Mit Urteil des BSG vom 19.08.15 wird die Rev. d.Kl. zurückgewiesen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 30.04.2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen eine Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags nach § 5 Abs. 3 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der am 10.00.1950 geborene Kläger lebt zusammen mit seiner am 00.00.1950 geborenen Ehefrau in einer Mietwohnung (Nettokaltmiete 350 EUR, kalte Nebenkosten 128 EUR, Heizkosten 53 EUR monatlich, zusammen: 531 EUR). Die Warmwasseraufbereitung erfolgt über die Heizungsanlage. Der Kläger und seine Ehefrau haben eine Hausrat- und eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen (jährlicher Beitrag 102,34 EUR und 64,93 EUR). Die Beklagte gewährte dem Kläger und seiner Ehefrau zuletzt mit Bescheid vom 16.08.2013 geändert durch Bescheid vom 23.11.2013 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 1.059,33 EUR. Hierbei rechnete sie kein Einkommen an.
Ausweislich eines Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Rheinland vom 31.05.2011 wird der Kläger ab dem 01.08.2015 eine abschlagsfreie Regelaltersrente iHv 955,81 EUR monatlich erhalten. Seine Ehefrau wird ab dem 01.07.2015 eine Regelaltersrente iHv 457,50 EUR erhalten. Der Kläger kann seit dem 01.01.2013 eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit erzielen, deren monatlicher Zahlbetrag im Verhältnis zur Regelaltersrente je Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,3 % gekürzt würde.
Nach Feststellung einer fehlgeschlagenen Integration in den Arbeitsmarkt wurde der Kläger im Rahmen einer persönlichen Vorsprache aufgefordert, einen Rentenantrag zu stellen. Nachdem der Kläger dies am 14.08.2012 und 10.09.2012 abgelehnt hatte, erließ die Beklagte am 10.09.2012 den angefochtenen Bescheid, mit dem sie den Kläger aufforderte, bis zum 19.11.2012 einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen; andernfalls erfolge die stellvertretende Antragstellung durch die Beklagte. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer Pflicht zur vorzeitigen Rentenbeantragung seien gegeben. Der Verweis auf den Bezug einer (geminderten) Altersrente sei angemessen und geeignet, die Hilfebedürftigkeit zu vermeiden.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe keinen Vorteil von einer vorzeitigen Rentenantragstellung. Er verliere im Gegenteil monatlich ca. 77 EUR. Die Altersrente würde auf die Rente seiner Frau angerechnet und beide blieben im Leistungsbezug. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2012 zurück. Es lägen keine Ausnahmetatbestände nach der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten (Unbilligkeitsverordnung) durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente vor. Diese sei abschließend.
Am 06.11.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Er vertritt die Ansicht, die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente sei unbillig. Die Unbilligkeitsverordnung sei nicht abschließend. Die Unbilligkeit ergebe sich insbesondere daraus, dass bei Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente er und seine Frau dauerhaft auf ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) angewiesen seien. Darüber hinaus rüge er die fehlerhafte bzw. fehlende Ausübung von Ermessen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 10.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2012 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen. Ergänzend trägt sie vor, sie habe ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Ein Ermessensfehler sei nur bei einem atypischen Fall gegeben, der hier nicht vorliege.
Am 30.11.2012 hat der Kläger einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Das SG Duisburg hat mit Beschluss vom 28.01.2013 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (S 25 AS 4787/12 ER). Die Beklagte habe das notwendige Ermessen nicht hinreichend ausgeübt. Auf die Beschwerde der Beklagten vom 15.02.2013 hat das Landessozialgericht (LSG) NRW den Beschluss aufgehoben und den Antrag abgelehnt (L 19 AS 291/13 B ER).
Am 08.07.2013 hat die Beklagte stellvertretend für den Kläger einen Rentenantrag bei der DRV gestellt. Der Kläger selber hat keinen Rentenantrag gestellt.
Mit Bescheid vom 20.01.2014 hat die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 16.08.2013 und 23.11.2013 die Leistungen an die Ehefrau des Klägers auf 243,32 EUR gekürzt und weitere Leistungen an den Kläger eingestellt. Hierbei rechnete sie fiktiv ein bedarfsminderndes Renteneinkommen in Höhe von 816,01 EUR an. Gegen diesen Bescheid haben der Kläger und seine Ehefrau Widerspruch eingelegt. Ebenfalls am 20.01.2014 hat die Beklagte der Ehefrau des Klägers für den Zeitraum vom 01.03 bis 31.08.2014 Leistungen nach dem SGB II unter Anrechnung der fiktiven Rente in Höhe von 816,01 EUR bewilligt.
