Anhörungsrüge als unzulässig verworfen
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der bzw. Ermäßigung der Rundfunkgebühr) vorliegen.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 03.12.2003 stellte die Beklagte bei dem 1964 geborenen Kläger einen GdB von 100 fest und ging dabei von folgenden Graden der Behinderung (GdB) aus: Wirbelsäulensyndrom bei Fehlhaltung und Bandscheibenleiden, Folgen nach Kniegelenksfraktur rechts, Hüftgelenksverschleiß, Nervenirritation (Einzel-GdB 80), Minderbegabung bei frühkindlichem Hirnschaden, Fehlstellung der Augen, Hörminderung (Einzel-GdB 60), Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 20), Reizmagen (Einzel-GdB 10), Bronchitis (Einzel-GdB 10) und Angstneurose (Einzel-GdB 10) fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) stellte die Beklagte ebenfalls fest. Die Minderbegabung mit Seh- und Hörminderung war bereits aufgrund des Erstantrags des Klägers im Jahr 1983 festgestellt. In einem in den Verwaltungsakten befindlichen Rentengutachten aus dem Jahr 2001 wurde als Hauptdiagnose eine somatoforme Schmerzstörung mit ausgeprägter hysterischer Komponente bei infantil-histrionischer Persönlichkeit festgehalten.
Am 17.09.2015 stellte der Kläger einen Änderungsantrag unter gleichzeitiger Beantragung des Merkzeichens "RF" und gab als Beeinträchtigungen an: "Hypertonie, 6 Bandscheibenvorfälle, Tibiakopffraktur links, Verschleiß Ellenbogengelenk links und beide Hüften".
Die Beklagte holte eine Auskunft der Pflegekasse ein; einen Antrag hatte der Kläger dort noch nicht gestellt. Außerdem holte sie einen Befundbericht der als behandelnde Ärztin angegebenen Allgemeinmedizinerin Dr. C in C ein. Die hierzu eingeholte beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. T schätzte den GdB des Klägers weiter mit 100 ein. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" lägen nicht vor, weil der Kläger im Rollstuhl an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Dem Ergebnis dieser Stellungnahme entsprechend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2015 einen GdB von 100 fest und lehnte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, da seines Erachtens die Voraussetzungen des Merkzeichens vorlägen. Hierzu legte er die Bescheinigung seiner Hausärztin vom 29.09.2015 über die Notwendigkeit eines Krankentransports vor.
Die Bezirksregierung Münster wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2016 als unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich die am 26.01.2016 erhobene Klage.
Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" bei ihm vorlägen. Er vertritt die Meinung, die Bescheinigung seiner Hausärztin sei nicht ausreichend beachtet worden. Er verweist zudem auf verschiedene ärztliche Bescheinigungen älteren Datums, welche er vorlegt. Zudem führt er die bereits im Änderungsantrag benannten Beeinträchtigungen an. Seines Erachtens liegt bei ihm keine psychiatrische Erkrankung vor. Zur Stützung seines Vortrags hat er insbesondere einen radiologischen Bericht aus dem Jahr 2014 und ein Pflegegutachten der Pflegekasse aus Februar 2017 vorgelegt.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 08.01.2016 zu verpflichten, bei ihm ab September 2015 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ihres Erachtens ist der Kläger nicht vollständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Die Beklagte sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere das eingeholte Sachverständigengutachten, bestätigt.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts der Hausärztin des Klägers sowie eines medizinischen Sachverständigengutachtens von Dr. T (Facharzt für Allgemeinmedizin, Physikalische Therapie und insbesondere Sozialmedizin in C). Der Sachverständige hat den Kläger in Kenntnis der überlassenen Gerichts- und Verwaltungsakten am 02.03.2017 im Rahmen eines Hausbesuchs untersucht und ist zu der Auffassung gelangt, dass der Kläger weder auf die Benutzung eines Rollstuhls noch auf Unterarmgehstützen angewiesen sei. Die von ihm angegebene subjektive Einschränkung des Gehvermögens sei rein psychogen bedingt. Aus organischen Gründen sei der Kläger nicht gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Eben so wenig seien Hinweise darauf vorhanden, dass der Kläger aus psychischen