Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 12.11.2019 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 380,80 EUR zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Klageverfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
Die 1934 geborene und während des Klageverfahrens am 31.8.2017 verstorbene N. I. (fortan: Versicherte) war über ihren vorverstorbenen Ehemann bei der Beklagten privat pflegeversichert. Dem Vertrag lagen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der privaten Pflegepflichtversicherung (MB/PPV 1995) zu Grunde. Die Versicherte wurde von ihrer 1963 geborenen Tochter und Rechtsnachfolgerin, der jetzigen Klägerin, gepflegt und auf Grund vertraglicher Vereinbarung vom 27.1.2015 betreut.
Die Versicherte beantragte am 23.9.2015 Leistungen der häuslichen Pflege. Nachdem der Medizinische Dienst der Privaten Pflegeversicherung (N 1.) in seinem Gutachten vom 5.10.2015 zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Versicherte in der Grundpflege einen Hilfebedarf von 2 und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 30 Minuten habe, lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen der privaten Pflegeversicherung mit Schreiben vom 13.10.2015 ab. Das Schreiben enthielt den Hinweis:
"Gegen diese Feststellung können Sie innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe schriftlich Einwendungen geltend machen. Bei Einwendungen gegen die Einstufung fügen Sie Ihrem Schreiben an uns bitte die den Einwand begründenden ärztlichen oder sonstigen Unterlagen bei. Wenn keine Einwendungen geltend gemacht werden, gilt nach Ablauf der Monatsfrist dieses Schreiben als endgültige Ablehnung Ihres Antrags. Wenn Sie Ihre Ansprüche weiter verfolgen wollen, müssen Sie diese gerichtlich geltend machen. Andernfalls erlöschen möglicherweise bestehende Leistungsansprüche."
Die Versicherte legte mit Schreiben vom 16.11.2015 anwaltlich vertreten Widerspruch ein und begründete diesen unter Vorlage von ärztlichen Unterlagen u.a. über einen vom 9. – 27.11.2015 erfolgten stationären Aufenthalt mit einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands. Nach einem daraufhin veranlassten weiteren Gutachten des N 1. vom 4.1.2016 bestätigte die Beklagte mit Schreiben vom 13.1.2016 ab dem 1.11.2015 einen Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe 2 mit erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz.
Die Versicherte erklärte das Widerspruchsverfahren mit Schreiben vom 1.3.2016 für erledigt und beantragte die Erstattung der ihr entstandenen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 380,80 EUR. Weder sie noch ihre Tochter seien in der Lage gewesen, den Widerspruch ohne rechtlichen Beistand einzulegen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Schreiben vom 9.3.2016 mit der Begründung ab, die Vorschriften des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) seien auf sie als privaten und dem Zivilrecht unterliegenden Versicherungsträger auch dann nicht anwendbar, wenn für Streitigkeiten zwischen ihr und den Versicherungsnehmern der Weg zu den Sozialgerichten eröffnet sei. Zudem komme eine Erstattungsfähigkeit auch erst bei einer endgültigen Leistungsablehnung in Betracht. Schließlich müsse sich die Klägerin die Schadensminderungspflicht nach § 254 Bürgerliches Besetzbuch (BGB) entgegenhalten lassen, da die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts nur in schwierigen Fällen vertretbar sei.
