Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.3.2013 geändert. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 4.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.6.2010 verurteilt, der Klägerin höhere Witwenrente unter Berücksichtigung weiterer 4,1882 persönlicher Entgeltpunkte zu gewähren. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe einer großen Witwenrente.
Die 1960 geborene Klägerin ist die Witwe des 1955 in Polen geborenen und am 30.6.2008 in Deutschland verstorbenen X. L. (fortan: Versicherter). Der Versicherte war in Polen als Hauer/Schlosser beschäftigt. 1982 nahm er seinen ständigen Aufenthalt in der (damaligen) Bundesrepublik Deutschland und erhielt hier den Vertriebenenausweis "A". Anschließend war er in Deutschland bis Oktober 2007 als Maschinenbediener beschäftigt. Die Beklagte gewährte ihm ab Februar 2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf der Basis von insgesamt 37,9273 persönlichen Entgeltpunkten (pEP). Dabei berücksichtigte sie die in Polen zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (im Folgenden: Abk Polen RV/UV 1975). Die aus Polen stammende Klägerin kam – unabhängig vom Versicherten – im Dezember 1992 nach Deutschland. Sie ist keine Spätaussiedlerin, aber (mittlerweile) deutsche Staatsangehörige. Der Versicherte und die Klägerin lebten seit etwa 2000 in einem eheähnlichen Verhältnis und heirateten am 20.6.2008.
Nachdem die Beklagte einen Anspruch auf große Witwenrente wegen der nur zehntägigen Ehedauer zunächst abgelehnt hatte, gewährte sie der Klägerin nach Anerkenntnis im nachfolgenden Klageverfahren (Sozialgericht (SG) Dortmund, Aktenzeichen (Az) S 6 KN 51/09) große Witwenrente in Höhe von (ab Oktober 2008) zunächst EUR 524,23 (Wert des Rechts auf Rente), wobei sich nach Anrechnung von Erwerbseinkommen ein Zahlbetrag von zunächst EUR 117,85 (ab Mai 2010: EUR 149,65) ergab. Dabei hat die Beklagte für "Zeiten mit Tabellenwert" (hier: 1.6.74 – 18.10.1982) nur 60% der ermittelten Entgeltpunkte (EP) berücksichtigt und insgesamt 33,7391 pEP zugrunde gelegt (endgültige Feststellung im Bescheid vom 4.5.2010). Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, die Beklagte habe bei der Witwenrente die EP des Versicherten für die polnischen Zeiten bis 18.10.1982 nicht auf 60% kürzen dürfen. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück: Bei der Berechnung der großen Witwenrente sei auf die Witwe als Berechtigte (und nicht auf den Versicherten) abzustellen. Da sie erst im Dezember 1992 nach Deutschland gekommen sei, sei auf sie nicht (mehr) das Abk Polen RV/UV 1975 anzuwenden. Stattdessen sei das (Nachfolge-)Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (im Folgenden: Abk Polen SozSich 1990) maßgeblich, das entsprechenden Besitzschutz für Rentenanwartschaften nicht mehr vorsehe (Widerspruchsbescheid vom 28.6.2010).
Mit ihrer Klage vom 2.8.2010 hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass sie keine Rente aus eigenen Beitragszeiten, sondern aus denen des Versicherten beanspruche; dieser habe vor dem maßgeblichen "Stichtag 1.1.1991" seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genommen und unterfalle dem Abk Polen RV/UV 1975. Auf den Zeitpunkt ihrer Übersiedlung komme es nicht an, da es nicht um einen Anspruch aus ihrer Versicherung gehe. Die Beklagte greife durch ihre Berechnungsweise in bereits bestandskräftig festgestellte Ansprüche des Versicherten ein.
Die Beklagte hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten. Durch die Änderung der Rechtslage habe der Gesetzgeber sicherstellen wollen, dass polnische Abkommenszeiten nur noch nach dem Fremdrentengesetz (FRG) berücksichtigen werden können.
Mit Bescheiden vom 18.1. und 18.7.2012 hat die Beklagte die Witwenrente wegen Änderungen des auf die Rente anzurechnenden Erwerbseinkommens der Klägerin neu festgestellt.
