Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 06.07.2007 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch auf Witwenrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit von August 1941 bis Oktober 1942 aufgrund einer Beschäftigung im Ghetto Stanislawow (Stanislau) nach den Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).
Die Klägerin ist Witwe des am 00.00.1922 in Stanislawow/Polen geborenen und am 00.12.1953 in Israel verstorbenen G E (Verfolgter). Die Ehe wurde am 00.01.1946 in G geschlossen.
Der Verfolgte gab in einem Antrag auf Entschädigung wegen Schaden an Freiheit (19.03.1950) an, er sei seiner Freiheit beraubt worden durch einen Aufenthalt im Ghetto Stanislawow vom 01.08.1941 bis Oktober 1942. Danach habe er in den "ZAL" C und G als Arier unter einem anderen Namen von November 1942 bis April 1945 gearbeitet. Herr T M bestätigte in einer Versicherung an Eidesstatt (28.06.1950), er sei zusammen mit dem Verfolgten vom 01.08.1941 bis Oktober 1942 im Ghetto Stanislawow eingeschlossen gewesen. Das Landgericht München I verurteilte den Freistaat Bayern nach dem Tod des Verfolgten, einen Betrag von 1920,00 DM an dessen Erben, die Klägerin und deren beider Kinder zu zahlen und wies die Klage im Übrigen ab (Urteil vom 08.03.1957 – 6. EK 1816/53). Das Landgericht sah es durch zwei eidliche Erklärungen des Zeugen M (17.03.1954 und 04.12.1955) als nachgewiesen an, dass der Verfolgte von Anfang Juli 1945 eine weiße Armbinde mit blauem Davidsstern getragen und sich von Herbst 1941 bis September 1942 im Stacheldraht umzäunten Ghetto Stanislawow befunden habe. Aus der Zeugenaussage ergebe sich, dass der Verfolgte bereits vor Ablauf des September 1942 aus dem Ghetto entflohen sei. Die hiergegen eingelegte Berufung wies das Oberlandesgericht München zurück (Urteil vom 30.04.1958 – 9 EU 361/57 -).
Nach einem Hinweis darauf, von dem Verfolgten gemachte Ansprüche wegen Schadens an Körper und Gesundheit seien durch Bescheid vom 15.03.1961 von der Entschädigungsbehörde unter einem weiteren Aktenzeichen (48713) zurückgewiesen worden, ein Entschädigungsverfahren wegen Freiheitsberaubung sei unter dem Aktenzeichen 68156 geführt worden (Schreiben vom 12.04. und 31.10.1961) gewährte das Bayrische Landesentschädigungsamt vergleichsweise (28.11.1961) weitere Kapitalentschädigung.
Mit Schreiben vom 15.02.2004 teilte die United Restitiuten Organisation Limitid (Uro) der Oberfinanzdirektion München mit, die Klägerin habe einen Antrag auf Witwenrente nach dem ZRBG eingereicht. Bedauerlicherweise könne sie keine Angaben über die Arbeit des Verfolgten während seiner Inhaftierung im Ghetto machen. Die Klägerin bitte darum, die vermutlich in den BEG-Unterlagen vorhandenen eigenen eidesstattlichen Versicherungen des Verfolgten zu übersenden. Die Oberfinanzdirektion München wies darauf hin, in ihrer Akte sei keine eidesstattliche Versicherung des Verfolgten enthalten. Allerdings sei anzunehmen, dass in den Akten des Landgerichts München I eine eidesstattliche Versicherung des Verfolgten enthalten sei.
