I. Die Klage wird abgewiesen.
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II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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T a t b e s t a n d :
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Streitig ist die Erstattung der vom Kläger seit 07.09.2020 übernommenen Kosten des Leistungsberechtigten A. in einer Pflegefamilie sowie die Übernahme des Falls durch den Beklagten.
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Der 2009 geborene Leistungsberechtigte befand sich seit seiner Geburt zusammen mit seiner Mutter in einer gemeinsamen Unterbringung im Mutter-Kind-Heim „B1“ in K-Stadt, nachdem seine Mutter Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedurfte. Allerdings gestaltete sich die Einhaltung der Regeln schwierig und die Mutter des Leistungsberechtigten war offensichtlich nicht ausreichend dazu in der Lage, sich an Absprachen zu handeln, weswegen ihr schließlich mit Beschluss des Amtsgerichts K-Stadt vom 29.07.2009 das Sorgerecht entzogen wurde. Mit Bescheid vom 29.07.2009 wurde für den Leistungsberechtigten gemäß § 33 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege in der Pflegefamilie C. bewilligt, wo der Leistungsberechtigte heute noch lebt. Nach mehreren Umzügen der Kindesmutter übernahm der Kläger nach zwei Jahren den Fall endgültig gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII.
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Aus den Berichten über die Unterbringung ergibt sich, dass A. als Säugling an Neurodermitis und Rachitis gelitten hat. Außerdem wurde frühzeitig eine leichte Entwicklungsstörung festgestellt. Im Hilfeplangespräch vom 13.01.2011 wurden an gesundheitlichen Problemen neben fortbestehender Neurodermitis und Asthma im Wesentlichen eine undeutliche Sprache und der Verdacht auf ADHS angegeben. Im Testbericht der A-Schule vom 02.02.2011 wurde neben einer leichten kognitiven Entwicklungsverzögerung eine erhebliche Beeinträchtigung der Sprachentwicklung angegeben. A. brauche dringend eine kleine Gruppe und einen stark strukturierten Ablauf. Im Hilfeplangespräch vom 17.01.2012 wurde erstmals eine Allergie gegen Erdnüsse mitgeteilt. Aufgrund der stark eingeschränkten Aufmerksamkeitsspanne von ein bis zwei Minuten bestehe außerdem ein dringender Bedarf für heilpädagogische und ergotherapeutische Unterstützung. In einer Stellungnahme des Stadtjugendamtes K-Stadt vom 18.01.2012 wurde auf einen deutlich erhöhten Pflegeaufwand aufgrund der Allergien und der Neurodermitis hingewiesen. Deswegen sei gemäß § 33 SGB VIII eine erhöhte Pflegestufe 2 zu berücksichtigen. Ab 13.09.2012 wurde A. aufgrund des umfassenden sonderpädagogischen Förderbedarfs in die private schulvorbereitende Einrichtung der S-Hilfe an der A-Schule aufgenommen. In der Fortschreibung des Hilfeplans vom 05.06.2013 wurde trotz Fortschritten weiter ein Entwicklungsrückstand von mindestens einem Jahr festgestellt. A. benötige ständige Aufsicht/Aufmerksamkeit und bringe sich durch sein deutlich reduzierte Schmerzempfinden immer wieder in Gefahr. Die Beschwerden beim Asthma hätten sich leicht gebessert. Im Hilfeplan vom 10.07.2014 wurde auf motorische Ungeschicklichkeiten hingewiesen. Im Zusammenhang mit der anstehenden Einschulung wurden 2015 verschiedene Testungen durchgeführt und im Klinikum M-Stadt nach Durchführung verschiedener Testungen am 11.03.2015 eine Entwicklungsverzögerung mit Schwerpunkt im Bereich der Sprache festgestellt. Die Testung hinsichtlich einer Alkoholentzugsstörung blieb ohne eindeutigen Befund. An körperlichen Diagnosen wurden Neurodermitis, Asthma bronchiale sowie bekannte multiple Allergien bezeichnet. Vom 29.07.2015 bis 26.08.2015 befand sich A. in einer stationären Kinderheilbehandlung in der Klinik H-Stadt mit Schwerpunkt Dermatologie. Als führende Diagnosen sind im Abschlussbericht neben Entwicklungsstörungen ein Ekzem und eine obstruktive Atemwegserkrankung bezeichnet. Insoweit wurden zweimal wöchentlich Ölbäder durchgeführt, was zu einer deutlichen Verbesserung des Hautbildes geführt habe. Im Allergietest konnte eine positive Reaktion auf Hasel, Erle, Eiche, Buche, Esche, Roggen, Gräsermischung und Kräuter festgestellt werden. Die Atemwegsbeschwerden schienen im Wesentlichen durch einen Infekt bedingt. Insoweit wurde ein Spray rezeptiert.