Das SG hat die Klage unter Bezugnahme auf ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Saarland (vom 24.6.2004, Az L 4 KN 27/02) abgewiesen: Das Abk Polen RV/UV 1975 sei auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art nicht anwendbar. Deshalb seien die strittigen in Polen zurückgelegten Beitragszeiten "mit dem Faktor 0,6 zu vervielfältigen", § 22 Abs 4 FRG idF des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.9.1996. Die Kürzung der EP aus den polnischen rentenrechtlichen Zeiten um 40% (= "Vervielfältigung mit dem Faktor 0,6") sei auch nicht nach der Übergangsbestimmung des Art 6 § 4 Abs 5 des Gesetzes zur Neuregelung des Fremdrenten- und Auslandsrentenrechts und zur Anpassung der Berliner Reichsversicherung an die Vorschriften des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes und des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz – FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I S 93) in der seit 1991 geltenden Fassung ausgeschlossen. Die Klägerin sei keine Rentenberechtigte, der nach Maßgabe des Abk Polen SozSich 1990 Ansprüche und Anwartschaften ausnahmsweise noch auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV 1975 zustünden. Das am 1.10.1991 in Kraft getretene Abk Polen SozSich 1990 sei maßgeblich. Nach Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich 1990 gelte für Ansprüche von Personen, die nach dem 31.12.1990 ihren Wohnsitz in das Hoheitsgebiet des jeweiligen Vertragsstaates verlegt haben, grundsätzlich das Abk Polen SozSich 1990, mithin also auch für den Rentenanspruch der erst im Dezember 1992 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelten Klägerin. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift gelte die Stichtagsregelung und damit die in Art 19 Abs 4 Abk Polen SozSich 1990 in Bezug genommene Kürzungsbestimmung des § 22 Abs 4 FRG idF des WFG vom 25.9.1996 für Versicherten- und Hinterbliebenenrenten gleichermaßen (im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil vom 25.3.2013, der Klägerin zugestellt am 24.4.2013).
Mit ihrer Berufung vom 22.5.2013 trägt die Klägerin ergänzend vor, das Urteil des LSG Saarland, auf das sich das SG maßgeblich stütze, betreffe einen anderen Sachverhalt und andere Rechtsfragen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.3.2013 zu ändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 4.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.6.2010 zu verurteilen, ihr ab 1.7.2008 höhere Witwenrente zu gewähren und dabei mindestens die persönlichen Entgeltpunkte zugrunde zu legen, die dem Bescheid vom 15.5.2008 zugrunde lagen, mit dem dem verstorbenen Versicherten Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt worden ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsakten der Beklagten (betreffend den Versicherten und die Klägerin) sowie die Akten des Vorprozesses vor dem SG Dortmund (Az S 6 KN 51/09) Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 4.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.6.2010 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) beschwert die Klägerin, weil er rechtswidrig ist, § 54 Abs 2 S 1 SGG. Die Klägerin hat Anspruch auf (höhere) große Witwenrente unter Berücksichtigung weiterer 4,1882 pEP.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur) der Bescheid der Beklagten vom 4.5.2010 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.6.2010), soweit darin die Höhe des Rechts auf Witwenrente geregelt ist. Die späteren Bescheide vom 18.1. und 18.7.2012 sind entgegen der Auffassung des SG nicht Gegenstand des (Klage-)Verfahrens geworden. Sie ändern oder ersetzen die Regelung zur Höhe des Rechts auf Witwenrente nicht, sondern regeln in Anwendung von § 31 FRG, in welcher Höhe die Rente nicht zu leisten ist, weil sie ruht (Urteile des Senats vom 28.5.2013, Az L 18 KN 135/12, juris-Rdnr 25, und vom 12.11.2013, Az L 18 KN 206/10, juris-Rdnr 25, jeweils mwN).
Der Senat prüft den Anspruch der Klägerin auf höhere Witwenrente entsprechend ihrem Schlussantrag in zweiter Instanz nur noch darauf, ob der Berechnung (mindestens) die 37,9273 pEP zugrunde zu legen sind, die der Rente des Versicherten wegen voller Erwerbsminderung im Bescheid vom 15.5.2008 zugrunde lagen. Diesem maßgeblichen letzten Sachantrag liegt keine Klageänderung iS von § 99 Abs 1 SGG zugrunde, so dass über deren Zulässigkeit nicht zu befinden ist. Vielmehr hat die Klägerin ihren durchgehend weiterverfolgten Anspruch auf höhere große Witwenrente nur zulässigerweise (§ 99 Abs 3 Nr 2 SGG auf eine Mindesthöhe beschränkt ("gedeckelt"). Darin liegt allenfalls (je nach Berechnung des Werts auf Rente) eine konkludent erklärte teilweise Klagerücknahme, die den Rechtsstreit insoweit erledigt, § 102 Abs 1 S 2 SGG.