Anwaltlich vertreten beantragte die Klägerin im Juni 2003 Witwenrente und trug dazu vor, der Verfolgte habe sich von August 1941 bis Oktober 1942 in dem Ghetto Stanislawow aufgehalten und dort auf anraten und Vermittlung des Judenrates Arbeiten als Straßenkehrer und Transportarbeiter verrichtet. Diese Tätigkeit sei durch Gutscheine zur Bestreitung des Lebensunterhaltes, ausgegeben vom Judenrat, entlohnt worden und damit versicherungspflichtig gewesen. Zusammen mit vorbestehenden Beschäftigungenzeiten und Verfolgtenersatzzeiten sei die Wartezeit für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente erfüllt. In einem Fragebogen für Ersatzzeiten (08.02.2004) gab die Klägerin eine Zeit der Verfolgung durch den Nationalsozialismus des Verfolgten vom 01.08.1941 bis April 1945 ("Ghetto-ZAL") und vom 01.08.1941 bis Oktober 1942 wegen Gewahrsam in Polen und im Deutschen Reich an. Zugleich verneinte sie das Vorliegen weiterer Ersatzzeiten. Mit dem Formularantrag auf Hinterbliebenenrente gab die Klägerin an, der Verfolgte sei vom 01.08.1941 bis Oktober 1942 im Ghetto Stanislawow als Straßenreiniger und Transportarbeiter in Vollzeit beschäftigt gewesen. Die Arbeitsvermittlung sei durch das Arbeitsamt des Judenrates und eine Entlohnung in Form von Gutscheinen ausgegeben vom Judenrat erfolgt. Er sei dann nach C geflohen, habe ab November 1942 als Arier zunächst in den Boschwerken und später in G gearbeitet. Nach der Befreiung im Mai 1945 sei er für die amerikanische Besatzungsmacht in G als Übersetzer tätig gewesen. Beiträge an einen Deutschen Rentenversicherungsträger und zur israelischen Nationalversicherung habe der Verfolgte nicht gezahlt.
(Anmerkung: Dieser Fragebogen wurde offenbar ausgefüllt, nachdem die Klägerin gegenüber der Entschädigungsbehörde angegeben hatte, sie könne keine Angaben über die Arbeit des Verfolgten machen!).
In einem Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG gab die Klägerin an, der Verfolgte habe während des zwangsweisen Aufenthaltes im Ghetto Stanislau von August 1941 bis Oktober 1942 1. bei der Stadtverwaltung und 2. bei einer Möbel-Transportfirma bei täglicher Rückkehr in das Ghetto gearbeitet. Er habe zusammen mit anderen Arbeitskräften das Ghetto verlassen und sei auf dem Weg von und zur Arbeit von einem Vorarbeiter bewacht worden. Die Tätigkeit habe er täglich ca. 10 Stunden an 6 Tagen in der Woche ausgeübt. Wöchentlich habe der Verfolgte vom Fürsorgeamt des Judenrates Gutscheine als Entlohnung erhalten, die nur innerhalb des Ghettos Gültigkeit gehabt hätten. Sonstige Zuwendungen seien nicht erinnerlich. Es habe im Ghetto Stanislau Sachbezüge gegeben, sei aber nicht erroierbar in welchem Umfang.
In einer eidesstattlichen Versicherung (19.04.20004) führte Frau L H, geborene E aus, sei sei eine Cousine des Verfolgten. Zusammen mit diesem sei sie etwa im August 1941 in das Ghetto Stanislawow gewesen. Auf die dringende Aufforderung des Judenrates, eine Arbeit anzunehmen, hätten sie sich am Arbeitsamt des Judenrates gemeldet und eine Arbeit erhalten. Der Verfolgte habe kurze Zeit, etwa 2 Monate, bei der Stadtverwaltung als Straßenkehrer gearbeitet und sei dann als Transportarbeiter zum Möbeltransport innerhalb der Stadt Stanislau eingesetzt worden. Einen Firmennamen oder eine Firmenbezeichnung könne sie nicht angeben. Unter Begleitung eines Vorarbeiters habe der Verfolgte das Ghetto jeden Morgen früh verlassen, der Arbeitstag habe etwa von 7.00 Uhr bis 17.00 Uhr gedauert. Für die Arbeit habe der Verfolgte Gutscheine vom Judenrat erhalten, welche ihn zum Bezug von Lebensmitteln und gelegentlichen Sachbezügen berechtigten. Mittels derer er ein bescheidenes Auskommen gehabt habe. Sie selbst habe als Küchenhilfe im Ghetto Stanislau gearbeitet. Mit dem Verfolgten sei sie bis Oktober 1942 im Ghetto Stanislau zusammen gewesen. Sie selbst habe eine Entschädigung aus Saarburg erhalten und einen Rentenantrag nach dem ZRBG gestellt.