Am 06.02.2014 haben der Kläger und seine Frau im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen ohne Anrechnung fiktiven Einkommens für den Monat Februar 2014 begehrt. Mit Beschluss vom 13.03.2014 hat das SG die Beklagte verpflichtet, den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft ab dem 06.02.2014 bis zum 28.02.2014 Leistungen ohne fiktive Anrechnung von Renteneinkommen zu zahlen.
Mit Urteil vom 30.04.2014 hat das SG Duisburg die Klage abgewiesen. Der Kläger sei durch den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nicht beschwert. Die Bescheide seien rechtmäßig, weil die notwendige Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid erfolgt sei und kein Fall von §§ 2 – 5 Unbilligkeitsverordnung vorliege. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung entspreche der Verpflichtung nach § 12a SGB II und stelle die grundsätzliche Systematik des Nachrangs von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gegenüber Sozialleistungen anderer Träger sicher. Der Kläger könne nicht damit argumentieren, dass nur durch ungekürzte Altersrenten in Höhe von 1.250 EUR der Bedarf der Gemeinschaft von derzeit 1.220 EUR gedeckt sei und diese geringe Differenz die Bedarfsgemeinschaft nicht davor bewahre, zukünftig Ansprüche des Grundsicherungsträgers beanspruchen zu müssen.
Gegen das am 08.05.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.05.2014 Berufung eingelegt und im Wesentlichen vorgetragen, dass die Ausnahmetatbestände der Unbilligkeitsverordnung nicht hinreichend von der Beklagten berücksichtigt und kein ordnungsgemäßes Ermessen ausgeübt worden seien. Die Situation der Bedarfsgemeinschaft habe in einer Gesamtbetrachtung eingehend geprüft werden müssen. Eine solche Ermessensentscheidung habe nicht stattgefunden. Insbesondere sei nicht genügend berücksichtigt worden, inwieweit demnächst nur so geringe Mittel aus seinen Rentenleistungen zur Verfügung stünden, dass ergänzende Leistungen nach dem SGB XII bezogen werden müssten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 30.04.2014 zu ändern und den Bescheid vom 10.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2012 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen. Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Beschluss des LSG NRW im Verfahren L 19 AS 291/13 B ER und hält die notwendigen Ermessenserwägungen spätestens im Widerspruchsbescheid für erfolgt. Die Prüfung einer etwaigen späteren Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII stelle keine Frage des Ermessens dar. Diese Prüfung sei stattdessen auf Tatbestandsebene zu verorten. Andernfalls müssten sämtliche Fälle der Unbilligkeitsverordnung im Ergebnis als gesetzliche Anordnung einer Ermessensreduktion auf Null angesehen werden. Letztlich sei das Renteneinkommen der Bedarfsgemeinschaft voraussichtlich so hoch, dass weder der Kläger noch seine Ehefrau auf ergänzende Leistungen nach dem SGB XII angewiesen sein werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die beigezogene Akte aus dem Verfahren S 25 AS 3787/12 ER (L 19 AS 291/13 B ER) und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung des Senates Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 SGG frist- sowie formgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGG.
Rechtsgrundlage für die hier streitige Aufforderung der Beklagten an den Kläger, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, ist § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Danach können die Leistungsträger einen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen, wenn der Leistungsberechtigte einen solchen Antrag trotz Aufforderung nicht selbst stellt. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II setzt dabei eine Pflicht des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen – hier der Rente – voraus. Die Aufforderung zur Antragstellung stellt einen Verwaltungsakt dar (vgl. S.Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 5 Rn 32f. m.w.N.). Diese bereits zuvor in §§ 5, 7 und 9 SGB II vorausgesetzte Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen wird durch § 12a SGB II konkretisiert (vgl. BT-Drs 16/7460 S. 12 zu § 12a). Gemäß § 12a S. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit (vgl. BT-Drucks. 16/7460, S.12) erforderlich ist.
§ 12a SGB II findet auf den Kläger Anwendung. § 12a SGB II betrifft unter Berücksichtigung von § 65 Abs. 4 SGB II alle Leistungsberechtigten, die nach dem 01.01.2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben und damit nicht mehr in den Genuss der sogenannten 58-iger Regelung kommen (vgl. Hengelhaupt in Hauck/Noftz, Stand: 6/2014, § 12a SGB II, RdNr. 30; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER, RdNr. 20; Hessisches LSG, Beschluss vom 24.05.2011 – L 7 AS 88/11 B ER, RdNr. 20, beide juris). Der Kläger hat am 14.03.2008 (also nach dem 01.01.2008) das 58. Lebensjahr und am 14.03.2013 das 63. Lebensjahr vollendet. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist gescheitert (vgl. hierzu Luthe in Hauck/Noftz, XII/08, § 5 SGB II Rn 114). Abweichend von Satz 1 sind Leistungsberechtigte nur gemäß § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen.
