Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Köln vom 22.06.2012 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beklagte verfolgt mit ihrer Beschwerde die Zulassung der Berufung gegen das klagestattgebende Urteil des Sozialgerichts (SG) Köln – S 6 AS 687/12 – hinsichtlich der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für ein Widerspruchsverfahren um Mahngebühren.
Das Jobcenter L machte gegenüber dem minderjährigen Kläger mit Bescheid vom 06.07.2010 eine Erstattungsforderung wegen überzahlter Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 40,00 Euro geltend. Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seine Bevollmächtigte, Widerspruch ein.
Mit Schreiben vom 04.09.2011 forderte die Beklagte den Kläger zur Zahlung einer Erstattungsforderung aus einem "Widerspruchsbescheid vom 06.07.2010" binnen einer Woche auf und setzte gleichzeitig unter Berufung auf § 19 Abs. 2 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes Mahngebühren in Höhe von 0,80 Euro fest. Dem Schreiben war eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt.
Der Kläger legte durch seine Bevollmächtigte mit Schreiben vom 19.09.2011 Widerspruch ein. Es gebe keinen Widerspruchsbescheid vom 06.07.2010. Gegen den Bescheid vom 06.07.2010 sei Widerspruch eingelegt worden. Dieser habe aufschiebende Wirkung.
Die Beklagte erließ am 23.09.2011 einen Abhilfebescheid und entsprach dem Widerspruch in vollem Umfang. Sie erklärte sich bereit, die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu übernehmen, erkannte jedoch die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten nicht an. Den gegen letztere Ablehnung gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.12.2011 zurück. Von einem rechtskundigen verständigen Bürger mit dem Bildungs- und Erfahrungsstand des Klägers wäre aufgrund des Kostenrisikos im Verhältnis der geringen Mahngebühr zu den anfallenden Anwaltskosten kein Rechtsanwalt beauftragt worden. Dem Kläger sei es zuzumuten gewesen, das Verfahren selbst zu führen.
Auf die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hat das SG Köln die Beklagte mit Urteil vom 22.06.2012 verpflichtet, die Zuziehung der Bevollmächtigten zum Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 04.09.2011 für notwendig zu erklären. Die Frage der Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren sei dann zu bejahen, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen sowie wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten sei, das Vorverfahren selbst zu führen bzw. wenn die Partei es aus subjektiver ex-ante-Sicht für erforderlich halten durfte, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützt zu werden und diesen dann zugezogen habe (LSG München Urteil vom 12.05.2010 – L 16 AS 829/09 m.w.N.; LSG NRW Beschluss vom 11.01.2012 – L 19 AS 1975/11 B). Abzustellen sei auf den Einzelfall, dies insbesondere unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Klägers. Die Notwendigkeit werde in der Regel anzunehmen sein, da der Bürger nur in Ausnahmefällen seine Rechte gegenüber der Verwaltung selbst wahren könne (LSG München, a.a.O.; von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010 § 63 Rn 26). Relevant sei mithin, ob ein vernünftiger Bürger mit dem gleichen Bildungs- und Erfahrungsstand wie der Kläger sich bei der gegebenen Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwalts bedient hätte. Dies sei zur Überzeugung der Kammer hier der Fall. Da es sich bei dem Kläger um ein minderjähriges Kind handele, sei auf den Bildungs- und Erfahrungsstand seiner Mutter, Frau U, als vertretungsberechtigtem Elternteil abzustellen. Die Mutter sei nach ihrer Einwanderung aus ihrem Heimatland, dem Kongo, in der Bundesrepublik nicht berufstätig gewesen. Die Kammer habe sich in der mündlichen Verhandlung ein Bild davon gemacht, dass sie der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Selbst einfachste Fragen seien kaum verstanden und nach umständlicher Erklärung des Sinngehalts nur beschränkt verständlich beantwortet worden. Die Kammer habe keine Zweifel daran, dass die Mutter den Sinngehalt der Mahnung sowie eventueller Rechtsbehelfe nicht verstanden habe. Sie habe überzeugend und glaubhaft geschildert, sich wegen des fehlenden Verständnisses an eine Beratungsstelle der Caritas gewendet zu haben. Wenn ihr aber schon dort die Inanspruchnahme einer Rechtsanwältin angeraten worden sei, weil auch die Mitarbeiter der Caritas telefonisch keine ausreichenden Auskünfte von der Beklagten erhalten hätten, sei die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren zweifelsfrei gegeben. Ergänzend sei noch hervorzuheben, dass die Mahnung auch noch einen nicht existenten Widerspruchsbescheid bezeichnet habe, was ebenso wie eine Vollstreckungsandrohung erst mehr als ein Jahr nach Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides für weitere Verwirrung gesorgt habe. Bei dieser Sach- und Rechtslage hätte sich auch ein vernünftiger Bürger eines Bevollmächtigten bedient. Dem stehe auch nicht der Umstand entgegen, dass die Festsetzung im Mahnbescheid nur einen sehr geringen Betrag betreffe. Dies sei der Mutter des Klägers vor dem Hintergrund ihrer Verständnisschwierigkeiten zum einen nicht ersichtlich. Zum anderen gebe es im Rahmen des § 63 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) keine Bagatellgrenzen. Die Berufung hat das SG nicht zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 29.06.2012 zugestellte Urteil am 13.07.2012 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben. Sie ist unter Hinweis auf eine Vielzahl von bei den Sozialgerichten anhängigen Fällen der Auffassung, dass sich grundsätzlich die Frage stelle, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten nur in besonders gelagerten Einzelfällen oder bereits grundsätzlich für notwendig anerkannt werde.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 22.06.2012 zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Die form- und fristgerecht erhobene Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig.
Die Berufung gegen das Urteil des SG bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR nicht übersteigt.
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Berufung ist nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGG erfüllt ist.
Gemäß § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozial-gerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sich eine Rechtsfrage stellt, deren Klärung über den konkreten Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich ist (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung auch durch das Berufungsgericht zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit) (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, z.B. Beschluss des erkennenden Senats vom 07.11.2011 -L12 AS 974/11 NZB; LSG NRW Beschluss vom 26.03.2010 – L 6 B 110/09 AS NZB; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, §144 Rn 28 i.V.m. § 160 Rn 6).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Das SG hat die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten in Mahngebührenfällen nicht grundsätzlich für notwendig erachtet, sondern zutreffend allein den hier vorliegenden tatsächlichen, individuellen Sachverhalt beurteilt. Es ist unter ausführlicher Darlegung besonderer Verständnisschwierigkeiten der Mutter des minderjährigen Klägers zu dem Ergebnis gelangt, dass diese als seine Vertreterin nach ihren persönlichen und individuellen Möglichkeiten nicht in der Lage gewesen sei, ein Widerspruchsverfahren selbst nachvollziehbar und zielgerichtet zu betreiben. Steht aber lediglich die Würdigung von Besonderheiten des Einzelfalls in Frage, so ergibt sich hieraus nicht eine verallgemeinerungsfähige grundsätzlich vom Landessozialgericht zu klärende Rechtsfrage.
Anhaltspunkte für eine Divergenz gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG liegen nicht vor, ein Verfahrensmangel gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Gegen den Beschluss ist keine Beschwerde an das Bundessozialgericht gegeben (§ 177 SGG). Mit der Ablehnung der Beschwerde wird das Urteil rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 S. 4 SGG).
Erstellt am: 22.10.2012
Zuletzt verändert am: 22.10.2012