Nach Eingang eines weiteren Fragebogens (09.06.2004) teilte die Oberfinanzdirektion der Beklagten mit, die angeforderten Gerichtsakten seien auf dem Geschäftsweg verloren gegangen, mehrere Suchaktionen seien "bisher ergebnislos" verlaufen.
Die Beklagte nahm Unterlagen aus dem Rentenverfahren betreffend Frau L H zu den Akten. Diese hatte in ihrem Entschädigungsverfahren in einer eidlichen Erklärung (16.05.1955) angegeben, sie sei im Ghetto Stanislau "bei Aufräumungsarbeiten beschäftigt" worden. Anlässlich einer ärztlichen Begutachtung (31.07.1967) hatte sie zum beruflichen Werdegang geschildert, sie sei im Ghetto Stanislau Zwangsarbeiterin im Straßenreinigen und Schutt räumen bis Februar 1943" gewesen. Mit ihrem Rentenantrag behauptete sie, von 1941 bis Februar 1943 im Ghetto Stanislau als Küchenhelferin verschiedene Reinigungsarbeiten ausgeführt zu haben. Im Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung von Vorschriften des ZRBG gab sie an, von Dezember 1941 bis Januar 1943 an diversen Arbeitsplätzen außerhalb des Ghettos gearbeitet zu haben. Sie sei nur auf dem Weg von und zur Arbeit bewacht worden und habe Reinigungsarbeiten auf den Straßen, in Privathäusern und Verwaltungsgebäuden, täglich 8 bis 9 Stunden täglich verrichtet. In einem Schriftsatz an das Sozialgericht (SG) Düsseldorf (S 11 RJ 104/04) wies die Beklagte darauf hin, die Zeugin G1 E habe ebenso wie Frau H im Entschädigungsverfahren angegeben, während des Ghettoaufenthaltes von den Aufsehern geschlagen und misshandelt worden zu sein.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Witwenrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach Maßgabe des ZRBG ab (Bescheid vom 15.08.2005). Das Ghetto Stanislau sei nach den vorliegenden Unterlagen erst im Dezember 1941 eröffnet worden. Es sei nicht glaubhaft, dass der Verfolgte eine aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt habe. Die Klägerin legte Widerspruch ein und eine weitere eidesstattliche Versicherung der Frau L H (01.11.2005) vor. Darin führte diese aus, die als Entlohnung erhaltenen Gutscheine hätten ausgereicht, um Lebensmittel für den gessamten Bedarf zu kaufen, ferner Kleidung, Schuhe, Filzstiefel, Decken, Seife, Petrolium und Holz sowie andere Gegenstände für den täglichen Bedarf. Es habe sich um Sachbezüge gehandelt, mit welchen sie den gesamten Lebensunterhalt hätten bestreiten können. Die Beklagte wies den Rechtsbehelf zurück (Widerspruchsbescheid vom 09.05.2006). Eine Beschäftigung gegen Entgelt sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Barlohn habe der Verfolgte nicht erhalten. Die Entlohnung durch Gutscheine zur Selbstversorgung erfüllten nicht das Merkmal der Entgeltlichkeit.
