Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27.08.2003 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung der Folgen eines Arbeitsunfalls am 11.09.1974 im Beitrittsgebiet.
Die Klägerin ist die Witwe des am 00.00.1946 geborenen und am 00.00.2004 verstorbenen algerischen Staatsangehörigen N J. Sie lebte mit diesem im Zeitpunkt seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt. Der verstorbene Ehemann der Klägerin war ab dem 08.08.1974 – im Beitrittsgebiet – in der Cfabrik-Ost des VEB-Kombinats T Q beschäftigt. Grundlage für diese Beschäftigung war das "Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Zusammenarbeit bei der zeitweiligen Beschäftigung algerischer Werktätiger bei gleichzeitiger Vermittlung von beruflichen Erfahrungen sowie der Qualifizierung im Prozess produktiver Tätigkeit in sozialistischen Betrieben der Deutschen Demokratischen Republik" (Abkommen vom 11.04.1974). Während seiner Tätigkeit erlitt der Ehemann der Klägerin am 11.09.1974 einen Unfall, bei dem er sich u.a. Verletzungen im Bereich der rechten Hand zuzog. Er kehrte 1978 nach Algerien zurück. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland beantragte der Ehemann der Klägerin die Anerkennung und die Entschädigung der Unfallfolgen (11.12.1991). Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, Anspruch auf Leistungen aus der (bundesdeutschen) gesetzlichen Unfallversicherung bestünde erst für Arbeitsunfälle, die ab dem 03.10.1990 eingetreten seien (Schreiben vom 12.05.1993). Unter dem 23.05.2000 stellte der Ehemann der Klägerin – mit einem an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte gerichteten und an die Beklagte weitergeleiten Schreiben – einen Antrag auf Überprüfung dieser Entscheidung. Er wies darauf hin, dass er den Unfall auf deutschem Boden erlitten habe und dafür in Deutschland entschädigt werden müsse. Die Beklagte verwies auf ihr Schreiben vom 12.05.1993 (Schreiben vom 22.12.2000) worauf hin der verstorbene Ehemann nochmals bat, den Arbeitsunfall "zu berücksichtigen und Hilfe zu gewähren" (Schreiben vom 29.01.2001).
Die Beklagte lehnte eine Überprüfung ihrer Entscheidung vom 12.05.1993 ab (Bescheid vom 26.02.2001). Dieser Bescheid wurde – auf Wunsch des Verstorbenen – in die französische Sprache übersetzt und unter dem 09.07.2001 nochmals an diesen abgesandt. Sein gegen diese Entscheidung gerichtetes Schreiben vom 04.08.2001 wurde als Widerspruch angesehen. Der Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Grundlage der Beschäftigung im Beitrittsgebiet das einschlägige Abkommen vom 11.04.1974 gewesen sei. Aufgrund dieses Abkommens hätten nach Rückkehr lediglich Ansprüche auf Sozialleistungen nach den Rechtsvorschriften des Heimatlandes bestanden. Deswegen seien pauschale Ausgleichsleistungen entsprechend den vertraglichen Regeln an den Vertragsstaat zu zahlen gewesen. Jetzige Ansprüche gegen die deutsche gesetzliche Unfallversicherung aus früheren Arbeitsunfällen im Beitrittsgebiet seien damit ausgeschlossen (Widerspruchsbescheid vom 11.01.2002). Sein dagegen an die Beklagte gerichtetes Schreiben vom 10.03.2002 (eingegangen am 22.03.2002) wertete die Beklagte als Klage und leitete es an das Sozialgericht Altenburg weiter. Dieses verwies den Rechtsstreit an das Sozialgericht Dortmund (Beschluss vom 24.07.2002)
Zur Begründung seiner Klage hat der verstorbene Ehemann der Klägerin sein Vorbringen wiederholt.
Die Beklagte hat die angefochtenen Entscheidungen verteidigt.