Gründen an der Teilnahme gehindert sei. Darüber hinaus hat das Gericht eine Auskunft der Krankenkasse und der Rentenversicherung des Klägers eingeholt. Die Hausärztin Dr. C hat auf Anfrage des Gerichts schriftlich mitgeteilt, seit dem Jahr 2015 sei kein Hausbesuch bei dem Kläger erforderlich gewesen. Der Kläger habe die Praxis im Jahr 2015 sieben, im Jahr 2016 acht und im ersten Halbjahr 2017 zwei Mal aufgesucht. Weiterhin hat das Gericht die als Pflegeperson für den Kläger tätige Nachbarin, Frau M, als Zeugin in einem Beweisaufnahmetermin vernommen. Der Inhalt ihrer Aussage ergibt sich aus dem Protokoll zur Niederschrift des Termins vom 24.08.2017.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme und wegen des sonstigen Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten. Die Akten lagen in der mündlichen Verhandlung vor und waren Gegenstand der Erörterungen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer durfte durch Urteil entscheiden, obwohl für den Kläger im Verhandlungstermin niemand erschienen ist, da der Kläger in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 111 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF". Er ist durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2016 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Anspruchsgrundlage für die von dem Kläger begehrte Feststellung ist § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit den Sonderregelungen für das beantragte Merkzeichen. Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellt die zuständige Behörde auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden daneben auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört auch die beantragte Feststellung der Voraussetzungen für eine Gebührenermäßigung ("RF").
Eine (Neu-)Feststellung nach diesen Vorschriften kommt im Falle des Klägers im Hinblick auf die Voraussetzungen des beantragten Merkzeichens "RF" nicht in Betracht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "RF". Im Vergleich zu den Verhältnissen bei Erteilung des Bescheides vom 03.12.2003 ist es nicht zu einer solchen wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X gekommen, dass nunmehr die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" vorliegen.
Zu dieser Überzeugung gelangt die Kammer aufgrund ihrer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Insoweit wurden die aktenkundigen medizinischen Unterlagen, insbesondere das Sachverständigengutachten von Dr. T, und die Angaben der Hausärztin Dr. C sowie der Zeugin M, und der Vortrag der Beteiligten eingehend gewürdigt. Die Kammer schließt sich der Beurteilung des Sachverständigen Dr. T an, der das Gutachten nach Befragung und Untersuchung des Klägers unter eigener Anamnese- und Befunderhebung und unter Berücksichtigung der bereits vorliegenden ärztlichen Berichte und Gutachten erstellt hat. Das Sachverständigengutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar sowie frei von Widersprüchen. Zudem ist der Sachverständige dem Gericht bekannt als erfahrener Gutachter und Autor einer Vielzahl von sorgfältig erstellten und qualitativ hochwertigen Gutachten. Die Feststellungen des Sachverständigen stimmen darüber hinaus überein mit den hierzu erfolgten Angaben der Zeugin M und der Hausärztin Dr. C.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" gemäß § 69 Absatz 4 SGB IX feststellt und das Merkzeichen "RF" gemäß § 3 Absatz 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in seinen Schwerbehindertenausweis einträgt. Die Beklagte geht vielmehr zu Recht davon aus, dass die notwendigen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.
Neben den bereits erwähnten Normen des Sozialgesetzbuchs ist rechtliche Grundlage für das geltend gemachte Klagebegehren der landesrechtlich einheitlich geregelte Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV), nach dessen § 4 Absatz 2 Nr. 3 nicht mehr eine vollständige Befreiung, sondern nur noch eine Teilbefreiung gewährt wird; der Rundfunkbeitrag des Berechtigten wäre danach lediglich auf ein Drittel "ermäßigt" (insoweit auch Landessozialgericht – LSG – Baden-Württemberg, Urteil vom 16.01.2013, L 3 SB 3862/12, veröffentlicht in juris; Dau, Neuigkeiten im Schwerbehindertenrecht 2013, juris Praxis-Report – juris PR-SozR – 22/2012, Anm.1 unter F).