Mit der am 22.05.2006 erhobenen Klage hat die Klägerin ergänzend vorgetragen, der Verfolgte habe sich nach Errichtung des Ghettos seines Heimatortes bemüht, eine berufliche Tätigkeit zu finden, um auf diese Weise schlimmeren Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen und seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können. Die von dem Verfolgten als Entlohnung erhaltenen Gutscheine hätten nicht nur der Selbstversorgung gedient. Dadurch hätten Umtauschmöglichkeiten bestanden, so dass der Umfang der Gutscheine einer Entlohnung in Bargeld entsprochen habe. Entgegen der Auffassung der Beklagten könne der Aufenthalt des Verfolgten in Deutschland unter falschem Namen als Ersatzzeit anerkennt werden. Es handele sich um einen Tatbestand des § 43 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Was den israelischen Versicherungsverlauf anbelange bitte sie um eine Auskunft der Nationalversicherung von Amts wegen.
Das SG hat dem Begehren der Klägerin dem Antrag entnommen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. August 2005 und des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 2006 zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 1997 Witwenrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten ihres verstorbenen Ehemannes für den Zeitraum von August 1941 bis Oktober 1942 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung abzuweisen.
Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig gehalten und vorgetragen, die Vermittlung einer Beschäftigung durch den Judenrat sei kein ausreichendes Anzeichen für ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis. Darüber hinaus sei nicht glaubhaft, dass die gewährten Sachbezüge die Geringfügigkeitsgrenze des Unterhaltes überschritten hätten. Im Übrigen scheitere ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente auch an der fehlenden Wartezeit. Selbst wenn die beantragte Zeit von August 1941 bis Oktober 1942 nach dem ZRBG anerkannt werden würde, werde die Wartezeit nicht erfüllt. Im Anschluss daran sei der Verfolgte als polnischer Fremdarbeiter im Deutschen Reich beschäftigt gewesen. Eine solche Zeit könne weder als Ersatzzeit noch als Beitragszeit anerkannt werden. Eine Beitragsabführung zur Deutschen Rentenversicherung für die Zeit der Tätigkeit für die amerikanische Besatzungsmacht sei weder ersichtlich noch nachgewiesen. Beiträge zur israelischen Rentenversicherung seien nach Angaben der Klägerin ebenfalls nicht zurückgelegt worden. Als Witwe habe diese auch kein Recht, freiwillige Beiträge zur Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes zu zahlen.
Das SG hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die den Verfolgten betreffenden Entschädigungsakte (50112) beigezogen und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin eine Witwenrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.08.1941 bis 31.10.1942 nach Maßgabe des ZRBG ab dem 01.07.1997 zu gewähren (Urteil vom 06.07.2007, zugestellt am 01.08.2007). "Nach § 35 6. Sozialgesetzbuch (SGB VI)", hätten Versicherte Anspruch auf Witwenrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt hätten. Der Verfolgte verfüge über auf die Wartezeit anrechenbaren Pflichtbeitragszeiten nach § 1,2 ZRBG. Er habe sich im Ghetto Stanislawow aufgehalten. Es sei glaubhaft, dass er eine Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt habe. Die Klägerin habe in den Fragebögen glaubhaft dargelegt, dass der Verfolgte für seine Tätigkeit im Ghetto Gutscheine für Lebensmittel erhalten habe. Dies habe Frau H bestätigt. Die Kammer schließe sich dieser Auffassung an, dass "gerade zusätzliche Lebensmittel unter Ghettobedingungen" besonders wertvoll und oft entscheidend für "das Überleben ganzer Familien" gewesen seien. Ferner halte es die Kammer für glaubhaft, dass der Verfolgte die Beschäftigung im Ghetto aus freiem Willensentschluss aufgenommen habe. Auch eine Bewachung auf dem Weg von und zur Arbeit sei nicht Folge eines Arbeitszwangs aufgrund obrigkeitlicher Anordnung gewesen, sondern habe der Durchsetzung des Aufenthaltes im Ghetto gedient. Nach alledem habe die Beklagte der Klägerin Witwenrente nach Maßgabe des ZRBG unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.08.1941 bis 31.10.1942 sowie noch anzuerkennender Ersatzzeiten ab 01.07.1997 zu gewähren.
