Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 14.08.2012 geändert. Für die Zeit ab dem 01.09.2012 bis zum 31.12.2012 wird der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 374 Euro unter Anrechnung des Aushilfseinkommens aus der Arbeitnehmertätigkeit des Antragstellers nach Maßgabe der §§ 11, 11b Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners ist nur im tenorierten Umfang begründet.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat ihn zu Recht dazu verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 26.07.2012 bis zum 31.07.2012 Arbeitslosengeld II in Höhe von 72,39 Euro und für die Zeit vom 01.08.2012 bis 31.08.2012 Arbeitslosengeld II in Höhe von 374 Euro monatlich zu zahlen.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05-, NVwZ 2005, S. 927).
Der britische Antragsteller, der zuletzt bis April 2011 im Leistungsbezug bei dem Antragsgegner stand, hat gegenüber dem Antragsgegner Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Diesbezüglich hat der Antragsteller sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II sind glaubhaft gemacht. Denn der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II, ist hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Der Antragsteller ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von den Leistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt.
Zwar hält sich der Antragsteller alleine zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf. Ein anderer, Unionsbürgern gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Freizügigkeit und somit zum Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat berechtigender Aufenthaltszweck, welcher nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum die Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausschließt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009, L 10 AS 617/09; LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2008, L 20 B 76/07 SO ER; Spellbrink und Blüggel in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7 Rn. 16 und 24 und § 8 Rn. 46c), ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Dieser Leistungsausschluss war nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) jedenfalls nach der bis zum 18.12.2011 geltende Rechtslage für EU-Bürger, deren Heimatland das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) unterzeichnet hat, wegen des in Art. 1 EFA normierten Gleichbehandlungsgebotes nicht anzuwenden (Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R).
Jedoch hat die Bundesrepublik Deutschland am 19.12.2011 entsprechend Art. 16 b) Satz 2 EFA einen Vorbehalt zum EFA notifiziert, nach dem die Leistungen nach dem SGB II von der Verpflichtung des EFA ausgenommen sind. Umstritten ist, ob dieser Vorbehalt wirksam ist (verneinend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012, Az.: L 19 AS 794/12 B ER und SG Berlin, Beschluss vom 25.04.2012, Az.: S 55 AS 9238/12; bejahend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05.03.2012, Az.: L 29 AS 414/12 B ER und vom 06.08.2012, Az.: L 5 AS 1749/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.07.2012, Az.: L 9 AS 563/12 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012, Az.: L 3 AS 250/12 B ER; SG Berlin Beschluss vom 14.05.2012, Az.: S 124 AS 7164/12 ER; siehe auch LSG NRW Beschluss vom 22.05.2012, Az.: L 6 AS 412/12 B ER; Greiser, in juris PK- SGB XII, Vorbemerkungen SGB XII, Rdn 53f; Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 23 Rdn 36.3; vgl. auch Stellungnahme des Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Ausschussdrucksache 17(11) 881 und Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins aus Juni 2012 zum Vorbehalt der Bundesregierung gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende). Insbesondere ist es für die Beurteilung der Wirksamkeit entscheidend, ob es sich beim SGB II überhaupt um ein "neues" Gesetz im Sinne von Art. 16b) Satz 2 EFA handelt, für das im Dezember 2011 noch ein Vorbehalt erklärt werden konnte. Für die Entscheidung dieser Rechtsfrage kommt es darauf an, wie der Wortlaut des Art. 16 lit. b) EFA in der verbindlichen englischsprachigen Fassung "any new law or regulation" auszulegen ist. Nach dieser Vorschrift müssen die Vertragsstaaten dem Generalsekretär des Europarates gleichzeitig mit der Mittelung neuer Rechtsvorschriften ("any new law or regulation") ihre Vorbehalte in Bezug auf die Anwendung dieser Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörige der anderen Vertragsstaaten notifizieren können. Ob von dem Begriff "any new law or regulation" neben neu in Kraft getretenen Gesetzen zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auch Gesetzesnovellen oder neue Rechtsprechung zu einschlägigen Gesetzen erfasst werden, ist nicht geklärt. Zudem lassen sowohl die englische Fassung mit der Formulierung "any new law or regulation not already included in Annex I " als auch die gleichfalls verbindliche französische Version "tout règlement non encore couvert par l annexe I" Raum für eine Auslegung.