Mit dem so begrenzten Klageantrag greift die Klägerin im Wege der Anfechtungsklage den (wertfeststellenden) Verwaltungsakt über die Rentenhöhe an, begehrt mit der Verpflichtungsklage die Festsetzung eines höheren Rentenwerts unter Berücksichtigung der pEP aus dem Bescheid des Versicherten zur Rente wegen voller Erwerbsminderung und mit der Leistungsklage – im Wege der objektiven Klagehäufung – die Zahlung eines höheren monatlichen Rentenbetrags, § 54 Abs 1 u 4 SGG iVm § 56 SGG (BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az B 5 R 2/12 R).
Entgegen der Ansicht des SG ist die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen. Über die von der Beklagten im Rentenbescheid vom 4.5.2010 zugrunde gelegten 33,7391 pEP (27,2958 pEP aus der allgemeinen Rentenversicherung und 6,4433 pEP aus knappschaftlicher Rentenversicherung) hinaus hat die Klägerin Anspruch auf Berücksichtigung weiterer pEP in Höhe der Differenz zu den dem Rentenbescheid des Versicherten vom 15.5.2008 zugrunde gelegten 37,9273 pEP (28,3284 pEP aus der allgemeinen Rentenversicherung und 9,5989 pEP aus der knappschaftlichen Rentenversicherung), also weiterer 4,1882 pEP.
Der Senat kann für seine Entscheidung über den Klageantrag im Berufungsverfahren offenlassen, ob sich ein solcher Anspruch bereits daraus ergibt, dass bei der Berechnung der großen Witwenrente der Klägerin die vom Versicherten in Polen zurückgelegten Beitragszeiten nicht über § 15f FRG, sondern weiter nach dem Abk Polen RV/UV 1975 zu berücksichtigen sind. Dafür spricht entgegen der Auffassung des SG und des LSG Saarland, dass der Anspruch auf Witwenrente kein originärer, auf eigenen versicherten Entgelten beruhender Anspruch der Witwe, sondern ein vom versicherten Ehemann abgeleiteter Anspruch ist, der ausgefallenen Unterhalt ersetzt und deshalb – anders als eigene Rentenanwartschaften und -ansprüche – auch nicht dem Schutz des Art 14 Abs 1 Grundgesetz unterfällt (BVerfGE 97, 271 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1). Damit korrespondiert, dass primäres Regelungsobjekt (als Satzglied: Subjekt) der grundsätzlich hier weiter anzuwendenden Vorschriften des Art 27 Abs 2 Sätze 1 und 2 Abk Polen SozSich 1990 (vgl dazu im Einzelnen: Urteil des Senats vom 28.5.2013, Az L 18 KN 135/12 juris-Rdnrn 33ff mwN) Ansprüche und Anwartschaften und nicht etwa (anspruchsberechtigte) Personen sind. Die Regelung besagt im Kern, dass aufgrund des Abk Polen RV/UV 1975 erworbene Ansprüche und Anwartschaften durch das Abk Polen SozSich 1990 nicht berührt werden, solange die Personen, die sie erworben haben, auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnsitz beibehalten. Genau das ist hier der Fall: Der Versicherte hatte bereits 1982 und damit weit vor dem 1.1.1991 (Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich 1990) seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland genommen und unterfiel damit der Übergangsregelung Art 6 § 4 Abs 5 FANG, weil er nach Maßgabe des Abk Polen SozSich 1990 Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV 1975 erworben hatte. Der so erworbene Bestandsschutz bleibt bestehen. Eine Regelung, nach der er für Hinterbliebene entfällt, fehlt. Dies wird im umgekehrten Fall – Witwe vor dem 1.1.(7.) 1991, verstorbener Versicherter nach dem 31.12.1990 (30.6.1991) eingereist (zu den Daten in Klammern s. Art 27 Abs 4 Abk Polen SozSich 1990) – besonders deutlich: Dann müssten auf polnischen rentenrechtlichen Zeiten basierende EP des Versicherten, der nach seiner Übersiedlung in Deutschland eine vor dem Stichtag in die Bundesrepublik übergesiedelte Polin geheiratet hat und selbst dem Abk Polen SozSich 1990 unterfällt, bei der Witwenrente von 60% auf 100% aufgestockt werden, weil die Witwe vor dem 1.1.1991 in die Bundesrepublik eingereist ist. Dies ist erkennbar nicht gewollt, weil die Witwe selbst vor ihrer Einreise solche nach dem Abk Polen RV/UV 1975 geschützte Anwartschaften gerade nicht erworben hatte.