Mit der am 08.08.2007 eingelegten Berufung vertritt die Beklagte die Auffassung, dass SG habe sowohl § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als auch materielles Recht verletzt. Es habe weder geprüft, ob unter Berücksichtigung einer Beitragszeit nach dem ZRBG und der nach Ansicht des SG anzuerkennenden Ersatzzeiten die Wartezeit erfüllt wäre noch darüber entschieden, in welchem Zeitraum und aus welchem Grunde Ersatzzeiten anzuerkennen wäre. Angesichts dessen erscheine es von geringerer Bedeutung, dass es in der Entscheidung eine unzutreffende Rechtsgrundlage und unzutreffende Voraussetzungen genannt habe. Ein freiwillig aufgenommenes, entlohntes Beschäftigungsverhältnis habe in der Zeit von August 1941 bis Oktober 1942 nicht vorgelegen. Bereits das Landgericht München I habe unter Berücksichtigung einer Erklärung des Zeugen M ausgeführt, der Verfolgte sei vor Ablauf des September 1942 aus dem Ghetto entflohen. Nach den bisherigen historischen Erkenntnissen handele es sich bei dem Ort Stanislawow um das heutige Iwano-Frankowsk in der heutigen Ukraine. Der gleichnamige Ort östlich von Warschau könne nicht gemeint sein. Bei dem in der Ukraine liegenden Ort sei jedoch vor Dezember 1941 nicht von einem Ghetto auszugehen. Im Übrigen habe der Verfolgte keine freiwillig aufgenommene, entlohnte Beschäftigung ausgeübt. Folge man den zeitnäheren Angaben aus dem Entschädigungsverfahren, dass der Verfolgte unter anderem Namen in Deutschland gearbeitet habe, sei nicht glaubhaft, dass er sich dann in einem Zwangsarbeitslager aufgehalten habe. Seinerzeit seien Arbeiter aus dem polnischen und osteuropäischen Raum rentenversicherungsmäßig erfasst und berücksichtigt worden. Ab 01.04.1944 sei Versicherungspflicht in der Deutschen Rentenversicherung für sie eingeführt worden. Die Zeiten derartiger Beschäftigungen könnten deshalb keine Ersatzzeiten sein, auch wenn sie nicht von der Rentenversicherungspflicht umfasst wurden. Selbst unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit von November 1942 bis November 1945 wäre allein mit der vom SG angenommenen Beitragszeit die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Das Vorliegen weiterer Ersatzzeiten sei weder behauptet worden noch sonst ersichtlich. Dabei sei zu beachten, dass die Klägerin den Verfolgten erst nach dem Krieg geheiratet habe und ihr Kenntnisse über dessen Verfolgungsschicksal aus Erzählungen bekannt sein könnten. Die Zahlung freiwilliger Beiträge zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit sei für Hinterbliebene nicht zulässig. Beitragszeiten aus Israel könnten nicht berücksichtigt werden. Der Verfolgte sei bereits 1953 gestorben. Die israelische Rentenversicherung berücksichtigte anrechnungsfähige Beitragszeiten frühestens ab 01.04.1954.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Düsseldorf vom 06.07.2007 zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Ausweislich der Sitzungsniederschrift begann der Termin dieser Sache um 11.35 Uhr und endete um 11.37 Uhr.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, aus den Akten des Landgerichts München ergebe sich, dass sich der Verfolgte bis Ende September 1942 in dem Ghetto Stanislawow aufgehalten habe und ihm zu diesem Zeitpunkt die Flucht gelungen sei. Das im Reichskommissariat Ukraine gelegene Ghetto Stanislawow sei unverzüglich nach der Besetzung des Ortes durch die Deutschen im August 1941 errichtet worden. Wegen Lebens in der Illegalität seien Ersatzzeiten ab Oktober 1942 bis April 1945 anzuerkennen. Wegen des Lebens in der Illegalität unter dem Namen einer "arischen Polin" seien Ersatzzeiten ab Oktober 1942 bis April 1945 anzuerkennen. Im übrigen seien die in Israel zurückgelegten Versicherungszeiten auf die Wartezeit anzurechnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Beklagten und der beigezogenen Entschädigungsakte des Verfolgten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Entsprechendes gilt, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Eine Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG ist hier nach Auffassung des Senats geboten. Denn das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, sodass der Senat von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat.
