NZB als unzulässig verworfen
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 08.06.2016 geändert. Der Bescheid vom 17.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2008 wird aufgehoben, soweit die Klägerin betroffen ist. Der Beklagte hat die Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II iHv 3.667,30 EUR für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.04.2007.
Die am 00.00.1956 geborene Klägerin lebte im streitigen Zeitraum gemeinsam mit ihrem am 00.00.1954 geborenen Ehemann und der am 00.00.1982 geborenen Tochter, die nicht im Leistungsbezug stand, in einem Haushalt. Die Unterkunftskosten der 82 qm großen Mietwohnung beliefen sich auf 349,99 EUR Grundmiete zzgl. Nebenkostenvorauszahlung iHv 106 EUR, einer Kabelgebühr iHv 10,92 EUR und einer Heizkostenvorauszahlung iHv 75,40 EUR monatlich. Insgesamt fielen Unterkunftskosten iHv 542,31 EUR monatlich an. Die Erzeugung von Warmwasser erfolgte nach den Angaben bei Antragstellung zentral. Die Klägerin bezog aus einem Minijob in einem Privathaushalt seit 1994 durchgehend bis einschließlich April 2007 ein gleichbleibendes Einkommen iHv 400 EUR brutto/netto monatlich. Die Tätigkeit ist bei der Knappschaft-Bahn-See als Minijobzentrale im Haushaltsscheckverfahren angemeldet, der Arbeitgeber entrichtete in diesem Rahmen Sozialversicherungsbeiträge. Bis Dezember 2004 bezogen die Klägerin und ihr Ehemann Wohngeld iHv 128 EUR monatlich. Auf dem Wohngeldbescheid ist ein Einkommen der Klägerin nicht vermerkt. Der Ehemann bezog darüber hinaus bis zum 31.12.2004 Arbeitslosenhilfe. Bis einschließlich Januar 2005 erhielt der Ehemann der Klägerin Kindergeld für die Tochter iHv 154 EUR monatlich.
Den erstmals Ende 2004 gestellten Leistungsantrag unterschrieb der Ehemann der Klägerin. Nach Aktenlage teilten die Klägerin und ihr Ehemann den Bezug des Erwerbseinkommens der Klägerin zunächst nicht mit. Den Bezug des Wohngeldes und des Kindergeldes gaben sie bei Antragstellung an.
Mit Bescheid vom 23.11.2004 bewilligte der Beklagte Leistungen für den Zeitraum von Januar 2005 bis April 2005 für die Klägerin und ihren Ehemann. Hierbei berücksichtigte er bei der Klägerin neben dem Regelbedarf iHv 311 EUR Unterkunftskosten iHv 172,60 EUR monatlich und bereinigte den sich so ergebenden Bedarf um das hälftige Kindergeld nach Abzug des Freibetrages von 30 EUR. Insgesamt bewilligte der Beklagte der Klägerin 441,60 EUR monatlich. Aus der dem Bescheid beigefügten Berechnung der Leistungen ist ersichtlich, dass bei dem Ehemann der Klägerin das Kindergeld mit 124 EUR berücksichtigt wird. Im Übrigen wird das "zu berücksichtigende Einkommen" mit "0,00 EUR" aufgeführt.
Am 09.02.2005 sprach die Klägerin bei der Bundesagentur für Arbeit (T-straße) vor. Die Vorsprache ist in den Akten des Beklagten vermerkt, ein vollständiger Aktenvermerk über den Inhalt der Vorsprache kann jedoch nicht mehr rekonstruiert werden. Der einzig vorhandene Computerausdruck lautet: "Vorsprache zur Datenmigration. Übt zu".
Mit Bescheiden vom 18.05.2005 und vom 21.09.2005 bewilligte der Beklagte Leistungen für den Zeitraum Mai 2005 bis April 2006 in unveränderter Höhe. Mit Änderungsbescheid vom 22.09.2005 bewilligte der Beklagte Leistungen für den Zeitraum Mai 2005 bis Oktober 2005 und berücksichtigte den Wegfall des Kindergeldes ab September 2005. Die Klägerin erhielt so monatliche Leistungen für September und Oktober 2005 iHv 483,60 EUR. Mit Schreiben vom 10.10.2005 legte der Ehemann der Klägerin Widerspruch gegen die Bewilligungsentscheidungen ein. Er machte geltend, der Beklagte habe zu Unrecht Kindergeld iHv 124 EUR bedarfsmindernd in den vorangegangenen Monaten berücksichtigt. Mit zwei Änderungsbescheiden vom 03.11.2005 berechnete der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum von Januar 2005 bis April 2005 und von Mai 2005 bis September 2005 neu und rechnete das Kindergeld als Einkommen ab Februar 2005 nicht mehr an. Mit Bescheiden vom 11.04.2006 und vom 04.10.2006 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen für den Zeitraum Mai 2006 bis April 2007 jeweils in gleichbleibender Höhe von 483,60 EUR monatlich.