Das Sozialgericht hat die Klage u.a. mit der Begründung abgewiesen, im Zeitpunkt des Beitritts am 03.10.1990 habe kein Anspruch auf Entschädigung eines Arbeitsunfalls im Beitrittsgebiet bestanden, von daher habe ein solcher Anspruch auch nicht auf die Bundesrepublik Deutschland übergehen können (Urteil vom 27.08.2003).
Gegen das ihm in deutscher Sprache übersandte Urteil vom 27.08.2003 hat sich der verstorbene Ehemann der Klägerin mit Schreiben vom 25.01.2004 – eingegangen am 06.02.2004 – gewandt. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 06.07.2006 ist für die Klägerin niemand erschienen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Aufgrund des entsprechenden Hinweises in der Terminsmitteilung konnte der Senat verhandeln und entscheiden, obwohl für die Klägerin zum Termin niemand erschienen ist.
Nach dem Gesamtvorbringen der Klägerin geht der Senat davon aus, dass die Klägerin mit der Berufung sinngemäß begehrt, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27.08.2003 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides 26.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.01.2002 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 12.05.1993 zu verurteilen, das Ereignis vom 11.09.1974 als Arbeitsunfalls anzuerkennen und diesen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.
Die Berufung ist zulässig. Die dreimonatige Berufungsfrist (§ 151 Abs.1 , § 153 Abs.1, § 87 Abs.1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) läuft nicht, wenn das angefochtene Urteil nicht wirksam ins Ausland zugestellt worden ist. Die Zustellung an den in Algerien wohnhaften Ehemann der Klägerin per Einschreiben/Rückschein war nicht zulässig. Denn mit diesem Staat besteht keine Regelung für eine förmliche Zustellung durch Einschreiben/Rückschein (§ 63 Abs. 2 SGG i.V.m. § 175 Zivilprozessordnung (ZPO) ). Soweit das Abkommen zwischen der Volksrepublik Algerien und der EWG (BGBl. II 1978 S. 509, 601) Anwendung findet und die Einreichung der Berufungsschrift in französischer Sprache zulässt, ist das Schreiben vom 25.01.2004 – eingegangen am 06.02.2004 – mit dem sich der Ehemann der Klägerin in französischer Sprache gegen das erstinstanzliche Urteil wendet, als fristgerechte Berufungsschrift anzusehen. Jedenfalls kommt der Übersetzung der in französischer Sprache eingelegten Berufung die frist- und formwahrende Wirkung zu.
Die Klägerin ist berechtigt, den Rechtsstreit nach dem Tode des N J fortzuführen. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen der Sonderrechtsnachfolge als Ehegattin (§ 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)). Sie hat nach dem von der Botschaft in Algier übersandten Erbschein des Notars Z E aus C1 vom 01.12.2004 mit dem N J zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt.
Die Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Nach § 44 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, stets mit Wirkung für die Zukunft und grundsätzlich für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Zu Recht hat die Beklagte den Bescheid vom 12.05.1993, mit dem die Anerkennung und die Entschädigung von Unfallfolgen – bestandskräftig – abgelehnt worden ist, nicht zurückgenommen. Der verstorbene Ehemann hatte keinen Anspruch darauf, dass das Ereignis vom 11.09.1974 nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt und entschädigt wird.
Nach § 215 Abs. 1 SGB VII – der Anwendung findet, weil die Beklagte den angefochtenen Bescheid nach dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01. 1997 (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG)) erlassen hat und der Versicherungsfall im Jahre 1974 in der ehemaligen DDR eingetreten wäre – ist für die Übernahme der vor dem 01.01.1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2 und 3 RVO in der am Tag vor Inkrafttreten des SGB VII geltenden Fassung weiter anzuwenden. Nach § 1150 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches. Ob ein bis zum 31.12.1991 eingetretenes Ereignis Anspruch auf Leistungen begründet, richtet sich dementsprechend nach dem – seinerzeit geltenden – Recht der ehemaligen DDR (so auch LSG Niedersachsen Urteil vom 07.06.2001, L 6 U 383/99; Thüringer LSG Urteil vom 10.06.1998, L 1 U 266/97, Breithaupt 1999, 73 ff.). Als auf der Grundlage des Abkommens vom 11.04.1974 zeitweilig beschäftigter algerischer Werktätiger hatte der Ehemann der Klägerin gem. Art. 5 Abs.3 des Abkommens bei Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen eines während des Aufenthaltes in der DDR erlittenen Arbeitsunfalls grundsätzlich für die Dauer des Arbeitsrechtsverhältnisses einen Anspruch auf Rente nach den Rechtsvorschriften der DDR.