Das angefochtene Urteil enthält keine ausreichenden Entscheidungsgründe (§ 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG), was einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt. Zwar muss sich ein Gericht nicht mit jedem Beteiligtenvorbringen auseinandersetzen. Zum Mindestinhalt der Entscheidungsgründe gehört jedoch eine ausreichende Angabe der angewendeten Rechtsnormen, der für erfüllt oder nicht erfüllt gehaltenen Tatbestandsmerkmale und der dafür ausschlaggebenden tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Zu den entscheidungserheblichen Streitpunkten müssen die Erwägungen, die das Gericht zum Urteil geführt haben, mitgeteilt werden. Wesentlicher Teil der Entscheidungsgründe muss die Beweiswürdigung sein. Das Gericht hat den Streitstoff erschöpfend und zu würdigen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 26.11.2007 – L 4 R 149/07 – m. w. N.).
Diesen Anforderungen genügen die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils nicht. Das SG hat sich auf die Angabe und Wiedergabe der seiner Auffassung nach anspruchsbegründenden Norm des § 35 SGB VI sowie darauf beschränkt, die erforderliche allgemeine Wartezeit als erfüllt anzusehen, weil die Klägerin, bestätigt durch Frau H, glaubhaft dargelegt habe, dass der Verfolgte für seine Tätigkeit im Ghetto Gutscheine für Lebensmittel erhalten und diese Beschäftigung aus freiem Willensentschluss aufgenommen habe. Obwohl das SG zutreffend in den Entscheidungsgründen als Voraussetzung für einen Anspruch auf Witwenrente für erforderlich gehalten hat, dass der Verfolgte die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nach § 50 Abs. 1 SGB VI erfüllt hat, finden sich in dem Urteil keine Tatsachenfeststellungen, die die Erfüllung dieser Voraussetzung begründen. Vielmehr beschränkt sich das SG in den Entscheidungsgründen auf die Feststellung, unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.08.1941 bis 31.10.1942 "sowie noch anzuerkennder Ersatzzeiten" sei Witwenrente nach Maßgabe des ZRBG zu gewähren.
Feststellungen dazu, in welchem zeitlichen Umfang und aus welchen rechtlichen Gründen anrechenbare Ersatzzeiten vorliegen und/oder in welchem zeitlichen Umfang und aus welchen rechtlichen Gründen weitere Beitragszeiten vorliegen, mit denen insgesamt die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt sein könnte, enthält das angefochtene Urteil nicht, obwohl die Beklagte bereits schriftsätzlich (26.06.2006) ihre Auffassung dargelegt hat, selbst im Falle einer Anerkennung der nach den ZRBG beantragten Zeiten sei die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt. Vielmehr hat sich das SG in keinster Weise damit auseinandergesetzt, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren lediglich Ersatzzeiten im Zeitraum vom 01.08.1941 bis April 1945 behauptet hat und Beiträge des Verfolgten nach ihren Angaben im Antragsformular weder an einen deutschen Rentenversicherungsträger noch zu israelischen Nationalversicherung gezahlt worden sind.