Mit ihrer am 27.5.2016 erhobenen Klage hat die Versicherte ihren Erstattungsanspruch auf § 63 SGB X gestützt und sich auf die Entscheidung des LSG NRW vom 9.3.2016 – L 19 AS 374/16 B – berufen. Da eine unterschiedliche Behandlung von gesetzlich und privat versicherten Pflegebedürftigen wegen der Vergleichbarkeit der Systeme rechtlich nicht haltbar sei, müsse die Norm zumindest analog angewandt werden. Zudem müsse untersucht werden, inwieweit das Verfahren bei der privaten Pflegeversicherung von dem der Gesetzlichen abweichen dürfe. Zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen wie z.B. § 280 BGB seien unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufklärungspflicht parallel zur Beratungspflicht in der Sozialen Pflegeversicherung zu prüfen. Auch sei es rechtswidrig, einen Erstattungsanspruch nur dann zu bejahen, wenn der Anspruch endgültig abgelehnt werde, da andernfalls eine Erstattung des Anwaltshonorars gerade in den Fällen verwehrt werde, in denen ein Widerspruch erfolgreich sei. Schon die Überschrift des Schreibens vom 13.10.2015 "Ablehnung von Pflegeleistungen als Ergebnis der Untersuchung durch den medizinischen Dienst" weise auf die Endgültigkeit der Entscheidung hin. Nach dem objektiven Empfängerhorizont müsse das mit einer (fehlerbehafteten) Rechtsmittelbelehrung, nicht hingegen mit den Rechtsgrundlagen versehene Schreiben als Ablehnungsbescheid gewertet werden. Da die Beklagte auch nicht angegeben habe, auf Grund welcher rechtlichen Grundlage sie die MB/PPV 2015, die ihr nicht übersandt worden seien, anwende, sei es ihr nicht zumutbar gewesen, ihre rechtlichen Interessen ohne anwaltliche Hilfe zu vertreten. Dass die Beklagte in diesem Zusammenhang von Unverhältnismäßigkeit spreche, stelle den Gipfel der Provokation dar. Sie strebe in jedem Fall eine höchstrichterliche Klärung der hier streitigen Fragen an.
Nach dem Tod der Versicherten am 31.8.2017 hat die Klägerin den Rechtsstreit als Alleinerbin fortgeführt.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zur Zahlung von 380,80 EUR zu verurteilen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie habe den Widerspruch der Versicherten als Einwand gewertet. Eine endgültige Leistungsablehnung liege nur vor, wenn das Zweitgutachten das Ergebnis des Erstgutachtens bestätige. Dies ergebe sich zweifelsfrei aus der Formulierung des Schreibens. Da es einfach sei, einen Einwand zu formulieren und ärztliche Unterlagen beizufügen, sei es unverhältnismäßig, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Es sei ihr nicht anzulasten, wenn die Versicherte nicht mehr in der Lage sei, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. 95 % der zu einem Zweitgutachten führenden Verfahren betrieben die Versicherten allein. Im Übrigen habe die Versicherte direkt Klage erheben können. Schließlich scheitere der geltend gemachte Anspruch bereits an der fehlenden Anwendbarkeit des § 63 SGB X.
Das SG hat die Klage im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 12.11.2019 abgewiesen und die Berufung zugelassen. § 63 Abs. 1 und 2 SGB X schieden als Anspruchsgrundlage aus, da es sich vorliegend nicht um ein Sozialversicherungsverhältnis iSd SGB X handele. Für eine analoge Anwendung der Norm fehle es an der planwidrigen Regelungslücke. § 63 SGB X stelle eine spezialgesetzliche Regelung dar. Privat Pflegeversicherte könnten auch ohne vorherigen Einwand direkt Klage erheben. Auch eine analoge Anwendung der Norm verhelfe der Klägerin nicht zum Erfolg, da die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zum Einreichen von ärztlichen Unterlagen im Rahmen eines Einspruchs nicht notwendig sei. Ein Anspruch nach § 280 Abs. 1 BGB scheitere daran, dass schon nicht ersichtlich sei, welche Aufklärungspflicht die Beklagte verletzt habe. Ihrer gesetzlichen Pflicht nach § 7a Abs. 4 SGB XI sei sie durch Gründung der COMPASS private Pflegeberatung im Jahr 2008 nachgekommen. Da das Schreiben vom 13.10.2015 keine endgültige Leistungsverweigerung beinhalte, komme auch ein Anspruch nach § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht in Betracht. Der Versicherten sei für den Einspruch ausdrücklich ein Monat Zeit eingeräumt worden.
