Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 06. März 2002 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Versorgungsanspruch nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.
Die 1966 geborene Klägerin stellte am 13.03.1998 bei dem Beklagten den Antrag, ihr Versorgung nach dem OEG zu gewähren. Sie leide an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, die auf verschiedene Gewalttaten zurückzuführen sei. Erinnern könne sie sich daran, dass der Cousin ihres Vaters, I F, sie als Säugling in ihren ersten drei Lebensmonaten aus dem Bett geholt und in der Schlachterei im gleichen Hause in den Kühlräumen nackt ausgezogen habe. Anschließend habe er Spiele mit Tierblut und Messern durchgeführt und sich am Ende am mittlerweile blaugefrorenen Säugling sexuell befriedigt. Genaueres könne sie über den Cousin nicht veröffentlichen. Einer weiteren Gewalttat sei sie ausgesetzt gewesen, als ein amerikanischer Tourist sie 1987 auf einer griechischen Insel vergewaltigt habe. Es gebe in ihr noch Wissensfragmente über andere sexuelle Gewalttaten, die sie jedoch derzeit noch nicht im Detail beschreiben könne.
Der Beklagte holte Befundberichte der Gynäkologin Dr. C (31.03.1998), der Ärztin für Allgemeinmedizin C1 (20.04.1998) und der Psychotherapeutin K (20.05.1998) ein. Nach versorgungsärztlicher Auswertung dieser Berichte lehnte er eine Anerkennung nach dem OEG mit Bescheid vom 12.06.1998 ab, da die Vergewaltigung durch den amerikanischen Touristen außerhalb des Geltungsbereiches des OEG stattgefunden habe und der Missbrauch in der Säuglingszeit nicht wahrscheinlich zu machen sei. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 07.07.1998 holte der Beklagte erneut einen Bericht von Frau K (22.01.1999) sowie Berichte des Leiters der Drogenberatung W, Herrn I (12.10.1999), des Psychotherapeuten S (04.10.1999), der Psychotherapeutin N (14.11.1999) und des Gestalt- und Kunsttherapeuten E (07.01.2000) ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 03.04.2000, abgesandt am 14.04.2000, wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin hat am 12.05.2000 Klage beim Sozialgericht (SG) Duisburg erhoben. Das SG hat die Neurologin und Psychiaterin Dr. C2 mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In ihrem Gutachten vom 12.04.2001 ist Dr. C2, die von der Klägerin ohne Erfolg wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden ist (Beschluss vom 17.07.2001), zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliege. Diese könne nicht auf das von der Klägerin im Sinne eines "Flashbacks" angegebene Vergewaltigungstrauma zurückgeführt werden. Ein Säugling von drei Monaten besitze nicht die Fähigkeiten, die geschilderten Szenarien zu erfassen und sich später daran zu erinnern.
Im Weiteren hat die Klägerin einen Bericht des Evangelischen K-Krankenhauses vom 01.03.2002 über einen dortigen stationären Aufenthalt im Januar und Februar 2002 mit der Diagnose "Dissoziative Identitätsstörung" übersandt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 06.03.2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr. C2 im Wesentlichen angeführt, dass der Nachweis der behaupteten Gewalttat in der frühkindlichen Phase nicht erbracht worden sei.
Die Klägerin hat gegen das am 21.03.2002 zugestellte Urteil am 22.04.2002 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die bei ihr bestehende Persönlichkeitsstörung durch Missbrauchshandlungen in der Säuglingszeit verursacht worden sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 06.03.2002 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12.06.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2000 zu verurteilen, bei ihr eine multiple Persönlichkeitsstörung als Folge eines frühkindlichen Vergewaltigungstraumas nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und Versorgung in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass ein Anspruch nicht gegeben sei, weil es am Nachweis einer Gewalttat in der frühkindlichen Phase fehle. Allein aus der bei der Klägerin bestehenden Persönlichkeitsstörung könne nicht zweifelsfrei ein Rückschluss auf die von ihr angegebene Gewalttat gezogen werden.