Das SG durfte nicht davon absehen, neben dem Vorliegen von sog. Ghetto-Beitragszeiten das Vorliegen weiterer auf die Wartezeit anrechenbarer Zeiten zu prüfen. Denn bei einem Grundurteil nach §130 Abs. 1 S. 1 SGG handelt es sich nicht um ein Zwischenurteil, sondern systematisch um eine gesetzlich ausnahmsweise zugelassene Zurückverweisung an die Behörde, um die Höhe der Leistung feststellen zu lassen. Zwar kann nach § 54 Abs. 4 SGG auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden. Es müssen aber sämtliche Voraussetzungen der jeweils beanspruchten Leistung dem Grunde nach vorliegen. Das Gericht darf sich nicht auf die Prüfung einzelner Leistungsvoraussetzungen beschränken und im übrigen den Versicherungsträger zur Erteilung eines neuen Bescheides verpflichten (vgl. LSG NRW, Urteil vom 26.11.2007 – L 4 R 149/07 – m. w. N.).
Ferner enthält die angefochtene Entscheidung des SG keine Feststellungen dazu, ob für die angenommene Beitragszeit von August 1941 bis Oktober 1942 bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs. 1 s. Halbsatz, 2 ZRBG), was dem geltend gemachten Anspruch ebenfalls entgegenstehen könnte (vgl. BSG, Urteil vom 26.07.2007 – B 13 R 28/06 R – Randnummer 26).
Das SG hat ferner seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt und die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten. Die Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG ist verletzt, wenn der dem SG bekannte Sachverhalt von seinem materiell-rechtlichen Standpunkt aus nicht für das Urteil ausreicht, sondern das Gericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedränkt fühlen müssen (vgl. BSG. Urteil vom 06.05.2004 B 4 RA 44/03 R).
Der Entscheidung des SG liegt dessen Auffassung zugrunde, der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente sei von der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 abs. 1 SGB VI) seitens des Verfolgten abhängig.
Positiv festgestellt hat das Sozialgericht lediglich das Vorliegen einer nach dem ZRBG zu berücksichtigenden Beitragszeit vom 01.08.1941 bis 31.10.1942.
Dieser Zeitraum genügt – auch nach Auffassung des SG – nicht zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit. Bei dieser Sachlage hätte sich das SG auch von seinem Standpunkt gedrängt sehen müssen, weitere Ermittlungen hinsichtlich des Vorliegens von sonstigen anrechenbaren Zeiten (§ 51 SGB VI) durchzuführen.
Ferner hat das SG die Grenzen der freien Beweiswürdigung verletzt, da es das – bisherige – Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt hat. Seine Beweiswürdigung besteht lediglich darin, die Klägerin habe in den Fragebögen glaubhaft dargelegt, dass der Verfolgte für seine Tätigkeit im Ghetto Gutscheine für Lebensmittel erhalten habe. Dies habe Frau H bestätigt. Ferner halte die Kammer es für glaubhaft, dass der Verfolgte die Beschäftigung im Ghetto aus freiem Willensentschluss aufgenommen habe. Völlig unberücksichtigt bleibt dabei, dass – wie sich aus dem Schreiben der URO vom 15.02.2004 ergibt – zu diesem Zeitpunkt offenbar keine Angaben über die Arbeit des Verfolgten während der Inhaftierung im Ghetto machen konnte. Ebenso unberücksichtigt blieb, dass – wie im Berufungsverfahren auch von der Klägerin zugestanden – bereits im Verfahren bei dem Landgericht München I offenbar Zeugenerklärungen vorgelegt wurden, aus denen sich – jedenfalls nach Auffassung des Landgerichts – ergibt, dass der Verfolgte allenfalls bis September 1942 im Ghetto gewesen ist. Unberücksichtigt bleibt im übrigen in der Entscheidung des SG, dass seitens der Frau H widersprüchliche Angaben sowohl hinsichtlich der Art der von ihr behaupteten Ghetto-Tätigkeiten (Straßenreinigen und