Gegen das ihr am 20.11.2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18.12.2019 Berufung eingelegt und ihren Anspruch weiterverfolgt. In Anbetracht der grundrechtsverletzenden Ungleichbehandlung gesetzlich und privat Versicherter könne die erstinstanzliche Entscheidung nicht nachvollzogen werden. Sie selbst habe wegen der Versicherung über ihren Ehemann noch nicht einmal wählen können, ob sie sich gesetzlich oder privat versichere.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.11.2019 abzuändern und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihre bisherigen Ausführungen und das erstinstanzliche Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Unterlagen der Beklagten und die Gerichtsakten, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben; § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung ist zulässig. Zwar liegt der Beschwerdegegenstand mit 380,80 EUR unter der nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG erforderlichen Summe von 750 EUR. Das Sozialgericht hat die Berufung jedoch gem. § 144 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Ein Ausnahmefall nach Abs. 4 SGG liegt nicht vor, da die Erstattung der vorgerichtlich entstandenen Kosten streitig ist.
Die Leistungsklage ist zulässig.
Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist nach § 51 Abs. 2 S. 1 und 3 SGG eröffnet. Denn sie entscheiden auch über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der sozialen und privaten Pflegeversicherung. Obwohl weder im SGB XI noch in den MB/PVV Regelungen bezüglich der Behandlung von vorgerichtlichen Anwaltskosten enthalten sind, handelt es sich um eine privatrechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung. In der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit ist anerkannt, dass der Sozialrechtsweg auch für Nebenpflichten aus dem Versicherungsverhältnis gegeben ist (BSGE 45, 119; BSG NZS 99, 346).
Die Klägerin ist als Rechtsnachfolgerin der Versicherten aktiv legitimiert. Soweit fällige Ansprüche auf Geldleistungen nicht nach den §§ 56 und 57 einem Sonderrechtsnachfolger zustehen, werden sie nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vererbt (§ 58 Satz 1 SGB I (Erstes Buch Sozialgesetzbuch)). Da vorliegend ein privatrechtlicher Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und kein Anspruch auf laufende sozialrechtliche Leistungen gem. § 56 Abs. 1 SGB I streitig ist, liegen die Voraussetzungen einer Sonderrechtsnachfolge nicht vor. Die Klägerin ist ausweislich des Erbscheins des Amtsgerichts Siegen vom 9.8.2018 – 32 VI 1365/18 Alleinerbin der Versicherten geworden (§ 1922 Abs. 1 BGB) und als solche in deren verfahrensrechtliche Position eingetreten.
Die Klage ist auch begründet.
Ein Anspruch ergibt sich nicht bereits direkt aus § 63 Abs. 1 Satz 1 iVm Abs. 2 SGB X. § 63 Abs. 1 Satz 1 sieht vor, dass der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Nach Abs. 2 sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist auf das Widerspruchsverfahren beschränkt. Grundvoraussetzung ist daher der Erlass eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X, wozu die Beklagte als Bevollmächtigte der Gemeinschaft privater Versicherungsunternehmen nicht ermächtigt ist.