Der Senat hat auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. F vom 02.03.2003 eingeholt. Dieser hat eine "Dissoziative Identitätsstörung (DIS)" bei der Klägerin diagnostiziert. Eine solche Störung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit Folge mehrfacher schwerer physischer und/oder sexueller Traumata in der frühen Kindheit. Krankheitsbedingt seien die Traumata jedoch nur fragmentarisch erinnerbar. Die bisherigen Erinnerungen der Klägerin könnten einen konkreten Tathergang nicht belegen. Der von ihr geltend gemachte Angriff im frühen Säuglingsalter sei nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht erinnerbar. Es müsse aber abgewogen werden, ob das Störungsbild allein nicht bereits als Beleg für die Traumatisierung angesehen werden könne. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 25.06.2003 hat Prof. Dr. F weiter ausgeführt, dass bei DIS-Patienten traumatische Erfahrungen in Form von sexuellem Missbrauch und/oder Misshandlungen in Größenordnungen von 88-96 % vorlägen. Lediglich bei 2-3 % der Patienten mit DIS ließen sich in der Lebensgeschichte keine traumatischen Ereignisse eruieren. Die wissenschaftliche Diskussion um die DIS sei aber polarisiert. Kritiker würden die Validität der Diagnose und die Trauma-Ätiologie in Frage stellen. Als Ursachen für die DIS würden auch schwere emotionale Vernachlässigung und elterliches Fehlverhalten, konstitutionelle Faktoren wie die Phantasiefähigkeit und genetische Faktoren diskutiert.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und insbesondere der Gutachten wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 12.06.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2000 ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung der bei ihr bestehenden Persönlichkeitsstörung als Folge einer nach dem OEG entschädigungspflichtigen Gewalttat.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
Ein solcher Angriff gegen die Klägerin ist nicht mit dem notwendigen Vollbeweis feststellbar. Vollbeweis, der für alle Tatbestandsmerkmale erforderlich ist, setzt voraus, dass die Tatbestandsmerkmale mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R m.w.N.; Urteil vom 10.11.1993, 9 RVg 2/93; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 118 Rn 5). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann mit diesem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit nicht angenommen werden, dass ein Missbrauch der Klägerin in den ersten drei Lebensmonaten – so wie von ihr als "Flashback" geschildert – stattgefunden hat. Auch für eine andere vom Schutzbereich des OEG umfasste Gewalttat fehlt es am notwendigen Vollbeweis.
Die von der Klägerin angegebenen Erinnerungen an Missbrauchshandlungen in den ersten Lebensmonaten können nach übereinstimmender Auffassung der gehörten Sachverständigen nicht als Beleg dafür angesehen werden, dass solche Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft fällt die angezeigte Tat in den Zeitraum der physiologischen Kindheitsanamnese. Ein Säugling von drei Monaten besitzt nach heutigen Erkenntnissen noch nicht die Fähigkeit, um entsprechende Szenen zu erfassen, zu begreifen, zu beurteilen, zu speichern und später entsprechend zu reproduzieren, d.h. "sich daran zu erinnern". Grund hierfür ist, dass in diesem Alter die Fähigkeit zur Symbolbildung und zum verbalen Bezeichnenkönnen sowie zur Wahrnehmung optischer wie akustischer Signale noch nicht (ausreichend) entwickelt ist.
Es kann auch nicht zweifelsfrei von der bei der Klägerin diagnostizierten Persönlichkeitsstörung auf eine oder mehrere andere (von der Klägerin derzeit nicht erinnerte) Gewalttaten in der Kindheit geschlossen werden.
Dabei kann die Frage offen bleiben, ob eine Gewalttat im Sinne des OEG grundsätzlich überhaupt angenommen werden kann, wenn diese Gewalttat unbestimmt bleibt, weil eine Konkretisierung daran scheitert, dass Anhaltspunkte zur zeitlichen und örtlichen Einordnung sowie zur Art und Weise der Gewalttat fehlen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lässt die bei der Klägerin bestehende Persönlichkeitsstörung unter Berücksichtigung der derzeitigen medizinischen Wissenschaft nicht den gesicherten Rückschluss zu, dass die Klägerin im Kindesalter Opfer eines vorsätzlichen, tätlichen und rechtswidrigen Angriffs geworden ist. Grund hierfür ist, dass das Erkrankungsbild der Klägerin noch nicht ausreichend erforscht ist, um gesichert auf die Ursache dieser Erkrankung Rückschlüsse ziehen zu können. Bereits die genaue Diagnose der Erkrankung der Klägerin ist zwischen den Sachverständigen Dr. C2 und Prof. Dr. F streitig. Während Dr. C2 von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgeht, nimmt Prof. Dr. F eine Dissoziative Identitätsstörung (DIS) an. Der jeweiligen Diagnose folgend beurteilen die Sachverständigen auch die Ursache der von ihnen angenommenen Erkrankung unterschiedlich. Legt man die Diagnose von Dr. C2 ("Borderline-Störung") zugrunde, so ist es nicht einmal wahrscheinlich, sondern lediglich möglich, dass die Klägerin Opfer einer frühkindlichen Gewalttat im Sinne des OEG geworden ist. Hierzu führt Dr. C2 aus, dass als Ursache der Borderline-Störung überwiegend schwere emotionale Beeinträchtigungen etwa zwischen dem 5. und 18. Lebensmonat diskutiert würden. Mit einer solchen Beeinträchtigung seien in der Regel nicht reale Traumatisierungen wie Missbrauch gemeint, sondern eher Zustände, die sich durch Mangel an Fürsorge und Geborgenheit oder Trennungen kennzeichneten. Es sei daher eher davon auszugehen, dass sich die Klägerin im Rahmen der psychosenahen psychischen Störung auf wahnhaft determinierte frühkindliche Missbrauchserlebnisse fixiert habe und dies durch die durchgeführten Therapien verstärkt worden seien. Auch unter Zugrundelegung der Diagnose von Prof. Dr. F ("DIS") lässt sich ein Rückschluss auf eine frühkindliche Gewalttat nicht zweifelsfrei ziehen. Zwar vertritt Prof. Dr. F die Auffassung, dass das Erkrankungsbild der DIS in weit überwiegenden Fällen durch Traumatisierung hervorgerufen wird. Die Prävalenzzahlen aus ausgewerteten Studien führt er dabei mit 88,5 – 96 % für sexuellen Missbrauch oder körperliche Misshandlungen an.