Am 03.05.2007 teilte die Klägerin dem Beklagten telefonisch mit, dass ihr Nebenverdienst iHv 400 EUR ab dem 15.04.2007 weggefallen sei.
Nach Einreichung der Lohnunterlagen hörte der Beklagte die Klägerin und ihren Ehemann mit Schreiben vom 03.07.2007 zu einer Aufhebung und Erstattung der Leistungen für den Zeitraum von Januar 2005 bis April 2007 an. Er führte aus, das Einkommen der Klägerin iHv 400 EUR sei nicht bekannt gewesen. Es sei so im Zeitraum von 01.01.2005 bis 30.04.2007 zu einer Überzahlung iHv 3.667,30 EUR gekommen. Die Bewilligung sei daher gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 2 SGB X zurückzunehmen und die überzahlten Leistungen seien nach § 50 SGB X zu erstatten.
Mit Schreiben vom 05.07.2007 erklärte der Ehemann der Klägerin, es seien stets alle Angaben vollständig gegenüber dem Jobcenter gemacht worden. Die Klägerin selbst erklärte mit Schreiben vom 05.07.2007, die Anlage über ihr Erwerbseinkommen sei von ihr persönlich am 09.02.2005 "beim Arbeitsamt in der T-straße" vorgelegt worden.
Mit Bescheiden vom 17.12.2007 an die Klägerin und ihren Ehemann hob der Beklagte die Bescheide vom 22.11.2004, 18.05.2005, 21.09.2005, 22.09.2005, 03.11.2005, 11.04.2006, und 04.10.2006 für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.04.2007 teilweise iHv 3667,30 EUR auf. Dem Bescheid beigefügt ist eine Berechnung der Erstattungsforderung unter Gegenüberstellung der bewilligten Leistungen und der tatsächlich zustehenden Leistungen. Rechtsgrundlage für die Rückforderung sei § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X. Die Klägerin habe grob fahrlässig ihre Mitteilungspflichten verletzt.
Den Widerspruch vom 03.01.2008 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.05.2008 zurück. Als Rechtsgrundlage für die Rückforderung nannte er jetzt § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X. Die Klägerin habe ihre Mitteilungspflichten grob fahrlässig verletzt, weil sie ihr Einkommen bei dem Beklagten nicht angezeigt habe. Darüber hinaus läge jedoch auch grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der aufgehobenen Bescheide vor. Die Erstattungspflicht folge aus § 50 SGB X.
Mit der am 26.06.2008 bei dem Sozialgericht Dortmund erhobenen Klage haben die Klägerin und ihr Ehemann ihr Ziel auf Aufhebung des Bescheides vom 17.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.06.2008 weiter verfolgt. Sie tragen vor, das Einkommen der Klägerin bei der Antragstellung angegeben zu haben. Die Klägerin habe in der Arbeitsagentur in der T-straße vorgesprochen und alle Angaben gemacht sowie sämtliche Mitwirkungspflichten erfüllt. Auch eine grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen könne ihnen nicht zur Last gelegt werden. Diese läge nur dann vor, wenn der Fehler "ins Auge springen" müsse. Allenfalls liege eine einfache Fahrlässigkeit in Bezug auf das Fehlverständnis der Bewilligungsbescheide vor.
Am 08.06.2016 hat das Sozialgericht das Verfahren des Ehemannes der Klägerin wegen der fortbestehenden Verhandlungsunfähigkeit des Ehemannes abgetrennt und zum Ruhen gebracht.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 17.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2008 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Ausführungen in den streitgegenständlichen Bescheiden wiederholt und vertieft.