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Der Kläger bat daraufhin den Landesarzt für Körperbehinderte Prof. Dr. H1 um Stellungnahme, ob die Sprachstörung eine wesentliche körperliche Behinderung darstelle. Mit Stellungnahme vom 14.09.2015 kam für den Landesarzt Prof. Dr. V1 zum Ergebnis, dass nach den vorliegenden Unterlagen zwar noch Sprachstörungen im Sinne von Störungen der Lautbildung dokumentiert seien. Diese stellten auch eine körperliche Behinderung dar. Ob die Behinderung auch als wesentlich anzusehen sei, könne aber erst nach Vorliegen eines ausführlichen Sprachbefundes entschieden werden.
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Im MDK Gutachten vom 05.11.2015 wurden bei den pflegebegründenden Diagnosen einer Entwicklungsverzögerung mit Schwerpunkt im Bereich der Sprache, einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung vom hyperkinetischen Typ und dem Verdacht auf eine fetale Alkoholmissbrauchsstörung die Pflegestufe I festgestellt.
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Im Hilfeplan vom 01.06.2016 wurde festgestellt, dass eine Behandlung mit Medikinet zu einer deutlichen Verbesserung der Konzentration wie auch des Sozialverhaltens geführt habe. Später wurde auf Elvance umgestellt. Darüber hinaus wurden keinerlei pflegerische Maßnahmen mehr beschrieben. Bei der Fortschreibung am 04.12.2017 wurde besprochen, dass inzwischen auch eine Allergie auf Weizen und Dinkel hinzugekommen sei, was die Ernährung noch aufwendiger gestalte.
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Mit Schreiben vom 20.06.2018 wurde unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK und die darin festgestellte Sprachentwicklungsverzögerung erstmals gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der Kosten sowie Übernahme des Falls geltend gemacht. Derzeit würden weitere Gutachten eingeholt.
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Dazu wurde zunächst die Klinik H2 um Stellungnahme dazu gebeten, ob es sich bei der während der Behandlung festgestellten rezeptiven Sprachstörung um eine körperliche Behinderung handle, wozu sich die Einrichtung allerdings nicht in der Lage sah.
