Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29.07.2019 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren streitig, ob im Rahmen einer Beschäftigung als Taxisfahrer erzieltes Trinkgeld im September 2018 und Oktober 2018 als Erwerbseinkommen bedarfsmindernd angerechnet werden kann.
Der am 00.00.1959 geborene Kläger ist verheiratet und bezieht zusammen mit seiner Ehefrau Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Er lebt mit seiner Ehefrau in einer Mietwohnung in L. Die monatliche Gesamtmiete beträgt 620 EUR (445 EUR Grundmiete, 115 EUR Betriebskosten, 60 EUR Heizkosten). Die Warmwasseraufbereitung erfolgt dezentral über strombetriebene Einrichtungen.
Der Kläger ist angestellter Taxifahrer der Firma T GmbH & Co. KG. Zusätzlich zu dem schwankenden monatlichen Gehalt erhält der Kläger regelmäßig von seiner Arbeitgeberin von Kunden gezahltes Trinkgeld ausgezahlt. Die Auszahlung des Gehalts erfolgt durch monatlichen Abschlag von je 1.000 EUR. Der überschießende monatliche Nettogehaltsanteil nebst Trinkgeldern wird im jeweiligen Folgemonat ausgezahlt.
Mit Bescheid vom 06.02.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger und dessen Ehefrau Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von März 2018 bis Februar 2019. Für September 2018 und Oktober 2018 bewilligte er Leistungen iHv insgesamt monatlich 400,40 EUR. (jeweils 200,20 EUR). Dabei ging der Beklagte von einem monatlichen Einkommen iHv 1625,80 EUR brutto/1.284,80 EUR netto aus.
Ende August 2018 legte der Kläger seine Lohnabrechnung für August 2018 vor. Ausweislich dieser Abrechnung hat der Kläger brutto 1.762,22 EUR verdient, was einem Nettogehalt von 1.435,44 EUR entsprach. Hinzu kamen Trinkgelder iHv 214,90 EUR, sodass sich ein Gesamtauszahlungsbetrag iHv 1.650,34 EUR ergab. Abzüglich des bereits im August 2018 ausgezahlten Vorschusses von 1.000 EUR wurden dem Kläger im September 2018 für August 2018 650,34 EUR ausgezahlt. Daneben erhielt der Kläger im September 2018 einen Lohnvorschuss iHv 1.000 EUR für September.
Mit an den Kläger gerichtetem Bescheid vom 24.09.2018 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 06.02.2018 für September 2018 teilweise auf und forderte vom Kläger einen Betrag iHv 182,77 EUR zurück. Die Ehefrau des Klägers erhielt ebenfalls einen entsprechenden Aufhebungs- und Erstattungsbescheid für September 2018 über 182,77 EUR.
Am 09.10.2018 legte der Kläger Widerspruch ein. Die Anrechnung des Trinkgeldes von 214,90 EUR als Einkommen sei nach einer Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe (Urteil vom 30.03.2016 – S 4 AS 2297/15) unzulässig. Die Erstattungssumme reduziere sich mithin auf 75,32 EUR (Gesamterstattungssumme von 365,54 EUR [2 x 182,77 EUR] – 214,90 EUR Trinkgeld = 150,64 EUR, mithin je Person der Bedarfsgemeinschaft 75,32 EUR). Diese 75,32 EUR habe er an den Beklagten zurücküberwiesen.
Nachdem der Kläger seine Lohnabrechnung für September 2018 vorlegte (Brutto 1.584,32 EUR/Netto 1.299,16 EUR/Trinkgeld 225,80 EUR), errechnete der Beklagte für Oktober 2018 eine Gesamtüberzahlung von 240,16 EUR, hob den Bewilligungsbescheid vom 06.02.2018 insoweit teilweise auf und forderte vom Kläger eine Rückerstattung von anteilig 120,08 EUR (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 29.10.2018).
Mit E-Mail vom 04.11.2018 beantragte der Kläger die Überprüfung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 29.10.2018. Die Anrechnung des Trinkgeldes als Einkommen sei unzulässig. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 08.11.2018 eine Änderung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 29.10.2018 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers vom 06.12.2018 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2019 als unbegründet zurück. Mit gesondertem Widerspruchsbescheid vom 29.01.2019 wies der Beklagte zudem den Widerspruch des Klägers gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 24.09.2018 als unbegründet zurück. Die Anrechnung des Trinkgeldes als Erwerbseinkommen sei nicht zu beanstanden. Trinkgelder seien bei der Berufsgruppe der Taxifahrer regelmäßige, berufstypische Zusatzeinnahmen, was auch daran deutlich werde, dass der Arbeitgeber des Klägers dieses Trinkgeld als "Lohnart 1052" in der Lohnabrechnung speziell ausweise. Die Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe betreffe eine andere Berufsgruppe und sei mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht zu vergleichen.
Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 24.09.2018 (September 2018) und den Überprüfungsbescheid vom 08.11.2018 (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid für Oktober 2018) jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 29.01.2019 hat der Kläger am 19.02.2019 Klage bei dem Sozialgericht Köln erhoben und sein Vorbringen wiederholt und vertieft.
Der Kläger hat beantragt,
den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 24.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2019 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 08.11.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2019 zu verurteilen, den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 29.10.2018 zurückzunehmen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 29.07.2019 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide für die Monate September 2018 und Oktober 2018 seien nicht zu beanstanden. Insbesondere seien die Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gegeben. Der Gesamtbedarf und das hiervon (abzüglich der Absetzbeträge) anzurechnende Einkommen seien richtig ermittelt. Insbesondere seien auch die erzielten Trinkgelder zutreffend als Einkommen nach § 11 Abs. 1 SGB II berücksichtigt worden. Bei den Trinkgeldzahlungen handele es sich nicht um nach § 11a Abs. 5 SGB II nicht zu berücksichtigendes Einkommen. Zwar handele es sich insoweit um freiwillige Zuwendungen ohne rechtliche oder sittliche Pflicht, jedoch sei eine Berücksichtigung dieser Trinkgelder nicht grob unbillig und würde die Lage des Leistungsberechtigten so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären.
Gegen das am 07.08.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20.08.2019 Berufung eingelegt und an seiner Rechtsansicht festgehalten.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29.07.2019 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 24.09.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2019 sowie den Bescheid vom 08.11.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger in den streitgegenständlichen Zeiträumen höhere Leistungen nach dem SGB II ohne die Anrechnung von Einnahmen aus Trinkgeldzahlungen zu zahlen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf das erstinstanzliche Urteil.
Der Senat hat die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrigen Gerichtsakten sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann die Berufung – nach Anhörung der Beteiligten – gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Maßgeblich sind allein Rechtsfragen, die anhand des Akteninhalts beantwortet werden können. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
Die durch das Sozialgericht zugelassene und auch im Übrigen statthafte Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zur Begründung nimmt der Senat vollumfänglich Bezug auf das Urteil des Sozialgerichts. Der Kläger greift dieses Urteil in Bezug auf die Voraussetzungen und Ermächtigungsgrundlagen der Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen vom 24.09.2018 und 29.10.2018 nicht an. Auch hinsichtlich des Gesamtbedarfs des Klägers und seiner Ehefrau und der Höhe und des Zuflusses der Einkommen im September 2018 und Oktober 2018 besteht zwischen den Beteiligten dem Grunde nach kein Streit, weswegen der Kläger die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide teilweise anerkannt und einen Teil der gewährten Leistungen bereits zurückerstattet hat.
Das dem Kläger als Trinkgeld zugeflossene Erwerbseinkommen ist bedarfsmindernd zu berücksichtigen.
Als Einkommen sind nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen zu berücksichtigen. Unstreitig handelt es sich auch bei den monatlich eingenommenen Trinkgeldern um Einnahmen in Geld. Ebenso unstreitig hat der Beklagte alle nach § 11b SGB II einschlägigen Absetzbeträge berücksichtigt. Mit einem monatlichen Freibetrag von je 300 EUR sind bei dem Kläger insbesondere die höchstmöglichen Erwerbstätigenfreibeträge nach § 11b Abs. 2 und 3 SGB II bereits in Abzug gebracht worden. Daneben wurden die Steuer- und Sozialabgabelasten – soweit sie anfielen – berücksichtigt. Dass der Kläger höhere Aufwendungen als monatlich für 100 EUR für die Lasten nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGB II hatte (§ 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II), ist weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht.
Das Erwerbseinkommen in Form der Trinkgelder ist auch unter Berücksichtigung von § 11a SGB II als Einkommen zu behandeln. Insbesondere kommt eine Privilegierung nach § 11a Abs. 5 SGB II nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit 1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder 2. sie die Lage des Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.