Nach Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses und der endgültigen Rückkehr in das Heimatland bestand gem. Art. 5 Abs.7 jedoch nur noch Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung nach den Rechtsvorschriften und zu Lasten der zuständigen Institutionen der Volksrepublik Algerien (Zum Ausgleich dafür hatten die Betriebe der DDR eine sog. Unfallumlage an die Zentralbank von Algerien zugunsten der algerischen Sozialversicherungskasse zu überweisen, Art. 5 Abs. 8 des Abkommens vom 11.04.1974). Dementsprechend hatte der Kläger jedenfalls nach Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses und seiner endgültigen Rückkehr nach Algerien im Jahre 1978 keinen Anspruch mehr auf Leistungen der Sozialversicherung der DDR, vielmehr ist die Versicherungslast auf den algerischen Sozialversicherungsträger übergegangen. Dem steht nicht entgegen, dass das Abkommen vom 11.04.1974 erloschen ist (BGBl. II 1994, S. 2654, Bekanntmachung über das Erlöschen völkerrechtlicher Übereinkünfte der Deutsche Demokratischen Republik mit Algerien). Mit der Bekanntmachung über das Erlöschen des Abkommens vom 11.04.1974 soll in erster Linie vermieden werden, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland im neuen Staatsgebiet divergierendes Recht herrscht. Damit kann das Abkommen zwar heute keine Rechte und Pflichten mehr begründen, es bleibt jedoch nicht ausgeschlossen, es zur Beurteilung eines unter Geltung des Abkommens abgeschlossenen Lebenssachverhalts heranzuziehen. Die Frage, ob nach dem Recht der DDR bis zum 31.12.1992 Leistungen wegen eines Arbeitsunfalls zu gewähren waren, kann somit weiterhin unter Zugrundelegung des Abkommens vom 11.04.1974 beantwortet werden. Dieses Ergebnis steht zudem im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Regelung des § 1150 RVO. Ziel des durch Art.8 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Rentenüberleitungsgesetz – RÜG) eingeführten § 1150 Abs.2 RVO war es, aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Wahrung des Besitzstandes alle bis zum 31.12.1991 eingetretenen Unfälle und Krankheiten, die nach früherem Recht der DDR versichert waren, in die Versicherungsleistung der (bundesdeutschen) Unfallversicherung zu übernehmen. Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten und die nach dem Recht des Beitrittsgebiet nicht zu entschädigen waren, sollten hingegen auch dann nicht entschädigt werden, wenn sie nach dem Recht der Reichsversicherungsordnung zu entschädigen gewesen wären (vgl. amtliche Begründung zu § 1150 RVO, BT-Drucks. 12/405, S.154). Das Rentenüberleitungsrecht wollte somit keinesfalls für einen abgeschlossenen Lebenssachverhalt, der nach dem Recht des Beitrittsgebiets nicht entschädigungspflichtig war, eine (neue) Anspruchsgrundlage schaffen. Der verstorbene Ehemann der Klägerin hatte jedoch unter Geltung der gesetzlichen Regelungen der DDR keine schützenswerte Rechtsposition erlangt. Dementsprechend hat die Beklagte es zu Recht abgelehnt, das Ereignis vom 11.09.1974 nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 13.09.2006
Zuletzt verändert am: 13.09.2006