Die Klägerin kann ihr Begehren jedoch mit Erfolg auf eine analoge Anwendung des § 63 Abs. 1 SGB X stützen. Zur Überzeugung des Senats liegen eine planwidrige Regelungslücke und eine Vergleichbarkeit der Interessenlage privat und gesetzlich Pflegeversicherter hier vor. Zwar hat das BSG zu Recht entschieden, dass die Regelungen des SGB X über die Aufhebung von Verwaltungsakten, insbesondere von Leistungsbescheiden, nach den §§ 45ff. SGB X auch nicht mittelbar auf die private Pflegeversicherung übertragen werden können, da den Versicherten mit den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen der erforderliche Rechtsschutz zur Seite steht (BSG, Urteil vom 22.8.2001 – B 3 P 21/00 R -). Eine Regelungslücke besteht jedoch insoweit, als privat Pflegeversicherten ein geringeres verfahrensrechtliches Schutzniveau im Vergleich zu den gesetzlich Pflegeversicherten zur Verfügung steht. Obgleich auch ihnen der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gem. § 51 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Absatz 2 SGG offensteht, fehlt eine gesetzliche Regelung für ein ausdifferenziertes vorgerichtliches Verfahren entsprechend der im SGB X getroffenen Regelungen. Diese Regelungslücke ist planwidrig. Denn obwohl der Gesetzgeber wegen der durch § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XI (der nach Abs. 4 Nr. 3 auch für die Mitglieder der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten gilt) geschaffen leistungsrechtlichen Inkorporation des privaten Versicherungsrechts in das SGB XI eine einheitliche Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit begründet hat, um eine gelichlautenden Rechtsprechung zu identischen Fragen zu erhalten, fehlt ein entsprechender verfahrensrechtlicher Gleichklang. Auch privat Pflegeversicherten wird seitens ihrer Versicherer die Möglichkeit einer vorgerichtlichen Überprüfung und Zweitbegutachtung gewährt. Dies gilt im vorliegenden Fall in besonderem Maße, da die Hinweise im Schreiben der Beklagten vom 13.10.2015 einer Rechtsmittelbelehrung stark ähneln. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei der Rechtswegzuweisung die mit den gesetzlich Versicherten vergleichbaren Interessen der privat Pflegeversicherten übersehen hat (so zum sozialgerichtlichen Kostenrecht: BSG, Urteil vom 28.9.2006 – B 3 P 3/05 R; zu § 63 SGB X im Ergebnis auch Klünder, "Erfolgreiche Durchsetzung von Pflegeleistungen in der privaten Pflegeversicherung – Erstattung der Rechtsanwaltskosten durch Versicherer nach § 63 SGB X analog", NZS 8/2009, S. 426-427; a.A. und die Verzugs- und Schadensersatzvorschriften des BGB prüfend: SG Köln, Urteil vom 11.6.2007 – S 23 P 141/06, so wohl auch Becker in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 63 SGB X Rn 11; eine analoge Anwendbarkeit des § 63 SGB X nicht ausdrücklich prüfend: SG Koblenz, Urteil vom 26.5.2009 – S 5 P 89/07). Überdies fiele die Entscheidung über die Kosten des Widerspruchs- bzw. Einspruchsverfahrens den Gerichten bei der Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 und 2 SGG ohnehin an.
Die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 SGB X analog sind erfüllt. Der als Widerspruch formulierte Einspruch der Versicherten hatte vollen Erfolg. Denn die Beklagte hat ihr mit Schreiben vom 12.1.2016 Leistungen der häuslichen Pflegehilfe bewilligt. Dass die Leistungen nicht bereits ab Antragstellung (23.8.2015), sondern erst ab dem 1.11.2015 – und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Versicherte noch keinen Widerspruch eingelegt hatte – gewährt worden sind, steht dem nicht entgegen. Denn die Versicherte hatte ihren Einspruch mit einer akuten Verschlechterung im Oktober 2015 und dem Hinweis auf eine stationäre Behandlung im November 2015 begründet. Einer Kausalität zwischen den Einwänden der Versicherten und der Abänderung der Entscheidung bedarf es zudem grundsätzlich nicht, weil es auf den Erfolg in der Sache und nicht auf die im Verfahren vorgetragene Gründe ankommt (zu § 63 SGB X: BSG, Urteil vom 19.10.2011 – B 6 KA 35/10 R; eine Kausalität auch bei einer während des Widerspruchsverfahrens eingetretenen, für den Widerspruchsführer günstigen Rechtsänderung bejahend: BSG, Urteil vom 27.5.2009 – B 6 KA 29/09 R – juris). Es genügt, wenn nach dem Einspruch eine von der ursprünglichen Entscheidung abweichende Beurteilung der Sach- und Rechtslage zum Erfolg des Rechtsmittels führt. Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen für den streitigen Anspruch erst – wie hier durch eine Verschlechterung des Gesundheitszustands der Versicherten – kurz vor bzw. während des laufenden Einspruchs eintreten, weil der Erfolg des Einspruchs am tatsächlichen Ergebnis des Widerspruchsverfahrens zu messen ist (zu § 63 SGB X: LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 18.09.2013 – L 18 AS 565/12).
