Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 20. Februar 1995 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Kläger die Kosten des Lesesprechgeräts trägt, soweit dieses als PC nutzbar ist und die Kosten auf diese Funktion entfallen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch aus dem zweiten Rechtszug. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch nach § 33 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) auf Versorgung mit einem Lese-Sprechgerät als Hilfsmittel der knappschaftlichen Krankenversicherung.
Der 1942 geborene und bei der Beklagten versicherte Kläger ist seit 1988 blind. Er bezieht seit April 1988 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Blindenschrift hat er nicht erlernen können, weil sein Tastgefühl in den Fingern aufgrund einer diabetischen Polyneuropathie eingeschränkt ist. Er lebt mit seiner nichtberufstätigen Ehefrau und seiner 17-jährigen schulpflichtigen Tochter in einem Haushalt zusammen.
Die Beklagte lehnte den im November 1992 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung eines ihm ärztlich verordneten elektronischen Lese-Sprechgeräts ab (Bescheid vom 03. Dezember 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1993).
Mit seiner am 23. November 1993 zum Sozialgericht (SG) Aachen erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat vorgetragen, er habe vor der Erblindung eine Vielzahl von Zeitschriften (z.B. Markt, Oldtimer, Mot, ADAC, Frankurter Allgemeine Zeitung, Heinsberger Volkszeitung) sowie bis zu 3 Bücher pro Monat gelesen. Er sei nunmehr im Vorstand des örtlichen Blindenvereins tätig. Monatlich erhalte er 4 – 5 Kontoauszüge, Auszüge betreffend Darlehen und Hypothek und eine Vielzahl weiterer Schriftstücke (z.B. Rechnungen, Angebote, Betriebsanleitungen).
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03. Dezember 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1993 zu verurteilen, ihm ein elektronisches Lesegerät mit Sprachausgabe zur Verfügung zu stellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, ihre Zuständigkeit komme nur in Betracht, wenn die Blindheit bei dem Kläger als eine Berufskrankheit (Nr. 1306 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung) anzuerkennen wäre. Dies sei Streitgegenstand des Verfahrens SG Aachen S 5 (16,2) BU 32/91; die Klage auf Anerkennung dieses Zustandes als Berufskrankheit ist durch Urteil vom 16.04.1996 abgewiesen worden.
Mit Urteil vom 20. Februar 1995 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03. Dezember 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1993 verurteilt, dem Kläger ein elektronisches Lesesystem mit Sprachausgabe zur Verfügung zu stellen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 10. März 1995 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 23. März 1995 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, die Voraussetzungen der §§ 33 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V seien nicht erfüllt. Das Informationsbedürfnis des Klägers könne durch den Hörfunk, durch Tonkasetten von Zeitschriften und durch eine Vorleseperson sichergestellt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 20. Februar 1995 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, die Verweisung auf die Mithilfe seiner Ehefrau und seiner schulpflichtigen Tochter als Vorlesekraft sei unzumutbar. Seine Ehefrau, die herzkrank sei, habe Sehschwierigkeiten beim Lesen von Kleingedrucktem. Auch versorge sie häufig mehrere Enkelkinder.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist mit Ausnahme der dem Tenor entsprechenden Einschränkung hinsichtlich einer Eigenbeteiligung des Klägers unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf ein Lese-Sprechgerät als Hilfsmittel.
Nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Das Lese-Sprechgerät ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der Senat anschließt, ein geeignetes Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung im Sinne der 2. Alternative des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V und zur Zeit kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (vgl. Urteile vom 23. August 1995 – 3 RK 6/95 -, – 3 RK 7/95 – und – 3 RK 8/95 -).
Ein Anspruchausschluß nach § 34 Abs. 4 SGB V greift nicht ein. Lese-Sprechgeräte sind in der Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischem Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 13. Dezember 1989 (BGBl. I 2237), die i.d.F. durch die Verordnung vom 17. Januar 1995 (BGBl. I 44) gilt, nicht erfaßt.
Ein Ausschluß der Lese-Sprechgeräte aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften zum Hilfsmittelverzeichnis (§ 128 SGB V, Hilfsmittelverzeichnis vom 29. Januar 1993 i.V.m. BAnz Beilage 1993, Nr. 50a 1-140 mit Ergänzungen, zuletzt BAnz Beilage 195, Nr. 150a 1-19 vom 11. Mai 1995).
Die Ausrüstung des Klägers mit dem Lese-Sprechgerät entspricht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, dem in der gesetzlichen Krankenversicherung auch die Versorgung mit Hilfsmitteln genügen muß (§ 12 Abs. 1 SGB V).
Der Informationsbedarf eines Blinden rechtfertigt die Versorgung mit einem Lese-Sprechgerät nicht nur in wenigen Ausnahmefällen eines außerordentlich hohen Lesebedarfs. Es genügt, daß ein Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt.
Der Kläger benötigt ein Lesegerät, um Tageszeitungen, Zeitschriften, Bücher, Post und private Unterlagen sowie Schriftwechsel bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorstandsmitglied im Blindenverein zu lesen. In diesen vom Kläger bezeichneten Druckschriften werden Informationen angeboten, die weitgehend nicht über Rundfunk, Fernsehen, Erzeugnisse in Blindenschrift oder Tonkasetten erlangt werden können. Diese Feststellung wird von der Beklagten nicht in Frage gestellt. Es ergeben sich keine Hinweise darauf, daß der Markt mit Akustikinformationen (Blindenschrift versteht der Kläger nicht) insbesondere in der Vielfalt und Umfassenheit dem Markt für Druckinformationen gleichwertig wäre.