Dass lediglich in der überwiegenden Anzahl der untersuchten Personen mit Dissoziativer Identitätsstörung (jedenfalls nach deren Angaben) eine Traumatisierung durch eine Gewalttat im Sinne des OEG stattgefunden hat, genügt nicht, um mit der juristisch erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auf eine solche Gewalttat in der Kindheit der Klägerin zu schließen. Andere in der Wissenschaft diskutierte Ursachen der Erkrankung wie schwere emotionale Vernachlässigung und elterliches Fehlverhalten, transgenerationelle Weitergabe, also Weitergabe angstmachender Erfahrungen traumatisierter Eltern auf ihre Kinder, konstitutionelle Faktoren wie die Phantasiefähigkeit und genetische Faktoren bleiben als Ursache der Erkrankung der Klägerin möglich. Die Zweifel an einem Rückschluss werden darüber hinaus noch dadurch verstärkt, dass – worauf Prof. Dr. F hinweist – eine Reihe von medizinischen Wissenschaftlern (wenn auch ohne Beleg durch wissenschaftliche Studien) die posttraumatische Ätiologie der Erkrankung überhaupt in Frage stellen und die Phänomenologie der alternierenden Persönlichkeitszustände wie auch die Erinnerungen an schwere Traumatisierungen als Ergebnisse von Medieneinflüssen oder suggestiver Therapietechniken, insbesondere unsachgemäß durchgeführter Hypnose, ansehen.
Soweit der Beweis fehlt, dass die Klägerin in ihrer Kindheit Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden ist, geht dies – nach dem für soziale Leistungsansprüche allgemein geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (s. hierzu BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R m.w.N.; Urteil vom 12.05.1992, 2 RU 26/91; LSG NRW, Urteil vom 11.02.1998, L 10 V 147/95) – zu Lasten der Klägerin. Diese hat als die die Leistung begehrende Antragstellerin die Folgen der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen zu tragen. Eine Beweiserleichterung folgt auch nicht aus § 15 KOV-Verfahrensgesetz (KOV-VfG), der grundsätzlich auch im Verfahren über Ansprüche nach dem OEG anwendbar ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R). Nach dieser Vorschrift sind Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, bei Fehlen anderer Beweismittel dann der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn diese Angaben glaubhaft erscheinen. Soweit die Klägerin eine Gewalttat im Säuglingsalter beschreibt, können ihre Angaben nach § 15 KOV-VfG nicht zugrunde gelegt werden, da eine solche Erinnerung nach derzeitigem medizinischen Erkenntnisstand nicht möglich und die Angabe damit nicht glaubhaft ist. Für eventuell stattgehabte andere Gewalttaten, kommt eine Beweiserleichterung nach § 15 KOV-VfG nicht in Betracht, weil die Klägerin solche Gewalttaten derzeit nicht erinnert. § 15 KOV-VfG erfordert, dass der Antragsteller Angaben aus eigenem Wissen, jedenfalls aber überhaupt Angaben machen kann (BSG, a.a.O.).
Soweit die Klägerin eine Vergewaltigung auf einer griechischen Insel im Jahr 1987 als Gewalttat im Sinne des OEG geltend macht, kommt eine Anerkennung nicht in Betracht. Diese Tat ist im Ausland begangen worden und wird damit vom Schutzbereich des OEG nicht erfasst.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht als gegeben angesehen.
Erstellt am: 22.04.2004
Zuletzt verändert am: 22.04.2004