Die Anrechnung von Trinkgeldern für einen Taxifahrer ist nicht als grob unbillig zu bewerten. Schon der Wortlaut spricht insoweit für eine enge Auslegung, da eine bloße Unbilligkeit (wie etwa bei § 44 SGB II) nicht ausreicht, sondern diese zudem "grob" sein muss. Bereits eine einfache Unbilligkeit ist hier nicht zu begründen. Auch die Gesetzesbegründung steht einer Anrechnungsfreiheit entgegen. Hiernach betrifft § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II Fälle, bei denen eine Berücksichtigung des zugewendeten Betrages – ohne Rücksicht auf die Höhe der Zuwendung – nicht akzeptabel wäre und die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll. Dies betrifft beispielsweise Soforthilfen bei Katastrophen, gesellschaftliche Preise zur Ehrung von Zivilcourage, Ehrengaben aus öffentlichen Mitteln (z. B. bei Alters- oder Ehejubiläum, Lebensrettung), Spenden aus Tombolas für bedürftige Menschen, insbesondere in der Vorweihnachtszeit). Auch die teilweise erbrachten "Begrüßungsgelder" für Neugeborene fallen hierunter (BT-Drs. 17/3404 S. 94). Zudem würde eine Unterscheidung zwischen Arbeitslohn und Trinkgeld insbesondere bei selbständigen Unternehmern keinen Sinn machen, weil sowohl das Unternehmerhonorar als auch das Trinkgeld als Gegenleistung für die erbrachte Arbeit vom Kunden gezahlt werden. Diese Überlegung gilt auch für Beschäftigte. Daher werden Trinkgelder sozialversicherungsrechtlich gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV prinzipiell zum Arbeitsentgelt gerechnet, da sie im Zusammenhang mit einer Beschäftigung erzielt werden (vgl. dazu auch BSG Urteil vom 31.03.2015 – B 12 R 1/13 R; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 25.02.2016 – L 22 R 631/12; Kokemoor, SGb 2014, 613, 620). Es ist daher konsequent, dass Trinkgelder, die anlässlich eines Austauschvertrags gewährt werden, etwa in der Gastronomie, im Taxigewerbe oder im Friseurhandwerk den anrechenbaren Einkünften der ausgeübten Tätigkeit zugerechnet werden (ebenso SG Landshut Urteil vom 27.09.2017 – S 11 AS 261/16; Schmidt, in: Schlegel-Voeltzke, juris-PK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 82 Rn. 60 – Stand: 13.08.2018; abweichend SG Karlsruhe Urteil vom 30.03.2016 – S 4 AS 2297/15). Der Umstand, dass Trinkgelder gemäß § 3 Nr. 51 EStG lohnsteuerfrei und über § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV daher auch sozialversicherungsbeitragsfrei gestellt sind, ist für die grundsicherungsrechtliche Frage der Anrechnungsfreiheit irrelevant, weil das am Bedarfsdeckungsprinzip orientierte Grundsicherungsrecht in einer Vielzahl von Fällen vom lenkungspolitisch motivierten Steuer- und Abgabenrecht abweicht (vgl. §§ 3 Abs. 2, 8 Alg II-VO). Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn erarbeiteter Lohn, der dem Steuer- und Abgabenrecht unterliegt, angerechnet wird, freiwillige Zuwendungen ohne zwingend-kausales Korrelat zur geleisteten Arbeit aber anrechnungsfrei blieben. Es ist zudem gerecht – und nicht grob unbillig – dass Dienstleistungen ohne Kundenkontakt im Verhältnis zu Dienstleistungen mit Kundenkontakt gleich behandelt werden.
Durch die Anrechnung wird der Zweck des Trinkgeldes nicht entwertet. Es dient – ebenso wie Arbeitslohn – dazu, dem Empfänger den Lebensunterhalt zu sichern und ihn insoweit unabhängig vom Bezug von staatlichen Transferleistungen zu machen. Auch insoweit ist eine Privilegierung von Empfängern von Trinkgeld gegenüber Personen, die ihren Arbeitslohn zB durch Überstunden erhöhen, nicht zu rechtfertigen. Zudem bleiben dem Empfänger die Erwerbstätigenfreibeträge erhalten
Das Trinkgeld beeinflusst die Lage des Klägers so günstig, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt sind (§ 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II). Es steht dem Kläger (und seiner Ehefrau) vollständig zur Deckung des Lebensunterhalts zur Verfügung. Im Falle des Klägers würde eine Anrechnungsfreiheit des Trinkgeldes zudem nahezu zu einer Verdoppelung der maximalen Freibetragsgrenzen nach § 11b Abs. 2 und 3 SGB II führen. Im Gesetzgebungsverfahren wurden demgegenüber lediglich unwesentliche Zuwendungen, wie etwa geringfügiges Taschengeld von Großeltern oder Urgroßeltern exemplarisch bei § 11a Abs. 5 SGB II aufgeführt (BT-Drs. 17/3404, Seite 95).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Erstellt am: 15.06.2020
Zuletzt verändert am: 15.06.2020