Mit Urteil vom 08.06.2016, der Klägerin zugestellt am 23.08.2016, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Rechtsgrundlage für die Rückforderung sei § 40 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III iVm § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X. Im Sinne dieser Vorschrift seien die Bewilligungsbescheide von Beginn an rechtswidrig gewesen, da die Anrechnung des Erwerbseinkommens der Klägerin unterblieben sei. Hinsichtlich der von dem Beklagten festgestellten Überzahlungen bestünden keine Bedenken, diese würde von der Klägerseite auch nicht gerügt. Die Klägerin könne sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. Die zurückgenommenen Bewilligungsbescheide würden auf Angaben beruhen, die die Klägerin zumindest infolge grober Fahrlässigkeit in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe. Das bei der Erstbeantragung ausgefüllte Antragsformular enthalte keine Angaben zum Erwerbseinkommen der Klägerin, obwohl darin ausdrücklich nach vorhandenem Einkommen gefragt worden sei. Der Einwand der Klägerin, sie habe am 09.02.2005 beim Arbeitsamt vorgesprochen und die Unterlagen eingereicht, könne nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Abgesehen von den Zweifeln an der Richtigkeit dieser Behauptung genüge eine Mitteilung gegenüber einem anderen Leistungsträger nicht, um die Mitteilungspflichten zu erfüllen. Die erstmalige Mitteilung des Erwerbseinkommens könne den Verwaltungsakten erst anlässlich der Mitteilung der Klägerin im Jahr 2007 entnommen werden. Offenbleiben könne, ob die Klägerin selbst oder ihr Ehemann die unvollständigen Angaben gemacht habe. Das Verhalten des Ehemannes sei der Klägerin über § 278 BGB zuzurechnen. Hiernach habe der Schuldner ein Verschulden eines Vertreters bzw. Erfüllungsgehilfen in gleichem Umfang zu vertreten, wie eigenes Verschulden. Der Anwendungsbereich dieser Norm erstrecke sich auch auf vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse. Darüber hinaus sei der Ehemann gegenüber dem Beklagten auch als gesetzliche Vertreter iSd § 1357 BGB tätig geworden. Auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X lägen vor. Die Klägerin habe die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung zumindest grob fahrlässig verkannt. Voraussetzung für das Vorliegen der groben Fahrlässigkeit sei, dass sie die tatsächlichen und rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Es bestehe die Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zur Kenntnis zu nehmen und zu lesen. Sofern sich aus einer solchen Kontrolle Zweifel an der Rechtswidrigkeit der ergangenen Entscheidung ergeben könnten, bestünde die Verpflichtung des Begünstigten bei der Behörde nachzufragen. Die Rechtswidrigkeit der Bescheide sei aufgrund der fehlenden Anrechnung des Einkommens offensichtlich.
Mit der am 14.06.2016 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Ziel auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide unter Abänderung der Entscheidung des Sozialgerichts weiter. Sie trägt vor, weder sie selbst noch ihr Ehemann hätten die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung erkannt. Die Klägerin sei in Bezug auf Antragstellungen gegenüber Behörden gänzlich unerfahren. Ihr Ehemann habe stets die Anträge ausgefüllt und die erforderlichen Unterlagen beigebracht. Auch diesem sei nie aufgefallen, dass das Arbeitseinkommen der Klägerin nicht berücksichtigt worden sei. Sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann hätten die erlassenden Bescheide gelesen, jedoch die Rechtswidrigkeit nicht erkannt. Da sie gegenüber dem Arbeitsamt alle Angaben gemacht hätten, seien sie davon ausgegangen, dass die Nebentätigkeit bekannt und entsprechend berücksichtigt worden sei. Dies werde auch daraus deutlich, dass die Klägerin die Aufgabe der Beschäftigung bei dem Beklagten unmittelbar angezeigt habe. Die Berücksichtigung des nicht zugeflossenen Kindergeldes sei ihrem Ehemann nur aufgefallen, weil ein Behördenmitarbeiter ihn darauf hingewiesen habe. Auch sei der Ehemann der Klägerin sich sicher, sämtliche Unterlagen bereits bei der ersten Antragstellung vorgelegt zu haben. Weder die Klägerin noch ihr Ehemann hätten von ihrem Ausbildungs- bzw. Wissensstand her erkennen können oder müssen, dass das Einkommen der Klägerin aus der geringfügigen Nebentätigkeit nicht berücksichtigt worden sei. Zwar könnten keine Bescheide über den Bezug der Arbeitslosenhilfe mehr vorgelegt werden, doch habe sie gegenüber dem Arbeitsamt stets vollständige Angaben gemacht und das Erwerbseinkommen sei bekannt gewesen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 08.06.2016 zu ändern und den Bescheid vom 17.12.2007 in Gestalt des die Klägerin betreffenden Widerspruchbescheides vom 30.05.2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Der Senat hat den Ehemann der Klägerin als Zeugen vernommen. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift zum Beweisaufnahmetermin am 13.04.207 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streit- und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund ist zu ändern. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig iSd § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Gegenstand des Klage- und Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 17.12.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2008 soweit dieser die Klägerin betrifft. Die Klägerin ficht den Bescheid zutreffend mit der Anfechtungsklage an.
Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere hat der Beklagte mit Schreiben vom 03.07.2007 die notwendige Anhörung der Klägerin (§ 24 SGB X) durchgeführt.
Er ist jedoch materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen der Rücknahme der Bewilligungsentscheidungen liegen nicht vor.
Allein in Betracht kommende Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Leistungen im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.04.2007 sind §§ 40 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 45 SGB X, 330 Abs. 2 SGB III. Hiernach ist ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung auch für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Die für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.04.2007 ergangenen Bewilligungsbescheide waren von Beginn an rechtswidrig iSd § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X, da der Beklagte durchgängig das nicht vollständig anrechnungsfreie Einkommen der Klägerin aus Erwerbstätigkeit iHv 400 EUR mtl. nicht angerechnet hat.
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an seiner Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte die erbrachten Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte u. a. dann nicht berufen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Grob fahrlässig handelt, wer einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt, die im gegebenen Fall jedem einleuchten müssten. Maßgeblich ist die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, somit das Einsichtsvermögen des Betroffenen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles (BSG Urteil vom 08.02.2001 – B 11 AL 21/00 R, LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 23.07.2012 – L 19 AS 566/12 mwN, Hessisches LSG Urteil vom 05.12.2012 – L 2 R 80/12).
Entgegen der Auffassung des Beklagten kann der Klägerin und ihrem Ehemann keine schuldhafte Verletzung ihrer Mitteilungspflicht nachgewiesen werden (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).
Für eine Verletzung der Mitteilungspflicht spricht allerdings, dass die Klägerin und ihr Ehemann nach Lage der Akten bei der Beantragung der Leistungen nach dem SGB II im Antragsformular kein Erwerbseinkommen der Klägerin eingetragen haben, obgleich in dem Vordruck ausdrücklich nach Erwerbseinkommen gefragt wird. Dem Beklagten ist auch zuzugestehen, dass die fehlende Angabe des Erwerbseinkommens der Klägerin in dem von diesen vorgelegten Wohngeldbescheid geeignet ist, Zweifel an der Mitteilung des Erwerbseinkommens bei der Wohngeldstelle zu begründen. Diese Annahme gilt jedoch allenfalls für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis einschließlich 08.02.2005. Denn der Senat hält es für nachgewiesen, dass die Klägerin am 09.02.2005 den Bezug des Erwerbseinkommens mitgeteilt hat. Hierfür spricht entscheidend der Vorsprachevermerk vom 09.02.2005, der – erstellt im Rahmen der Datenmigration von der Agentur für Arbeit zu der damaligen ARGE als Rechtsvorgängerin des Beklagten – den Zusatz "Übt zu" enthält und nur dahingehend verstanden werden kann, dass die Klägerin die Ausübung des Minijobs mitgeteilt hat. Evtl. verbleibende Zweifel hieran gehen zu Lasten des Beklagten, da die Bundesagentur für Arbeit den vollständigen Vermerk gelöscht hat und der Beklagte hierfür einzustehen hat (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II).
Die Vorsprache der Klägerin bei der Agentur für Arbeit ist auch geeignet, der Mitwirkungsverpflichtung gegenüber der ARGE zu genügen. Die Klägerin konnte und musste zum damaligen Zeitpunkt nicht erkennen, dass es sich bei der Agentur für Arbeit und der ARGE um verschiedene Behörden handelte, zumal ausweislich des Aktenvermerks die Vorsprache der Klägerin im Rahmen der Datenmigration – also mit dem Ziel der Übertragung ihrer Daten an die ARGE – erfolgte. Insoweit konnte die Klägerin ohne weiteres von einer Weiterleitung der Informationen an den Beklagten ausgehen.
Eine auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X gestützte Aufhebung der Bewilligung scheidet aber auch für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 08.02.2005 aus. Zwar lässt sich für diesen Zeitraum eine Mitteilung des Einkommens nicht nachweisen und spricht das insoweit unvollständig ausgefüllte Antragsformular – wie ausgeführt – gegen eine Mitteilung. Diese (unterstellte) Verletzung der Mitteilungspflicht war jedoch weder vorsätzlich noch grob fahrlässig.