Schutträumen, Aufräumungsarbeiten, Reinigungsarbeiten auf den Straßen, in Privathäusern und Verwaltungsgebäuden, Küchenhelferin) als auch hinsichtlich deren Charakter (Zwangsarbeiterin, freiwillige Beschäftigung) sowie des Ortes der Tätigkeit (Arbeit innerhalb des Ghettos und Arbeit außerhalb des Ghettos bei Bewachung auf dem Weg von und zur Arbeit) vorliegen und – wie sich offenbar aus den der Beklagten zugänglichen Entschädigungsakten der Frau H ergibt – diese während des Ghetto-Aufenthaltes von Aufsehern geschlagen und misshandelt wurde. Der Verfolgte selbst erwähnte in seinem Antrag auf Schaden an Freiheit keine Tätigkeit im Ghetto Stanislawow, wohl aber eine anschließende Arbeit in verschiedenen Zwangsarbeitslagern. Obwohl die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid (15.08.2005) ausführte, das Ghetto Stanislawow sei nach den vorliegenden Unterlagen erst im Dezember 1941 eröffnet worden, setzt sich das SG in der angefochtenen Entscheidung auch damit nicht auseinander, sondern legt ohne nähere Begründung auch hinsichtlich des Beginns der angenommenen Beitragszeit lediglich die Angaben der Klägerin, die den Verfolgten erst nach der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung geheiratet hat, zugrunde. Das SG hat die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung insoweit überschritten, als es Tatsachen ohne ausreichende Ermittlungen unterstellt und in eine kritische Überprüfung der Angaben der Klägerin und der Frau H über die Dauer, den Ort und die Art der ausgeübten Tätigkeit des Verfolgten in einem Ghetto sowie seiner Entlohnung unterlassen hat.
Die angefochtene Entscheidung kann auch auf diesen Verfahrensmängeln beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das SG bei ordnungsgemäßer Sachverhaltsaufklärung und kritischer Würdigung der Erklärungen der Klägerin und des Verfolgten zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Desweiteren drängt sich auf, den Zeitraum festzustellen, in dem in Stanislawow ein Ghetto existiert hat. Soweit für den Verfolgten unter anderem Aktenzeichen (000 bzw. xxx) weitere Entschädigungsverfahren durchgeführt worden sein sollten, könnte deren Inhalt ebenfalls der weiteren Aufklärung dienen.
Der Senat hat angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens auch zur Erhaltung der zweiten Tatsacheninstanz von der Möglichkeit der Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 SGG Gebrauch gemacht. Dabei wird das SG zu beachten haben, dass zwar die Ermittlungspflicht des Gerichts durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beschränkt ist, Nachforschungen von Amts wegen aber schon dann geboten sind, wenn der Sachverhalt sie nahelegt. Vorliegend drängt sich auch ohne Beweisantrag zur Abklärung des Verfolgungsschicksals des Verfolgten auf, die Akten des Landgerichts München I anzufordern bzw. nach deren Verbleib zu forschen, die Entschädigungsakten des im Entschädigungsverfahren des Verfolgten gehörten T M sowie die Entschädigungsakten, Rentenakten und Klageakten der Frau H – erforderlichenfalls nach Anforderung einer entsprechenden Einverständniserklärung – beizuziehen und das etwaige Vorliegen weiterer anrechenbarer Zeiten zu klären. Ferner wird das SG zu beachten haben, dass Anspruchsgrundlage für einen Anspruch auf Witwenrente nicht § 35 SGB VI, sondern § 46 SGB VI ist.
(Nachtrag: Nach dem Vortrag im Verfahren bei dem Landgericht München I ist der Verfolgte erst im Herbst 1941 in das Ghetto Stanislawow gekommen)
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem Urteil des SG vorbehalten.
Anlass, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), besteht nicht.
Erstellt am: 20.02.2008
Zuletzt verändert am: 20.02.2008