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Mit fachärztlich-psychologischer Stellungnahme zur Planung einer Eingliederungshilfe vom 02.06.2020 nahm der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. N1 dahingehend Stellung, dass bei A. als psychische Störung eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens mit kombinierten Vokalen und multiplen motorischen Ticks vorliege, ferner eine kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung und eine unterdurchschnittliche Intelligenz. Als körperliche Erkrankung sei eine Neurodermitis zu berücksichtigen. Es handele sich somit um eine (drohende) seelische Behinderung gemäß § 35a Abs. 1 und 1a SGB VIII, nicht um eine Mehrfachbehinderung. Der Kläger stellte daraufhin fest, dass eine Abgabe an den Beklagten wohl nicht erfolgen könne (Aktenvermerk vom 24.06.2020). Ungeachtet dessen wurde mit Schreiben vom 25.06.2020 gegenüber dem Beklagten erneut um Kostenerstattung für den Zeitraum ab 26.08.2015 bis 03.12.2017 gebeten, da nach der Auslegungsvereinbarung über die Abgrenzung der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte gemäß § 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach den §§ 99 ff. SGB IX in Verbindung mit § 53 SGB XII vom 01.03.2020 Sprachstörungen auch dann als wesentliche körperliche Behinderung subsumiert werden könnten, wenn die verbale Kommunikationsfähigkeit im Bezug zu Altersnorm in erheblichem Umfang eingeschränkt sei. Erst im Hilfeplangespräch vom 04.12.2017 werde nicht mehr erwähnt, dass A. Logopädie erhalte. Der Beklagte forderte daraufhin, ebenfalls unter Bezugnahme auf die Auslegungsvereinbarung, Stand 01.06.2020, die bisher vom Kläger noch nicht unterzeichnet worden sei, zur Klärung der Zuständigkeit Prof. Dr. N2 vom Krankenhaus D-Stadt einzuschalten. Dem kam der Kläger mit Anfrage vom 21.08.2020 nach. Mit Stellungnahme vom 31.08.2020 stellte Prof. Dr. N2 bezogen auf den angefragten Zeitraum vom 28.08.2015 bis 03.12.2017 fest, dass weiterhin keine detaillierten Sprachbefunde vorliegen würden, wobei immer wieder erwähnt werde, dass starke Konzentrationsprobleme die Befunderhebung deutlich beeinflussten. Im fachärztlichen Gutachten von Dr. N1 werde die Sprachstörung nicht mehr erwähnt, allerdings niedrige Werte im sprachlichen Bereich des Intelligenztests festgestellt, wobei die Intelligenzleistung insgesamt unterdurchschnittlich und im unteren Bereich der Lernbehinderung anzusiedeln sei. Insgesamt sei aktuell von einer wesentlichen seelischen Behinderung auszugehen. Nur das Vorliegen einer aktuellen differenzierten Sprachuntersuchung würde eine valide Einschätzung über das Ausmaß der Sprachstörung ermöglichen, somit auch über das Vorliegen einer körperlichen Behinderung.
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Am 07.12.2020 erstellte der Facharzt für Kinder und Jugendmedizin Dr. S1 eine vertrauliche ärztliche Stellungnahme nach § 35a SGB VIII. Darin bezeichnete er als psychische Störungen:
\n- Alkoholembryopathie (fetales Alkoholembryopathie-Syndrom, FAS)
\n- Hyperkinetisches Syndrom bei Entwicklungsstörung
\n- Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
\n- Kombinierte Entwicklungsstörung
\n- Chronische motorische Tickstörung.
\nAn körperlichen Erkrankungen seien zu berücksichtigen:
\n- Knick-Senkfuß
\n- Fingerfehlbildung V. Strahl (Verkürzung) beidseits
\n- Regressive FAS-Stigmata
\n- Allergisches Asthma bronchiale.
\nEs liege eine relevante Kombination aus einer psychischen Störung und einer körperlichen Erkrankung vor. Dabei resultiere die Beeinträchtigung der Teilhabe allein aus der psychischen Störung infolge der körperlichen Erkrankung. Die Intelligenz sei unterdurchschnittlich (IQ gesamt 73).
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Mit Schreiben vom 02.10.2020 forderte daraufhin der Kläger den Beklagten erneut zur Übernahme des Falls sowie um Kostenerstattung rückwirkend ab 07.09.2020 auf. Der Beklagte bat zunächst mit Schreiben vom 13.10.2020 Prof. Dr. N2 um ergänzende Stellungnahme. Mit Rücksendung vom 21.10.2020 äußerte sich Prof. Dr. N2 dahingehend, dass weiterhin von einer seelischen Behinderung auszugehen sei und die geistige oder körperliche Behinderung nicht ausschlaggebend für eine stationäre, teilstationäre oder ambulante Maßnahme sei. Mit Schreiben vom 27.10.2020 lehnte der Beklagte unter Beifügung dieser Stellungnahme die Übernahme ab.