Vorsatz im Sinne eines bewussten und gewollten, auf den unrechtmäßigen Bezug von Leistungen gerichteten Verhaltens, scheidet von vornherein aus. Hiergegen spricht, dass die Tätigkeit der Klägerin bei der Knappschaft-Bahn-See ordnungsgemäß angemeldet war und die Klägerin nicht davon ausgehen konnte, dass eine verschwiegene Tätigkeit dauerhaft unentdeckt bleibt. Auch der Umstand, dass die Klägerin im Mai 2007 ohne Aufforderung die Aufgabe ihrer Tätigkeit mitgeteilt hat, lässt es als ausgeschlossen erscheinen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt ihr Einkommen vorsätzlich verschwiegen hat.
Der Klägerin ist auch nicht der Vorwurf zu machen, dass die Nichtmitteilung des Einkommens in dem Antragsformular auf grober Fahrlässigkeit beruht. Zwar ist bei der Beantragung bedürftigkeitsabhängiger existenzsichernder Leistungen anzunehmen, dass die Angabe von bezogenem Einkommen so selbstverständlich notwendig ist, dass der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bei der Nichtmitteilung von Einkommenszufluss grundsätzlich begründet sein wird. Indes sind im vorliegenden Fall Besonderheiten zu beachten, die eine abweichende Bewertung begründen:
Der Ehemann der Klägerin bezog bis zum 31.12.2004 Arbeitslosenhilfe. Diese Leistung war auch bedürftigkeitsabhängig. Partnereinkommen war im Rahmen des § 194 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung (aF) zwar grundsätzlich anzurechnen, jedoch nur unter Berücksichtigung des Freibetrags nach § 194 Abs. 1 Satz 2 SGB III aF. Freibetrag war ein Betrag in Höhe der fiktiven Arbeitslosenhilfe des Partners, mindestens aber iHv 80% des einkommensteuerrechtlichen Freibetrags nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG. Dieser Betrag lag oberhalb des Einkommens der Klägerin iHv 400 EUR. Weil das Einkommen, das – wie ausgeführt – mindestens der Minijobzentrale ordnungsgemäß gemeldet worden war und im Rahmen der Arbeitslosenhilfe nicht angerechnet wurde, war vorliegend die Annahme, das Einkommen könnte auch für das Arbeitslosengeld II, das aus Sicht der Klägerin die Arbeitslosenhilfe abgelöst hatte, unbeachtlich sein, ggf. einfach, nicht aber grob fahrlässig.
Die Klägerin hat auch nicht in grob fahrlässiger Weise die Unrichtigkeit der im streitigen Zeitraum ergangenen Bewilligungsbescheide verkannt (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Zwar besteht die Obliegenheit eines jeden Betroffenen, Bescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG Urteil vom 01.07.2012 – B 13 R 77/09 R). Wenn der dem Bescheid zugrundeliegende Sachverhalt in dem Bescheid wiedergegeben wird, ist der Betroffene verpflichtet, diesen zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen und – wenn sich hierbei ergibt, dass der Sachverhalt von der Behörde falsch zugrunde gelegt wird – die Behörde hierüber zu informieren (BSG Urteil vom 08.02.2001 – B 11 AL 21/00 R). Auch ist in Fällen, in denen der Betroffene während des Leistungsbezuges erstmalig Einkommen erzielt und dieses im Bescheid keine Berücksichtigung findet, grundsätzlich von grober Fahrlässigkeit auszugehen. Insoweit gilt jedoch für den vorliegenden Fall, dass die Klägerin im Hinblick auf die nicht erfolgte Anrechnung des Partnereinkommens auf die Arbeitslosenhilfe des Ehemannes nicht davon ausgehen musste, dass die Nichtanrechnung von Einkommen auf das Arbeitslosengeld II fehlerhaft sein muss. Hinzu kommt, dass die Bewilligungsbescheide in der maßgeblichen Zeile die Formulierung "zu berücksichtigenden monatliches Einkommen" und nicht etwa "erzieltes" oder "zufließendes" monatliches Einkommen enthält. Ob Einkommen "zu berücksichtigen" ist, setzt eine rechtliche Bewertung und nicht bloß die Kenntnis eines Sachverhalts voraus. Die Nichtvornahme der rechtlichen Bewertung, wonach vorliegend ihr Einkommen – anders als bei der vorherigen Arbeitslosenhilfe – nicht anrechnungsfrei, also "zu berücksichtigen" ist, begründet den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Erstellt am: 15.01.2018
Zuletzt verändert am: 15.01.2018