Der Anspruch der Klägerin auf Berücksichtigung weiterer 4,1882 pEP zu den von der Beklagten im Bescheid vom 4.5.2010 berücksichtigten 33,7391 EP folgt aus dem Schutz der bei der Rente wegen voller Erwerbsminderung des Versicherten zugrundegelegten pEP für die Berechnung der Witwenrente der Klägerin, § 88 Abs 2 S 1 SGB VI (s zu dieser Vorschrift Senatsurteil vom 14.2.2012, Az L 18 R 684/11, Rdnr 26).
Nach § 64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente, wenn 1. die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten pEP, 2. der Rentenartfaktor und 3. der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Nach § 66 Abs 2 Nr 2 SGB VI sind bei einer Witwenrente die EP des verstorbenen Versicherten die Grundlage für die Ermittlung der pEP. Nach § 88 Abs 2 S 1 SGB VI sind bei einer Hinterbliebenenrente mindestens die bisherigen pEP des verstorbenen Versicherten zugrunde zu legen, wenn der verstorbene Versicherte eine Rente aus eigener Versicherung bezogen hat und die Hinterbliebenenrente spätestens 24 Monate nach Bezug dieser Rente beginnt. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, denn der Versicherte bezog eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus eigener Versicherung, und die Hinterbliebenenrente der Klägerin begann nahtlos im Anschluss an den Rentenbezug des Versicherten.
Eine den Regelungsgehalt (und damit den Normbefehl) des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI vorliegend nach allgemeinen (Kollisions-)Rechtsgrundsätzen als lex superior, lex specialis oder lex posterior verdrängende (Sonder-)Vorschrift existiert nicht (vgl zu einer anderen Konstellation: BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az B 5 R 2/12 R Rdnr 18; Senatsurteil vom 14.2.2012, Az L 18 R 684/11, Rdnr 27). Als solche kommen nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Regelungszweck insbesondere nicht Art 27 Abs 1 S 2 und Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich 1990 (iVm § 22 Abs 4 FRG) in Betracht (aA ohne nähere Begründung LSG Saarland, Urteil vom 24.6.2004, Az L 4 KN 27/02). Diese (gleichrangigen) Vorschriften sind zunächst nicht später als § 88 SGB VI, sondern kurz zuvor in Kraft getreten. Die Regelung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI ist durch Art 85 Abs 1 RRG 1992 zum 1.1.1992 in Kraft getreten, also zwar in zeitlicher Nähe, aber doch nach Inkrafttreten des Abk Polen SozSich 1990 in Deutschland zum 19.6.1991 (Art 6 des Zustimmungsgesetzes vom 18.6.1991, BGBl II, 741f) bzw Inkrafttreten des bilateralen Abkommens zum 1.10.1991 (BGBl II, 1072).
Sie enthalten bei genauerer Analyse überdies keine abschließende (Sonder-)Regelung zum Bestandsschutz von pEP bei der Witwenrente einer nach dem 31.12.1990 (bzw 30.6.1991) aus Polen dauerhaft nach Deutschland gekommenen Person. Es ist bereits nicht erkennbar, dass sich der Regelungsgehalt beider (Bestands- und damit) Vertrauensschutz gewährenden Vorschriften (teilweise) deckt.
Im Wortlaut des Art 27 Abs 1 u 2 Abk Polen SozSich 1990 ist – anders als in § 88 Abs 2 S 1 SGB VI – von Hinterbliebenen nicht die Rede. Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich 1990 trifft explizit – wie bereits weiter oben ausgeführt – eine Sonderregelung zu Abs 1 S 2 der Vorschrift für "die vor dem 1. Januar 1991 aufgrund des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abkommen von 1975) von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche und Anwartschaften, solange diese Personen auch nach dem 31. Dezember 1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten". Die Norm stellt – übertragen auf den vorliegenden Fall – damit ausschließlich auf vom Versicherten erworbene Rechtspositionen ab. Damit korrespondiert (im Wege des Umkehrschlusses) die Formulierung "Ansprüche aus Versicherungszeiten" in Art 27 Abs 1 S 1 Abk Polen SozSich 1990.