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Im Hilfeplangespräch am 14.01.2021 wurde A.s Entwicklung besprochen, die sich sehr positiv gestaltete. Körperliche Einschränkungen sind darin nicht mehr beschrieben. In der Stellungnahme zur Überprüfung eines erhöhten Pflegebedarfs zur Gewährung eines erhöhten Pflegegeldes vom 28.01.2021 wurde im Wesentlichen auf diverse Ernährungsunverträglichkeiten, Neurodermitis, allergisches Asthma bronchiale, Knick-Senk-Fuß und eine Fingerfehlbildung hingewiesen. Besondere Belastungen bestünden durch teils behandlungspflichtige Lebensmittelunverträglichkeiten. Gegenüber dem Beklagten hielt der Kläger mit Schriftsatz vom 10.03.2021 an seiner Auffassung fest. Tatsächlich habe Dr. S1 festgestellt, dass die Voraussetzungen einer Hilfe nach § 35a SGB VIII und/oder nach §§ 53ff. SGB XII vorliegen würden. Insofern liege eine Mehrfachbehinderung mit einander überschneidenden Leistungen vor. Die Hilfe gehe auch auf die körperliche Behinderung des Kindes ein. Insoweit erhielten die Pflegeeltern auch ein Pflegegeld.
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Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 18.03.2023, dass dies nicht nachvollziehbar sei. In der weiterhin nicht vom Kläger unterzeichneten Auslegungsvereinbarung vom 01.06.2020 sei vereinbart, dass bei sich widerstreitenden Stellungnahmen und Gutachten Frau Prof. Dr. N2 eingeschaltet werde, deren Aussagen akzeptiert würden. Diese seien vorliegend eindeutig.
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Der Kläger wandte sich daraufhin an den Landesarzt für Körperbehinderte in S2 Dr. F1, der mit Stellungnahme vom 28.05.2021 mitteilte, dass nach den vorliegenden Diagnosen neben der seelischen Behinderung noch ein hyperkinetisches Syndrom, regressive FAS-Stigmata sowie ein allergisches Asthma bronchiale und ein Knick-/Senkfuß, somit eine Mehrfachbehinderung vorliege.
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Nachdem der Beklagte unter Berufung auf die Feststellungen von Prof. Dr. N2 weiterhin die Übernahme ablehnte, hat der Kläger am 18.11.2022 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben und beantragt, den Beklagten zu verpflichten, die Kosten der Unterbringung in der Pflegefamilie vom 07.09.2020 zu erstatten und im Wege der Eingliederungshilfe zu tragen. Bis 30.09.2022 seien Nettokosten von 36.096,08 € angefallen.
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Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 08.12.2022 zur Klage Stellung genommen. Gemäß Art. 64 Abs. 1 Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) setzten Maßnahmen der Eingliederungshilfe voraus, dass auch eine körperliche oder geistige Behinderung vorliege, die Maßnahme der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX erfordere. Dies sei vorliegend nicht erkennbar. Im Übrigen bestehe ein Verfahren zur Vermeidung von gerichtlichen Streitigkeiten, das zwar der Kläger jedenfalls vom Stand Juni 2020 bisher nicht unterschrieben habe. Allerdings auch in der Vereinbarung von 2015, die der Kläger unterschrieben habe, sei eine Regelung dahingehend enthalten, dass bei sich widersprechenden Stellungnahmen und Gutachten zur Klärung der sachlichen Zuständigkeit die Landesärztin Prof. Dr. N2 eingeschaltet werde, die davon ausgehe, dass die körperliche Behinderung keine Beeinträchtigung der Teilhabe zur Folge habe. Er hat eine gütliche Einigung unter Einbeziehung weiterer beim Sozialgericht anhängiger Klageverfahren angeboten, allerdings bei Rücknahme der Klage im vorliegenden Fall.