Für den Fall, dass der Vorbehalt wirksam ist, ist weiter umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen europäisches Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2002 zu Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verstößt. Vertreten wird, dass aufgrund des in der Verordnung normierten Gleichbehandlungsgebotes alle in den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallende Unionsbürger umfassend zum Bezug insbesondere auch der Leistungen nach dem SGB II berechtigt werden (so SG Berlin, Beschluss vom 08.05.2012, Az.: S 91 AS 8804/12 ER, SG Dresden, Beschluss vom 05.08.2011, Az.: S 36 AS 3461/11 ER, Schreiber in NZS 2012, Seite 647 ff., a.A. LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012, Az: L 19 AS 1393/12 B ER, SG Berlin, Beschluss vom 14.05.2012, Az.: S 124 AS 7164/12 ER und Beschluss vom 11.06.2012, Az.: S 205 AS 11266/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012, Az.: L 3 AS 1477/11 – Revision anhängig unter dem Az.: B 4 AS 54/12 R -, LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012, Az.: L 20 AS 2347/11 B ER).
Zudem stellt sich in dem hier zu entscheidenden Sachverhalt die Frage, ob sich der Antragsteller bei summarischer Prüfung auf einen Verstoß gegen Art. 45 AEUV berufen. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 04.06.2009 (vgl. EuGH, C 22/08, C 23/08) klargestellt, dass sich EU-Bürger, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auf einen Verstoß gegen Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) berufen können, wenn der Mitgliedsstaat eine finanzielle Leistung verweigert, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll und der Unionsbürger in dem Mitgliedsstaat bereits eine Verbindung zum Arbeitsmarkt geschaffen hat. Eine solche Verbindung zum Arbeitsmarkt lag hier bereits vor der Beschäftigungsaufnahme durch den Antragsteller vor. Dem Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetz/EU unterfallende Unionsbürger können sich nach der Rechtsprechung des EuGH (a.a.O. Rdn. 38 m.w.N.) nämlich dann auf den in Art. 39 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV) normierten Gleichbehandlungsgrundsatz berufen, wenn sie eine "tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates" hergestellt haben und diese feststellbar ist. Dabei hat der EuGH es ausdrücklich den zuständigen nationalen Behörden und ggf. den innerstaatlichen Gerichten überlassen, das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen (vgl. EuGH, a.a.O. Rdn. 41). Dabei kann sich eine solche Verbindung bereits aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat (EuGH, C-138/02, Rdn. 70). Eine solche tatsächliche Verbindung des Antragstellers sieht der Senat im vorliegenden Fall bereits deshalb gegeben, weil der Antragsteller zwischenzeitlich eine Beschäftigung aufgenommen hat, für die er ein Arbeitsentgelt in Höhe von 400 Euro monatlich erhält. Somit hat sich die Beschäftigungssuche sogar in einer Beschäftigungsaufnahme manifestiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH bleibt jedoch offen, ob es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um Leistungen handelt, die den erleichternden Zugang zum Arbeitsmarkt bezwecken sollen (vgl. EuGH, C-22/08, Rdn. 42, 43 ff).
Eine abschließende Klärung der Rechtsfrage ist wegen der dargelegten Komplexität der Rechtslage und im Hinblick darauf, dass dem EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV die Befugnis vorbehalten ist, das europäische Primärrecht auszulegen und über die Vereinbarkeit des europäischen Sekundärrechts mit dem Primärrecht zu entscheiden (Greiser, a.a.O., Rdn. 39) nicht möglich. Weiter schließen die besonderen Anforderungen eines Eilverfahrens wegen der Dauer von Vorlageverfahren nach Art. 267 AUEV (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rdn. 13, 3) eine Vorlage an den EuGH in einstweiligen Rechtsschutzverfahren aus (LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012, Az.: L 19 AS 1393/12 B ER), LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012, Az.: L 3 AS 250/12 B ER; LSG Bayern, Beschluss vom 14.08.2012, Az.: L 16 AS 568/12 B ER, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.05.2012, Az.: L 25 AS 837/12 B ER).
In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundessverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05). Im Rahmen der Folgenabwägung ist auch die Bedeutung der beantragten Leistungen für den Antragsteller gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners abzuwägen, die vorläufig erbrachten Leistungen im Fall des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten. Bei ungeklärten Erfolgsaussichten in der Hauptsache geht die Interessenabwägung vorliegend zugunsten des Antragstellers aus, da es sich für ihn um existenzsichernde Leistungen handelt und das auch ausländischen Staatsangehörigen zustehende Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen ist. Insbesondere ist der Antragsteller zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen und der bestehenden Nähe zum Arbeitsmarkt auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu verweisen (vgl. dazu LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012, Az.: L 19 AS 1393/12 B ER).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der glaubhaft gemachten Mittellosigkeit des Antragstellers.
Nach Aufnahme der Aushilfstätigkeit war das Einkommen aus dieser Tätigkeit jedoch ab September 2012 nach den gesetzlichen Vorschriften in Anrechnung zu bringen.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Die Aufnahme der Aushilfstätigkeit erfolgte erst am 01.09.2012 und damit nach der Einlegung der Beschwerde durch den Antragsgegner am 31.08.2012.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 19.12.2012
Zuletzt verändert am: 19.12.2012