Die Beklagte vertritt die Ansicht, es habe sich bei dem Schreiben vom 13.10.2015 nicht um eine endgültige Ablehnung gehandelt, gegen die man sich habe zur Wehr setzen müssen. Von einer endgültigen Leistungsablehnung habe man erst ausgehen können, wenn das Zweitgutachten das Ergebnis des Erstgutachtens bestätige. Erst nach Ablauf der Monatsfrist werde die Entscheidung endgültig und es bestehe dann die Möglichkeit, Klage zu erheben. Dabei handelt es aus Sicht des Senats um einen Zirkelschluss. Unabhängig davon, dass das Schreiben vom 13.10.2015 ausdrücklich als "Ablehnung von Pflegeleistungen als Ergebnis der Untersuchung durch den medizinischen Dienst" und nicht als Ankündigung einer in Erwägung gezogenen Ablehnung formuliert ist, kann der Versicherte nur durch einen Einspruch eine zweite Begutachtung durch N 1. und damit eine mögliche Änderung der Entscheidung der Beklagten erreichen. Da die ablehnende Entscheidung also ohne Zutun des Versicherten nicht geändert wird, kann die Endgültigkeit der Entscheidung nicht durch die aufschiebende Bedingung eines unterbliebenen Einspruchs nach hinten verlagert werden.
Die geltend gemachten und der Höhe nach weder streitigen noch zu beanstandenden Gebühren und Auslagen des Prozessbevollmächtigten der Versicherten sind nach § 63 Abs. 2 SGB X analog erstattungsfähig, da sie der zweckentsprechenden Rechtverfolgung gedient haben und notwendig waren. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts war notwendig, wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, nicht rechtskundigen Beteiligten für erforderlich gehalten werden durfte, weil ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erkenntnisstand sich bei der gegebenen Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwalts bedient hätte (BVerwGE 61, 100, 102; BSG SozR 1300 § 63 Nr. 12) oder es dem Beteiligten nach den jeweils gegebenen Verhältnissen nicht zuzumuten ist, das Verfahren selbst zu führen (BSG SozR 1300 § 36 Nr. 12; BVerwG Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 34). Als maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist auf die Sicht zur Zeit der Beauftragung abzustellen (BSG vom 31. 5. 2006 – B 6 KA 78/04 R, SozR 4-1300 § 63 Nr. 4; BSG vom 9. 5. 2012 – B 6 KA 19/11 R, SozR 4-1300 § 63 Nr. 18, Rdnr. 11; BVerwG Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 36; BVerwG Buchholz 310 § 162 VwGO Nr. 35 = NJW 2000, 2832). Kriterien zur Beurteilung der Notwendigkeit sind die objektive Schwere der Sach- und Rechtslage, die Schwere des Eingriffs bzw. Bedeutung der beantragten Leistung oder Feststellung (vgl. BVerwGE 68, 1, 3), die Person des Widerspruchsführers, ggf. bei ihm vorliegende körperliche oder geistige Gebrechen oder seine Unbeholfenheit bei der Wahrnehmung seiner Rechtsverfolgung/-verteidigung (Becker in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 63 SGB X Rn 49; Mutschler in Kasseler Kommentar, SGB X, § 63 Rn. 17 ff.). Angesichts der Komplexität des heutigen Sozialrechts ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts in der Regel notwendig, auch wenn es sich nicht um ein schwieriges und umfangreiches Verfahren handelt (Diering in LPK-SGB X § 63 Rdnr. 25). Der Bürger ist nämlich nur in Ausnahmefällen in der Lage, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren. Diese Grundsätze sind auf die private Pflegeversicherung zu übertragen, da diese nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XI ihren Versicherten Leistungen gewährt, die nach Art und Umfang den Leistungen des Vierten Buches des SGB XI gleichwertig sind. Dementsprechend sind die Regelungen in den MB/PVV auch mit denen im SGB XI vergleichbar. Darüber hinaus unterliegt der private Pflegeversicherungsträger auch nicht der Amtsermittlungspflicht, die ihn