\n\n
Der Kläger hat dazu mit Schriftsatz vom 25.01.2023 erklärt, dass der Vorrang bei sich widerstreitenden Aussagen der Landesärzte selbst nicht gelte. Vorliegend habe der Landesarzt für Körperbehinderte eine Mehrfachbehinderung festgestellt. Welche Behinderung überwiege, sei nicht ausschlaggebend, solange die Hilfe auf beide Behinderungen eingehe. Vorliegend hätten die Pflegeeltern einen erhöhten Mehraufwand bei der Betreuung des Kindes, der sich aus der psychischen Störung infolge der körperlichen Erkrankung ergebe. Es sei nicht ausschlaggebend, welche Behinderung überwiege. Der Vergleichsvorschlag werde daher nicht angenommen.
\n\n
Mit gerichtlichem Schreiben vom 14.04.2023 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass vorliegend nicht erkennbar sei, inwieweit die vorhandenen körperlichen Behinderungen Maßnahme der Eingliederungshilfe erforderten, wie es Art. 64 Abs. 1 AGSG voraussetze. Bei der Weiterführung der Klage werde eine erweiterte Darlegung erwartet, inwieweit die körperlichen Behinderungen bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe erforderlich machten. Anschließend ist eine Verweisung an den Güterichter erfolgt. Das Güterichterverfahren hat nicht zu einer Erledigung des Verfahrens geführt.
\n\n
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 09.11.2023 mitgeteilt, dass er die Klage aufrechterhalte. Eine erweiterte Begründung hat er nicht mehr abgegeben.
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Der Kläger beantragt,
\nden Beklagten zu verurteilen, die seit dem 07.09.2020 angefallenen Kosten für die Unterbringung von A. in der Pflegefamilie C. zu erstatten und die Leistungszuständigkeit ab dem 11.01.2024 zu übernehmen.
\n\n
Der Beklagte beantragt,
\ndie Klage abzuweisen.
\n
\nZur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten verwiesen.
\n\n
\n\n
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
\n\n
Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet.
\n\n
Als Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch betreffend die Kosten der Unterbringung von in der Pflegefamilie kommt vorliegend nur § 104 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Betracht. Insoweit ist nicht entscheidend, ob der Kläger gegenüber dem Leistungsberechtigten ausdrücklich nur vorläufig geleistet hat. Denn die Bewilligungsbescheide entfalten für das nachfolgende Erstattungsverhältnis weder Tatbestands- noch Bindungswirkung (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 – 5 C 3.11 -; Beschluss vom 17.02.2014 – 12 C 13.2646 – sowie zur Unterscheidung zwischen Außen- und Innenverhältnis in Fällen des § 14 SGB IX LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.01.2013 – L 20 SO 170/11 -). Entscheidend ist, ob der Leistungsträger, der Kostenerstattung begehrt, nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften nachrangig verpflichteter Leistungsträger war, weil der Beklagte an seiner Stelle die Leistung hätte erbringen müssen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2014 – 12 ZB 12.715 -).
\n\n
Das ist vorliegend nicht der Fall. Eine Konstellation, in der zwei gleichermaßen bestehende Leistungsverpflichtungen unterschiedlicher Leistungsträger in einem Vor-/Nachrang-verhältnis (hier nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII) miteinander konkurrieren, liegt nicht vor, weil der Leistungsberechtigte keinen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX gegen den Beklagten hat. Der Kläger ist alleine und endgültig zuständig für die ab 07.09.2020 an den Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen. Die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X oder nach § 105 SGB X sind daher ebenfalls nicht erfüllt.
\n\n
Die Zuständigkeit des Klägers für die dem Kind erbrachten Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege beruht auf § 27 in Verbindung mit § 33 SGB VIII. Es handelt sich um eine Form der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, die vorrangig gegenüber Leistungen nach dem SGB IX bzw. SGB XII ist (§ 10 Abs. 4 SGB VIII). Abweichend von Satz 1 gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach diesem Buch vor. Landesrecht kann regeln, dass Leistungen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig von anderen Leistungsträgern gewährt werden. Insoweit ist vorliegend Art. 64 AGSG in der Fassung vom 23.12.2019 zu beachten, der lautet: Hat ein junger Mensch neben einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch erfordert, auch eine seelische Behinderung, die die gleichen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch erfordert, oder ist er von einer solchen Mehrfachbehinderung bedroht, so werden diese Maßnahmen der Eingliederungshilfe durch die Träger der Eingliederungshilfe nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch gewährt. Nur Maßnahmen der Frühförderung für Kinder werden unabhängig von der Art der Behinderung von den Trägern der Eingliederungshilfe nach Vorschriften des SGB IX gewährt.