Nach Vollendung des 63. Lebensjahres muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit" im Sinne der auf der Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II mit Wirkung ab dem 01.01.2008 erlassenen Unbilligkeitsverordnung vom 14.04.2008 (BGBl. I S. 734) darstellt. Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 2 SGB II stellt die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres den Grundsatz und die Freistellung von dieser Pflicht die Ausnahme dar (vgl. BT-Drucks. 16/7460, S. 12 zu § 13). Eine solche Unbilligkeit liegt bei dem Kläger nicht im Sinne der §§ 2 – 5 Unbilligkeitsverordnung vor. Das gilt auch für § 3 Unbilligkeitsverordnung, der eine Inanspruchnahme einer Rente dann für unbillig erklärt, wenn der Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen kann. Ausweislich der Verordnungsbegründung ist ein Zeitraum von längstens drei Monaten gemeint (vgl. Referentenentwurf zur Unbilligkeitsverordnung, Seite 8). Es handelt sich beim Kläger gerade nicht um den vom Gesetzgeber gemeinten kurzen Zeitraum, weil er die Regelaltersrente erst ab dem 01.08.2015 beziehen kann.
Es liegt entgegen der Auffassung des Klägers auch kein Fall einer generellen Unbilligkeit vor, der allenfalls über § 1 der Unbilligkeitsverordnung zu erfassen wäre. Das Renteneinkommen des Klägers und seiner Ehefrau wird entsprechend dem Versicherungsverlauf des Rentenversicherungsträgers einen Betrag ergeben, bei dem die Bedarfsgemeinschaft im Zeitpunkt der Beurteilung der letzten Behördenentscheidung, dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung, keine ergänzenden Leistungen nach dem SGB XII wird beziehen müssen. Der Gesamtbedarf beträgt im SGB II (und damit entsprechend dem SGB XII) ausweislich des Bescheids vom 17.01.2013 1.043,99 EUR. Dem stehen ausweislich der Rentenauskünfte der DRV Rheinland Rentenansprüche von 955,81 EUR und 457,50 EUR, zusammen: 1.413,31 EUR, gegenüber. Abzüglich des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags von 10,25 % = 144,86 EUR wird ein Renteneinkommen von 1.268,45 EUR zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen. Dieses Einkommen reicht auch unter Berücksichtigung der Aufwendungen für die Haftpflicht- und Hausratversicherung von jährlich insgesamt 167,27 EUR, um den Bedarf decken zu können. Ansprüche nach dem Wohngeldgesetz sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Eine weitere Prüfung anderer Gesichtspunkte auf der Grundlage der Unbilligkeitsverordnung ist nicht geboten. Neben den in der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fällen, in denen die vorzeitige Inanspruchnahme für den Betroffenen unbillig ist, sind weitere Fallgruppen auf der Tatbestandsebene nicht zu prüfen. Der Senat ist der Auffassung, dass die in den §§ 2 bis 5 der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fälle abschließend sind (offen gelassen: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. V. 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER). Eine weitergehende Prüfung auf Tatbestandsebene widerspräche dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des § 12a Satz 1 SGB II, wonach es für die Verpflichtung, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, ausreicht, dass dies zur Verminderung der Hilfebedürftigkeit führt. Es genügt also auch, wenn sogar eine Hilfebedürftigkeit weiterhin, aber in geringerem Umfang fortbesteht. Andernfalls wäre immer, wenn die Rente geringer ist als der Gesamtbedarf des Betroffenen eine Unbilligkeit gegeben, was das gesetzliche Regel-/Ausnahmeverhältnis ins Gegenteil verkehren würde. Zudem würde bei dem sog. "aufstockenden" Bezug von Leistungen nach dem SGB XII der geringe Fehlbetrag der Rente ohnehin durch entsprechend höhere SGB XII-Leistungen ausgeglichen, sodass sich dem Gericht nicht erschließt, weshalb sich hieraus eine Unbilligkeit ergeben sollte.
Soweit der Kläger sich generell gegen eine vorzeitige Inanspruchnahme der Rente aufgrund der damit verbundenen Abschläge wendet, vermag dies keinesfalls eine Unbilligkeit zu begründen, sondern ist gerade die Folge, welche von dem Gesetzgeber ab Vollendung des 63. Lebensjahres typisierend als hinnehmbar erachtet wird (vgl. BT-Drs. 16/7460 S.12 zu Nr. 3). Nach der gesetzlichen Konzeption stellt die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente den Grundsatz und die fehlende Pflicht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres die Ausnahme dar (vgl. BT-Drs. 16/7460 S.12 zu Nr. 3 und zu Nr. 4; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER).
