE nicht auf unter 20 v.H. geschätzt werden, auch wenn allein aufgrund des Bewegungsmaßes eine MdE in dieser Höhe nicht begründet werden könnte. Dass der Gesichtspunkt der Schmerzhaftigkeit hier von besonderer Bedeutung ist, hat im Übrigen auch der von der Beklagten beauftragte Gutachter Prof. Dr. B. in seiner zweiten Stellungnahme zugestanden.
Dabei ist dem Gericht, wenn es dem Gesichtspunkt der Schmerzen große Bedeutung zumisst, sehr wohl bewusst, dass der Gesichtspunkt der Schmerzen bei der Bemessung der MdE im Regelfall keinen entscheidenden Einfluss auf die Höhe der MdE hat. Dies begründet sich zum einen damit, dass in den Richtwerten bereits die üblicherweise vorhandenen Schmerzen enthalten sind (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 312), wobei dieser Gesichtspunkt hier nicht zum Tragen kommen kann, da wie oben ausgeführt Richtwerte für den hier vorliegenden Schaden nicht existieren. Zum anderen wird dadurch der Problematik Rechnung getragen, dass Schmerzen nicht objektiv messbar sind, sondern das Schmerzempfinden auch subjektiv geprägt ist. Daher gilt der Grundsatz, dass nicht der Schmerz selbst, sondern seine Wirkung auf die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen in die MdE-Bewertung einzufließen hat (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 312 f), wobei die Auswirkungen des Schmerzes objektivierbar sein müssen.
Einen wichtigen Beleg dafür, dass beim Kläger objektivierte Funktionsbeeinträchtigungen gegeben sind, wie sie mit einer MdE in Höhe von 20 v.H. einzuschätzen sind, ergibt sich aus dem Muskelmindermaß der unfallverletzten rechten Seite. Dort ist die Muskulatur im Oberschenkel um 2,5 cm gegenüber der Gegenseite reduziert. Diese Muskelschwäche ist ein deutliches Indiz für eine Funktionsschwäche von relevantem Ausmaß (vgl. auch Schönberger, a.a.0., S. 723).
Sofern die Beklagte gegen den Gesichtspunkt des Muskelmindermaßes einwendet, dass es sich dabei um Messungenauigkeiten handeln würde, kann das Gericht dem nicht folgen. Wie dem Gericht aus vielen Verfahren bekannt ist und auch regelmäßig von beklagten Berufsgenossenschaften vorgetragen wird, kann zwar bei Muskeldifferenzen von 1 cm von Messungenauigkeiten ausgegangen werden, nicht mehr jedoch bei einer doch sehr deutlichen Differenz von 2,5 cm. Auch von der Begutachtungsliteratur (vgl. Schönberger, a.a.O., S. 723; Mehrhoff, Muhr, Unfallbegutachtung, 10. Aufl., S. 109) wird eine derart große Differenz als relevant und damit außerhalb des Bereichs von Messungenauigkeiten liegend beschrieben. Zudem hat der gerichtliche Gutachter bereits beim Entkleiden des Klägters eine deutliche Muskelverschmächtigung festgestellt, wobei dieser Betrachtung nach der Begutachtungsliteratur (vgl. Mehrhoff, a.a.O., S. 107) eine nicht unwesentliche Bedeutung zugewiesen wird, da es sich hierbei um Beobachtungen zu einem Zeitpunkt handelt, in dem von einer jedenfalls im Zeitpunkt einer gezielten Untersuchung nicht ausschließbaren willentlichen Umfangsbeeinflussung (durch gezielte Muskelanspannung) durch den Untersuchten nicht auszugehen ist. Das Gericht kann auch nicht der Beklagten insofern folgen, wenn von ihr zunächst vorgetragen worden ist, dass die Muskeldifferenz nicht nur auf den Unfall, sondern auch auf eine private Schädigung anlässlich eines Ereignisses vom 02.01.2001 zurückzuführen sei. Einerseits hat bereits der Gutachter Prof. Dr. R. darauf hingewiesen, dass sich durch dieses weitere Ereignis keine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers ergeben habe. Dies hält das Gericht für zutreffend, da bei der Untersuchung durch den gerichtlichen Gutachter eine aus einer Kreuzbandinsuffizienz resultierende Instabilität des Knies, wie sie von der Beklagten im Schreiben vom 24.03.2005 als Ursache für