\n\n
Damit statuiert das Gesetz bei körperlicher oder geistiger Behinderung einen Vorrang der Sozialhilfe bzw. der Eingliederungshilfe gegenüber der Jugendhilfe (§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII) und es besteht ein grundsätzlicher Nachrang der Jugendhilfe gegenüber anderen Rehabilitationsträgern (§ 10 Abs. 1 SGB VIII). Nur für ausschließlich „seelisch“ behinderte Kinder und Jugendliche erbringt der örtliche Jugendhilfeträger (§ 27 Abs. 2 SGB I) alle anfallenden Teilhabeleistungen, also auch berufliche, medizinische sowie sozialintegrative Teilhabeleistungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX i.V.m. § 5 SGB IX; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.01.2015 – L 8 SO 316/14 B ER -, Rn. 39, juris).
\n\n
Die Anwendung dieser Kollisionsnormen setzt aber notwendig voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bzw. Eingliederungshilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Nur in diesem Fall besteht ein Bedürfnis für eine Vor- bzw. Nachrangregelung (vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 26/98, juris-Rn. 13). Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Heimerziehung sowohl nach Kinder- und Jugendhilferecht als auch nach Sozialhilferecht bzw. Eingliederungshilferecht erforderlich wäre (SG Nürnberg, Urteil vom 24.02.2022 – S 22 SO 163/21 -, Rn. 20, juris).
\n\n
Soweit in der Vergangenheit auf den Schwerpunkt der Behinderung und den danach erforderlichen konkreten Hilfebedarf abgestellt wurde, hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 19.10.2011 – 5 C 6.11 -; Urteil vom 23.09.1999, a.a.O.), der sich die Sozialgericht im Wesentlichen angeschlossen haben, die Zuständigkeit unabhängig vom Schwerpunkt des Bedarfs bzw. des primären Leistungsziels allein von der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Eingliederungshilfeleistung ab (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2011 – L 20 SO 110/08 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.01.2018 – L 8 SO 249/17 B ER -). Konkurrieren also Jugendhilfeleistungen (z. B. Leistungen nach § 35a in einem Heim) mit Eingliederungshilfe wegen geistiger Behinderung in einem Heim nach dem SGB IX, so ist nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII die Eingliederungshilfe vorrangig. Dafür soll ausreichen, dass die Leistungen zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger und/oder körperlicher Behinderung eingehen (BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 – M 18 K 09.4274 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 31.01.2011 – L 8 SO 366/10 B ER -). Allerdings ist auch nach der Rechtsprechung des BVerwG zu prüfen, ob im Außenverhältnis ein Anspruch auf beide Leistungen besteht und sich diese ganz oder teilweise decken oder überschneiden. Nur im Falle sich überschneidender Zuständigkeiten für die Leistung sind dann beide Hilfeträger leistungsverpflichtet und der Nachrang über eine Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern herzustellen (Axel Stähr in: Hauck/Noftz SGB VIII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 35a SGB 8, Rn. 63).
\n\n
Vorliegend hat der Leistungsberechtigte gegenüber dem Kläger einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie nach dem SGB VIII. Allerdings ist nicht erkennbar, dass und aufgrund welcher Behinderung er diesen Anspruch als Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB IX auch gegenüber dem Beklagten haben könnte.