Neben diesen tatbestandlichen Voraussetzungen hat die Beklagte allerdings Ermessen bei der Frage des Ob´s einer Aufforderung zur Rentenantragstellung auszuüben. Gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II können die Leistungsträger, wenn die Leistungsberechtigten trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Hieraus schließen die Rechtsprechung und Literatur, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers als auch die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers stehen (Beschlüsse des hiesigen Senats vom 13.05.2013 – L 7 AS 525/13 B ER, und L 7 AS 526/13 B, RdNr. 22 13 B ER und Sächsisches Landessozialgericht; Beschluss vom 28.08.2014 L 7 AS 836/14 B ER, Hessisches LSG Beschluss vom 24.05.2011 – L 7 AS 88/11 B ER = juris Rn 21; Bieback in Gagel SGB II/III, Juni 2011, § 5 SGB II Rn 84, 94 f.; Geiger in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 12a Rn 7; Burkiczak in BeckOK-SGB II, Stand: 01.03.2013, § 5 Rn 5).So hat der erkennende Senat Ermessenserwägungen für erforderlich erachtet, wenn der Berechtigte anrechenbares (geringfügiges) Nebeneinkommen erzielt, das bei einem Wechsel in das Leistungssystem des SGB XII einen deutlich niedrigeren Selbstbehalt zur Folge gehabt hätte (Beschluss vom 19.05.2014 – L 7 AS 546/14 B, juris Rn 24.)
Die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen beschränkt sich gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und die Ermessensausübung in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise. Nach diesen Maßgaben hat die Beklagte das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Insbesondere liegt – entgegen der Ansicht des Klägers – kein Ermessensnichtgebrauch vor. Der Widerspruchsbescheid vom 29.10.2012 lässt eine im Hinblick auf die Sachlage hinreichende Ermessensbetätigung erkennen. Er geht insbesondere auf das gesetzliche Regel-/Ausnahmeverhältnis des § 12a SGB II ein und auf die Frage, ob im konkreten Fall ein Grund gegeben ist, hiervon abzuweichen. Ein ggfs. im Ausgangsbescheid vorliegender Mangel der Ermessensbetätigung kann auch noch bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch eine Nachholung der Ermessensausübung geheilt werden (vgl. Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 41 Rn 11; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER, unter Aufgabe der noch vom erkennenden Senat im Beschluss vom 12.06.2012 – L 7 AS 916/12 B ER, juris vertretenen Auffassung). Es sind überdies weder Gesichtspunkte erkennbar noch vorgetragen, die einer Aufforderung zur Rentenantragsstellung entgegen stünden und die im Rahmen der Ermessensausübung keine hinreichende Berücksichtigung gefunden hätten. Angesichts der fehlenden Hilfebedürftigkeit bei Inanspruchnahme der Altersrente und dem Nichtvorliegen weiterer besonderer Gründe gegen die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente genügen die Abwägungen der Beklagten am Ende des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2012 ("kein Grund erkennbar, weshalb vom ausdrücklich aus den Gesetzesmaterialien hervorgehenden Willen abgewichen werden sollte"). Das vom Kläger vorgetragene Argument, dass die Rentenleistungen (auch seine eigene) aufgrund ihrer geringen Höhe, ihn auf absehbare Zeit auf staatliche Leistungen angewiesen mache, ist kein Argument, dass eine weitere Ermessenbetätigung der Beklagten erfordert hätte. Im Zeitpunkt der maßgeblichen Prognoseentscheidung der Beklagten, war gerade nicht ersichtlich, dass der Kläger auf weitere staatliche Leistungen im Falle des Rentenbezugs angewiesen ist. Wie dies in weiterer Zukunft aussehen wird, hat die Beklagte aufgrund der gesetzgeberischen Konzeption nicht zu berücksichtigen. Der gesamtgesellschaftliche Aspekt von geringen Renten in Abgrenzung zu ergänzenden staatlichen Leistungen sowie schicksalshafte Fragen von notwendigen teuren Pflegeaufwänden im Lebensabend können bei der gesetzlich vorgesehenen Prämisse, jedenfalls zunächst den Bezug von staatlichen Leistungen abzuwenden, nicht Teil der Ermessensentscheidung sein.
Liegen demnach keine Unbilligkeit und auch keine sonstigen Ausnahmefälle, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen wären, vor, so ist der Leistungsberechtigte grundsätzlich zur Beantragung der vorzeitigen Rente verpflichtet und der Leistungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen zur Aufforderung zur Antragstellung berechtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Unterliegen des Klägers Rechnung.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Zum einen ist die Frage, ob die Unbilligkeitsverordnung auf der Tatbestandsebene abschließenden Charakter hat, bislang noch nicht hinreichend geklärt. Zum anderen dürfte es von grundsätzlicher Bedeutung sein, ob ggfls. weitere Besonderheiten der konkreten Situation bei der Aufforderung zur Antragstellung über eine Ermessensbetätigung des Leistungsträgers zu berücksichtigen sind.
Erstellt am: 14.10.2015
Zuletzt verändert am: 14.10.2015