verpflichtet, auch für die Beteiligten günstigen Umstände zu ermitteln und zu berücksichtigen. Auf Grund des Wissensvorsprungs und der Expertise des privaten Pflegeversicherers ist bei Einlegung eines Einspruchs, der ein kontradiktorisches Verfahren zwischen Versichertem und Versicherungsunternehmen einleitet, unter den Gesichtspunkten des fairen Verfahrens und einer gewissen Waffengleichheit die Hinzuziehung eines sachkundigen Bevollmächtigten ebenfalls grundsätzlich gerechtfertigt. Wegen der Komplexität des Regelungswerks gilt dies auch dann, wenn der Versicherer bei Vertragsabschluss die MB/PVV zur Verfügung stellt und mit der COMPASS eine private Pflegeberatung anbietet. Auch wenn ein Beratungsangebot besteht, reicht es nicht aus, den Rechtsuchenden darauf zu verweisen, zumal nicht sicher angenommen werden kann, dass der Versicherer aufgrund eigener Kompetenz immer zu einer richtigen Entscheidung gelangen wird. Im vorliegenden Fall ist die individuelle Kompetenz der zum Zeitpunkt des Einspruchs 81jährigen hilfebedürftigen dementen Versicherten mit eingeschränkter Alltagskompetenz zur Begründung eines Einspruchs nicht als ausreichend groß einzuschätzen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass noch keine gesetzliche Betreuung eingerichtet war. Die gegenteilige Auffassung der Beklagten ist vor dem Hintergrund, dass zwischen Einlegung des Einspruchs (13.10.2015) und Anerkennung der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz (ab 1.11.2015) gerade einmal 2 Wochen lagen, für den Senat nicht nachvollziehbar. Auch der 1963 geborenen Tochter und (qua vertraglicher Vereinbarung) Betreuerin der Klägerin war es als juristische Laiin nicht zuzumuten, sich in die Voraussetzungen der Gewährung von Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach den MB/PVV zeitnah einzuarbeiten. Da es auf eine individuelle Betrachtung im Einzelfall ankommt, kommt es auf die statistischen Überlegungen der Beklagten, wie viel Prozent der Versicherten einen Bevollmächtigten hinzuziehen, nicht entscheidungserheblich an. Weil es sich auch wirtschaftlich gesehen für die Versicherte nicht um eine Bagatelle handelte (häusliche Pflegehilfe bis zu monatlich 1.298 EUR und zusätzlich bis zu 140 EUR für Betreuungs- und Entlastungsleistungen), war die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten in der Gesamtschau notwendig.
Die Kostenentscheidung im Berufungsverfahren beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 iVm 183 Satz 2 SGG. Weder die Klägerin noch die Beklagte gehören zu dem in § 183 Satz 1 SGG genannten – privilegierten – Personenkreis, denn die Beklagte ist ein privates Versicherungsunternehmen und die Klägerin keine Sonderrechtsnachfolgerin iS von § 56 SGB I. § 183 Satz 2 SGG. Somit beschränkt sich die Kostenfreiheit von sonstigen Rechtsnachfolgen nur auf den Rechtszug der Verfahrensaufnahme, also das Klageverfahren. Eine entsprechende Anwendung der in § 183 Abs. 1 SGG normierten Kostenbegünstigung für sonstige Rechtsnachfolger kommt in Ermangelung einer Regelungslücke nicht in Betracht, da der Gesetzgeber nur Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger und Behinderte nicht mit Gerichtskosten belasten wollte und diese Privilegierung nach dem Tode des ursprünglich Berechtigten nur für den in § 56 SGB I beschriebenen Personenkreis erhalten bleiben sollte (BT-Drucks 14/5943 S 20 und 28; a.A. BSG, Urteil vom 28.9.2006 – B 3 P 3/05 R).
Die Revision zum Bundessozialgericht wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Eine Entscheidung des BSG zu der Frage der Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltskosten im vorgerichtlichen Verfahren mit privaten Pflegeversicherungsunternehmen liegt bislang nicht vor.
Erstellt am: 06.08.2020
Zuletzt verändert am: 06.08.2020