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Der Leistungsberechtigte leidet vorliegend unter einer seelischen Behinderung im Sinne von § 35a SGB VIII. Dies setzt nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII voraus, dass eine Abweichung von der alterstypischen seelischen Gesundheit und hieraus resultierend eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegen, d.h., die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft muss auf dem Abweichen von der alterstypischen seelischen Gesundheit beruhen. Anders als § 99 Abs. 1 SGB IX setzt § 35a SGB VIII nicht voraus, dass die Behinderung wesentlich sein muss; zum einen wird der Schwere der Behinderung bereits bei der Beschreibung der einzelnen seelischen Störungen in der ICD 10 Rechnung getragen und zum anderen sind gerade bei seelischen Behinderungen im Kindes- bzw. Jugendalter die Übergänge zwischen wesentlichen und nicht-wesentlichen Störungen fließend (von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 35a SGB VIII (Stand: 01.08.2022), Rn. 24). Die Beurteilung, ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit vorliegt, obliegt den Ärzten bzw. Psychotherapeuten und steht vorliegend nicht im Streit.
\n\n
In der Stellungnahme von Dr. S1 vom 07.09.2020 sind als psychiatrische Haupt- und Nebendiagnosen bezeichnet:
\n- Alkoholembryopathie (fetales Alkoholembryopathie-Syndrom, FAS)
\n- Hyperkinetisches Syndrom bei Entwicklungsstörungen
\n- Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
\n- Kombinierte Entwicklungsstörung
\n- Chronische motorische Tickstörung.
\nInsgesamt liegt danach eine kombinierte Entwicklungsstörung bei unterdurchschnittlicher Intelligenz, bei einem IQ von 73 aber keine geistige Behinderung vor. Im Vordergrund steht eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens mit massiv gestörter Aufmerksamkeit. All dies sind Störungen von Krankheitswert, die dem Bereich der seelischen Behinderung zuzurechnen sind. Aufgrund dieser Störungen bestand und besteht weiterhin ein Anspruch des Leistungsberechtigten auf Eingliederungshilfe wegen seiner seelischen Behinderung nach § 35a SGB VIII. Den hierdurch hervorgerufenen Eingliederungsbedarf hat der Kläger durch die weitere Unterbringung von A. in der Pflegefamilie C. gedeckt.
\n\n
Demgegenüber besteht jedenfalls kein Eingliederungshilfebedarf wegen einer (drohenden) körperlichen oder geistigen Behinderung, die im Fall der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX außerdem wesentlich sein müssten.
\n\n
Für die Frage, ob eine geistige Behinderung vorliegt, ist der Intelligenzquotient ein entscheidendes Kriterium. Eine geistige Behinderung wird im Hinblick auf die ICD-10 (F 70) bei einem IQ von unter 70 angenommen (vgl. VGH München, Urteil vom 05.06.2007 – 12 BV 05.218 -) und liegt vorliegend nicht vor. Nach den Feststellungen aller Ärzte und in den Entwicklungsberichten besteht zwar eine Lernbehinderung, aber keine geistige Behinderung. Dr. S1 hat in seiner Stellungnahme vom 07.09.2020 den IQ insgesamt mit 73 angegeben, wobei vor allem das Sprachverständnis unterdurchschnittlich ist und A. in den übrigen Subtests deutlich besser abgeschnitten hat. Dr. N1 hat in seiner Stellungnahme vom 13.07.2020 auf ein durchaus vorhandenes kognitives Potential hingewiesen, das mit der Testbatterie vor allem wegen der eingeschränkten Daueraufmerksamkeit nicht vollständig abgebildet werden könne. Auch nach Feststellung von Dr. S1 kann A. seine Leistungen nicht immer abrufen, da seine Aufmerksamkeit massiv gestört ist. In jedem Fall liegt danach aber keine geistige Behinderung vor. Bei der im Vordergrund stehenden Aufmerksamkeitsstörung handelt es sich um eine seelische Störung.