einen Muskelrückgang rechts angenommen worden ist, nicht festgestellt worden ist. Zum andern hat der von der Beklagten beauftragte Gutachter nach Aktenlage Dr. O. selbst darauf hingewiesen, dass eine Aufteilung zwischen Muskelverschmächtigung infolge des streitgegenständlichen Unfalls und Muskelverschmächtigung infolge des Ereignisses vom 01.02.2001, die nach den obigen Ausführungen ohnehin höchst fraglich ist, nicht möglich sei. Da eine teilbare Kausalität der Unfallversicherung fremd ist ("Alles- oder Nichts-Prinzip"), das Ereignis vom 01.02.2001 von seiner Bedeutung für die Muskelminderung jedenfalls nicht überragend ist, muss – zusammen mit Dr. O. – davon ausgegangen werden, dass die gesamte Muskelminderung dem streitgegenständlichen Unfall zuzurechnen ist. Schließlich ist es – dies kann jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt bleiben – nicht auszuschließen, dass das weitere Ereignis vom 01.02.2001 als mittelbare Unfallfolge des Unfalls vom 29.07.1999 zu bezeichnen wäre, da sich aufgrund des Unfalls vom 29.07.1999 eine schmerzbedingte Gangunsicherheit entwickelt hat, die zum Treppensturz hätte führen können.
Dass eine MdE in Höhe von 20 v.H. nicht zu hoch gegriffen ist, ergibt sich abschließend noch aus folgenden zwei Gesichtspunkten: Zum einen liegt infolge der Schmerzen im Kniegelenk eine Gangunsicherheit vor, wie dies Prof. Dr. R. festgestellt hat. Eine derartige Gangunsicherheit ist von nicht unerheblicher Auswirkung auf die MdE, wie sich beispielsweise aus den Erfahrungswerten zur Lockerung des Kniebandapparates ergibt (vgl. z. B. Schönberger, a.a.O., S. 724: Eine unvollständig kompensierbare Lockerung des Kniebandapparates mit Gangunsicherheit wird mit 20 v.H. eingeschätzt, wo hingegen eine muskulär kompensierbare Lockerung ohne Gangunsicherheit nur eine MdE in Höhe von 10 v.H. begründet). Zum andern werden die Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen auch dadurch belegt, dass das Umfangmaß des rechten Knies um 1 cm gegenüber der unverletzten Seite erhöht ist, was einen deutlichen Beleg für einen anhaltenden Reizzustand darstellt.
Eine MdE in Höhe von 20 v.H. ist jedoch erst ab der gutachtlichen Untersuchung durch Prof. Dr. R. am 06.09.2004 belegt. Bei seiner Einschätzung zur MdE stützt sich das Gericht u. a. entscheidend auf die Muskeldifferenz im Oberschenkel zu Lasten der unfallverletzten Seite, da dadurch ein unfallbedingter Mindergebrauch im Sinne einer Entlastung abzuleiten ist. Eine deutliche Muskelminderung zu Lasten der unfallverletzten Seite wurde erstmals anlässlich der Untersuchung durch Prof. Dr. R. festgestellt. Bei den zuvor durchgeführten Untersuchungen waren noch im Wesentlichen seitengleiche Muskelumfänge gegeben (vgl. vorhergehende Messungen anlässlich des Gutachtens vom 31.03.2000). Nachdem zwischen der Untersuchung für das Gutachten vom 31.03.2000 und der Untersuchung durch Prof. Dr. R. am 06.09.2004 keine aussagekräftigen Umfangmessungen durchgeführt worden sind, kann nach den geltenden Beweislastregeln erst ab der Untersuchung durch Prof. Dr. R. von einer entsprechenden Muskeldifferenz und damit von einer MdE in Höhe von 20 v.H. ausgegangen werden.
Dem Kläger ist damit erst ab dem 06.09.2004 eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuzusprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Bei der Kostenentscheidung war zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass es die Beklagte zunächst rechtsfehlerhaft abgelehnt hat, den Knorpelschaden als Unfallfolge anzuerkennen. Dem und dem Umstand, dass eine rentenberechtigende MdE erst während des laufenden gerichtlichen Verfahrens eingetreten ist, ist mit der ausgesprochenen Kostenentscheidung Rechnung zu tragen.
Erstellt am: 07.02.2007
Zuletzt verändert am: 07.02.2007