Auch die systematische und historische Auslegung spricht nicht für die Auffassung der Beklagten (und des LSG für das Saarland. AaO). Weder aus den weiteren Absätzen des Art 27 Abk Polen SozSich 1990 noch aus dem Standort dieser Vorschrift im Normgefüge ergeben sich Anknüpfungspunkte für die Annahme einer (abschließenden) Sonderregelung für Hinterbliebenenrenten von Polen, die ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben. Anhaltspunkte dafür, dass der Regelungsgehalt beider Vorschriften in direktem Zusammenhang steht, finden sich nicht. Allein die Tatsache, dass sich Art 27 Abk Polen SozSich 1990 in einem (in nationales Recht transformierten) bilateralen Abkommen befindet, führt nicht dazu, dass die darin enthaltenen Vorschriften aus systematischen Gründen Sondervorschriften zu innerstaatlichen gleichrangigen Gesetzen sind. Auch die Entstehungsgeschichte (der lex posterior) des § 88 Abs 2 SGB VI weist nicht in diese Richtung. Danach sollte § 88 Abs 2 SGB VI den Schutz von Hinterbliebenenrenten allgemein erweitern: Nach dem bis zum 31.12.1991 geltenden Recht (§ 30 Abs 2 Satz 5, § 31 Abs 2 Satz 2, § 45 Abs 2 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz/§ 1253 Abs 2 Satz 5, § 1254 Abs 2 Satz 2, § 1268 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung) war (nur) der bisherige Rentenzahlbetrag besitzgeschützt. Indem durch die Neuregelung ab dem 1.1.1992 kein Besitzschutz mehr für den Zahlbetrag, sondern für die pEP gewährt wurde, sollten Hinterbliebene nicht schlechter, sondern besser gestellt werden. Sie sollten an der Dynamisierung der Rente nach § 65 SGB VI teilnehmen (vgl Begründung zum Gesetzentwurf für das RRG 1992, BT-Drucks 11/4124, 173; BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az B 5 R 2/12 R Rdnr 18; Gürtner in: KassKomm, SGB VI, Stand 2013,§ 88 Rdnr 2; Kreikebohm in: Kreikebohm, SGB VI, 4. Aufl 2013, § 88 Rdnr 2).
Die teleologische Auslegung des § 88 Abs 2 S 1 SGB VI spricht schließlich eindeutig gegen die Nichtanwendung der Vorschrift auf die Witwenrente der Klägerin. Es ist nämlich Sinn und Zweck der Vorschrift, das Rentenniveau zu sichern, das den erworbenen bisherigen Lebensstandard des Versicherten und seiner Hinterbliebenen gewährleistet, und das Vertrauen der Hinterbliebenen auf den Fortbestand der existenzsichernden Rentenleistungen in bisheriger Höhe zu schützen. Rentenanwartschaften und -ansprüche stehen in einem ausgeprägten sozialen Bezug und sind Bestandteile eines Leistungssystems, dem eine besondere soziale Funktion zukommt. Aus Vertrauensschutzgesichtspunkten und um den Lebensstandard von Hinterbliebenen auf dem bisherigen Niveau zu sichern, nimmt der Gesetzgeber sogar (Mehr-)Belastungen der Solidargemeinschaft bewusst in Kauf (BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az B 5 R 2/12 R Rdnr 18; Jensch in: jurisPK-SGB VI, 2. Aufl 2013, § 88 Rdnr 15.1). Widerstreitende Interessen der Versichertengemeinschaft, die der Gesetzgeber iSv Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) willkürlich dabei vernachlässigt haben könnte, sind nicht erkennbar. Im Gegenteil ergänzen sich § 88 Abs 2 SGB VI und Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich 1990 in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich: Beide Vorschriften gewähren Bestands- und Vertrauensschutz für unterschiedliche Regelungsbereiche. Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich 1990 schützt (abstrakt) das Vertrauen derjenigen Personen, bei denen die Überführung ihrer Rentenanwartschaften in das deutsche Rentensystem für die Ausreise (wesentlich mit-)ursächlich gewesen sein mag, § 88 Abs 2 SGB VI schützt das Vertrauen der Witwe in den Fortbestand des Lebensstandards nach dem Tod des Ehemanns in Fällen, in denen seine Rente diesen maßgeblich (mit-)geprägt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 S 1, 193 Abs 1 S 1 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen der von der Beklagten geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 160 Abs 2 SGG.
Erstellt am: 10.09.2014
Zuletzt verändert am: 10.09.2014