\n\n
Gleiches gilt für die körperlichen Beeinträchtigungen. Insoweit wäre allenfalls die in der Vergangenheit zum Teil dokumentierten Sprachstörungen im Sinne von Störungen der Lautbildung geeignet gewesen, einen Bedarf an Eingliederungshilfe auszulösen. Aber zum einen war auch damals nicht klar, ob es sich wirklich um eine Sprachstörung im Sinne einer körperlichen Behinderung oder nur um eine Entwicklungsverzögerung im Sinne einer seelischen Störung gehandelt hat. Dass sich tatsächlich diese Störungen im Laufe der Jahre durch entsprechende Förderung zurückgebildet haben und auch schon länger nicht mehr gesondert behandelt werden, spricht auch rückblickend eher für eine Entwicklungsstörung. Vor allem sind aber entsprechende Beeinträchtigen jedenfalls im streitigen Zeitraum ab 07.09.2020 nicht mehr dokumentiert sind, weswegen sie auch vom Kläger nicht mehr als Begründung für den Kostenerstattungsanspruch herangezogen werden.
\n\n
Die weiteren körperlichen Beeinträchtigungen, laut Dr. S1 ein Knick-Senkfuß, eine Fingerfehlbildung (Verkürzung) beidseits, regressive FAS-Stigmata und ein allergisches Asthma bronchiale stellen offensichtlich keine, zumal wesentlichen, Behinderungen dar, die einen Eingliederungshilfebedarf auslösen könnten. Der Leistungsberechtigte ist tatsächlich, was sich aus allen Entwicklungsberichten ergibt, körperlich dadurch nicht beeinträchtigt. Der Satz, dass die Beeinträchtigung der Teilhabe allein aus der psychischen Störung infolge der körperlichen Erkrankung beruhe, in der Stellungnahme vom 07.09.2020, ist vor diesem Hintergrund nur dann verständlich, wenn man davon ausgeht, dass Dr. S1 sich dabei auf das von ihm als gesichert angenommene fetale Alkoholembryopathie-Syndrom (FAS) bezieht, das zunächst durch eine äußere Einwirkung auf den Körper und das Gehirn des Leistungsberechtigten im Mutterleib verursacht worden ist. Letztlich kann aber dahingestellt bleiben, wie diese Formulierung zu verstehen ist.
\nEntscheidend ist nämlich, welche Behinderungen ungeachtet ihrer Ursache im Zeitpunkt des zu prüfenden Bedarfs noch bestehen. Insoweit lassen sich auch aus einem möglichen FAS bezogen auf den streitigen Zeitraum keine körperlichen Behinderungen ableiten, die einen Eingliederungshilfebedarf auslösen könnten. Bei den ohnehin regressiven Stigmata hat es sich um eine leichte Augenfehlstellung gehandelt und weder die Fußfehlstellung noch die Fingerfehlbildung schränken den Leistungsberechtigten in irgendeiner Form ein. Nach den zahlreichen Entwicklungsberichten ist A. sportlich sehr aktiv, er beschäftigt sich mit Kochen und anderen Hobbys und ist motorisch nicht beeinträchtigt. Das Asthma ist offensichtlich unter Behandlung mit einem Spray ebenso stabil wie die Allergien bei entsprechender Beachtung. Dass die Pflegeeltern auch die danach erforderlichen Maßnahmen durchführen oder überwachen, genügt nicht, um auch einen hierauf gestützten Eingliederungshilfebedarf anzunehmen.
\n\n
Insofern unterscheidet sich der Fall auch grundlegend von den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen, in den vor allem bei gleichzeitigem Vorliegen einer geistigen Behinderung festgestellt wurde, dass es genügt, wenn die Hilfe (z.B. bei Unterbringung in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung) auch auf den dadurch bedingten Hilfebedarf eingeht (BVerwG, Urteil vom 09.02.2012, a.a.O.).
\n\n
Allein das Bestehen einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die aber keinen Eingliederungsbedarf begründet, führt noch nicht zu einem Konkurrenzverhältnis im Sinne von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII.
\n\n
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) abzuweisen.
\n
\n
Erstellt am: 18.01.2024
Zuletzt verändert am: 18.01.2024