Wegen des Umfangs des uneingeschränkt zu berücksichtigenden Lesebedarfs kann der Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf die Mithilfe der Ehefrau und der schulpflichtigen Tochter als Vorlesekräfte verwiesen werden.
Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung gilt zwar an sich der in der Sozialhilfe vorherrschende Nachranggrundsatz, nach dem eine Leistung nicht zu bewilligen ist, wenn der Betroffene sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen erhält, nur ausnahmsweise. Eine solche Ausnahme hat der Gesetzgeber im Rahmen der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe normiert (vgl. §§ 37 Abs. 3, 38 Abs. 3 SGB V). Die Rechtsprechung (vgl. BSG SozR 2200 § 185 Nr. 1) hat diese Ausnahme auf den Heil- und Hilfsmittelbereich ausgeweitet. Eine solche Verweisung ist indes unter dem Gesichtspunkt der Solidarität nur gerechtfertigt, soweit für die Angehörigen eine kostenfreie Familienversicherung besteht und diesen deswegen eine solche Mithilfe zuzumuten ist. Maßgebend ist stets der im Einzelfall bestehende Bedarf.
Der Zeitaufwand, den das Vorlesen der vom Kläger bezeichneten Texte nicht nur vorübergehend für die Zeit einer Erkrankung, sondern dauerhaft erfordert, ist der Ehefrau und der Tochter des Klägers jedoch schon unabhängig von einer anderweitigen Belastung beim Maßstab der kostenlosen Familienversicherung unzumutbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß der Kläger wegen seiner Blindheit ohnehin weitgehend auf die Unterstützung seiner Familie, insbesondere seiner Ehefrau, angewiesen ist. Darüber hinaus setzt der Heranziehung der Tochter deren Schulbesuch enge Grenzen.
Der Kläger kann auch nicht auf bezahlte Vorlesekräfte verwiesen werden.
Eine solche Verweisung kann nicht damit begründet werden, daß Blinde verschiedene Leistungen (Blindenhilfe nach § 67 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und in Nordrhein-Westfalen Blindengeld gemäß § 1 Landesblindengeldgesetz vom 11. November 1992 – GVBl Nordrhein-Westfalen S. 447) und steuerrechtliche Vergünstigungen (§ 33 b Einkommenssteuergesetz) erhalten. Das Blindengeld ist wie die Blindenhilfe nach § 67 BSHG und die steuerrechtlichen Vergünstigungen nur für den blindheitsbedingten Mehrbedarf gedacht, der mit den Hilfsmitteln der Krankenversicherung nicht gedeckt werden kann. Soweit es sich um persönliche Schriften handelt, bliebe bei einer Verweisung auf Dritte darüber hinaus der verfassungsrechtlich garantierte Schutz der Privatsphäre (vgl. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) außer acht. Auch bei der Anwendung sozialrechtlicher Leistungsvorschriften ist dieser verfassungsrechtlich garantierte Schutz der Privatsphäre zu beachten, d.h. es sind diejenigen Leistungen zu gewähren, die den Schutz der Privatsphäre des Versicherten und seiner Familie sicherstellen (BSG SozR 3 – 2500 § 33 Nr. 5).
Das Lese-Sprechgerät, mit dem der Kläger Druckschriften in einem wesentlichen Umfang zur Kenntnis nehmen kann, ist auch wirtschaftlich i.S. einer begründbaren Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels.
Maßgebend für die Bewertung des Gebrauchsvorteils ist u.a. der zeitliche Umfang der beabsichtigten Nutzung und die Bedeutung der jeweils erschließbaren Information. Der vom Kläger bezeichnete Informationsbedarf kann nach seiner Dringlichkeit als durchschnittlich bewertet werden. Der zeitliche Umfang der Nutzung muß nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 23. August 1995) in einem solchen Fall wöchentlich durchschnittlich mindestens 5 Stunden betragen. Der Senat hat keine Zweifel, daß durch den vom Kläger vorgetragenen Lesebedarf die erforderliche Mindestnutzungsdauer erreicht wird. Eine solche Nutzungsdauer ist zwischen den Beteiligten überdies nicht streitig.
Aus der Doppelfunktion eines PC-Lese-Sprechgeräts erfolgt nach der Rechtsprechung (vgl. Urteile des BSG vom 23. August 1995 und 10. Mai 1995 – 1 RK 18/94 -; BSG SozR 2200 § 182b RVO Nr. 2; BSG USK 78195) die Verpflichtung des Klägers, bei Wahl einer PC-Lösung einen Eigenanteil zu tragen. Insoweit hat der Kläger die Kosten des PC-Lese-Sprechgerätes zu tragen, soweit dieses als PC nutzbar ist und die Kosten auf diese Funktion entfallen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Anlaß, die Revision zuzulassen, hat der Senat nicht gesehen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Erstellt am: 10.08.2003
Zuletzt verändert am: 10.08.2003