Nach § 4 Abs. 2 RBStV werden von der Rundfunkgebührenpflicht befreit, 1. blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung, 2. hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, und 3. behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Ob unter Umständen auch bereits ein GdB von 70 ausreicht (insoweit BSG, Urteil vom 16.02.2012, B 9 SB 2/11 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 14), kann dahin stehen, da bei dem Kläger ein GdB von 100 festgestellt ist. Es fehlt aber an den weiteren gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF".
Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Sie ist davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls an Veranstaltungen teilnehmen kann, an denen auch Rollstuhlfahrer teilnehmen könnten. Die Kammer stützt sich dabei in erster Linie auf das von Dr. T eingeholte Sachverständigengutachten. Danach ist dem Kläger eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen möglich. Weder aufgrund somatischer noch psychischer Leiden ist er hieran gehindert. Dass hierfür ein Organisationsaufwand insbesondere für das Zurücklegen der Wege erforderlich ist, ist rechtlich unerheblich. Gegen einen generellen Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen spricht zudem die Tatsache, dass der Kläger seine behandelnde Ärztin in deren Praxis mehrfach im Jahr aufsucht. Hausbesuche waren in den letzten Jahren nicht erforderlich. Ob der Kläger den Weg in die Hausarztpraxis nur mit Hilfe oder sogar allein bewältigen kann, kann dabei dahin stehen. Dass er dazu keinen weiten Weg zurücklegen muss, weil sich die Praxis in der Nähe seiner Wohnung befindet, ist unerheblich. Weitere Wege oder etwa die Überwindung von Treppen kann der Kläger durch Inanspruchnahme technischer Hilfsmittel und/oder einer Begleitperson bewältigen. Dazu steht dem Kläger unter anderem auch das Merkzeichen "B" zu. Die Tatsache allein, dass dem Kläger kein Rollstuhl zur Verfügung steht, weil dieser sich etwa nicht in seiner Wohnung unterbringen lässt, spricht nicht hiergegen. Der Kläger muss sich notwendige Hilfsmittel für die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen beschaffen, sei es leihweise oder auf anderem Wege. Er muss hierfür auch die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen. Auch ansonsten lässt sich kein ausreichender Anhaltspunkt dafür finden, dass der Kläger von nahezu jeglicher Veranstaltung ausgeschlossen sein soll. Das gilt auch im Hinblick auf die auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bei dem Kläger vorliegende Hauptdiagnose einer somatoformen Schmerzstörung im Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsveränderung. Der Kläger selbst geht nicht davon aus, dass bei ihm ein psychiatrisches Krankheitsbild vorliegt. Seines Erachtens liegen die Voraussetzungen des begehrten Merkzeichens vor, weil er unter körperlichen Einschränkungen leidet; diese kann er allerdings unter Inanspruchnahme von Hilfeleistungen beim Aufsuchen von öffentlichen Veranstaltungen überwinden. Fachärzte sucht der Kläger nicht auf. Insofern ist auch eine genauere Eingrenzung der aktuellen psychischen Beeinträchtigungen des Klägers nicht möglich. Sowohl das vorhandene Rentengutachten als auch das von dem Kläger vorgelegte Pflegegutachten ergeben jedoch deutliche Hinweise auf das Vorliegen eines psychischen Leidens des Klägers, was durch den Sachverständigen Dr. T bestätigt wird. Danach liegen bei dem Kläger sogar hauptsächlich Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet vor. Zur Frage der Teilnahmefähigkeit an öffentlichen Veranstaltungen ist für die Kammer auch insoweit die Einschätzung des Sachverständigen Dr. T maßgebend. Danach ist der Kläger auch aufgrund eines psychischen Leidens nicht an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183 und 193 SGG und entspricht der Entscheidung in der Hauptsache.
Erstellt am: 18.12.2019
Zuletzt verändert am: 18.12.2019