Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 14.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2001 verurteilt, bei der Klägerin ab Oktober 2000 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkmals "aG" feszustellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) bei der Klägerin.
Die im Jahr 0000 geborene Klägerin ist Rentnerin. Auf ihren Antrag vom 23. Oktober 2000 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 14. März 2001 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" fest. Demgegenüber lehnte er die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ab. Als Behinderungen benannte der Beklagte folgende Gesundheitsstörungen:
– an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits,
– Seelenleiden,
– Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen der Beine,
– Wirbelsäulensyndrom, Hüftverschleiß, Nervenstörung,
– Diabetes, Fettstoffwechselstörungen,
– Nieren- und Harnwegsinfektneigung,
– Darmleiden.
Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2001 als unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich die am 7. Juni 2001 erhobene Klage. Die Klägerin ist weiterhin der Auffassung, außergewöhnlich gehbehindert zu sein.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 14. März 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2001 zu verurteilen, bei ihr ab Oktober 2000 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist gestützt auf versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. D vom 27. März 2002 und 28. Mai 2002 weiterhin der Auffassung, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht vorliegen.
Das Gericht hat ein sozialmedizinisches Gutachten von Dr. M vom 25. Februar 2002 eingeholt. Die Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin sich wegen der Schwere ihrer Leiden dauernd nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Die maximale Wegstrecke liege bei ständiger fremder Hilfe bei 50 bis 75 m.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten erweisen sich insoweit als rechtswidrig, als die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" bei der Klägerin abgelehnt worden ist. Die Klägerin ist seit Oktober 2000 außergewöhnlich gehbehindert.
Nach § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) können schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen "aG", § 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisordnung – SchwbAwV-) Parkerleichterungen gewährt werden. Eine Beschreibung des anspruchsberechtigten Personenkreises enthält die allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 46 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Demnach sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamuptierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprotese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Der Gewährung des Merkzeichens "aG" steht jedenfalls die Möglichkeit einer Fußwegstrecke von bis zu 100 m nicht entgegen (Thüringer LSG, Urteil vom 14. März 2001, Az.: L 5 SB 672/00). Für eine Grenzziehung bei der Wegefähigkeit von 100 m spricht, dass Sonderparkplätze in der Nähe von Behörden und Kliniken und die Parksonderrechte vor Wohnungen und Arbeitsstätten denjenigen schwerbehinderten Menschen vorbehalten sein sollen, denen nur noch Wegstrecken zumutbar sind, die von diesen Sonderparkplätzen aus üblicherweise bis zum Erreichen des Eingangs der Gebäude zurückzulegen sind. Diese Wegstrecken über Straßen und Gehwege in die Eingangsbereiche der genannten Gebäude liegen regelmäßig unter 100 m (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. März 2001, Az.: L 11 SB 4527/00; Eine 100-Meter-Grenze befürwortend: LSG für das Saarland, Urteil vom 6. Februar 2001, Az.: L 5b SB 67/99 im Anschluss an entsprechende Entscheidungen des LSG Mainz vom 19. März 1991, Az.: L 4 VS 78/90, vom 30. November 1994, Az.: L 4 VS 39/93 und vom 14. August 1997, Az.:L 4 VS 131/96).
Sofern demgegenüber nach Auffassung des LSG NRW die Gleichstellung mit dem kraft der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVG außergewöhnlich Gehbehinderten voraussetzt, dass ein Leidenszustand vorliege, der den behinderten Menschen bei der Fortbewegung faktisch an den Rollstuhl binde bzw. der zur Fortbewegung eine Benutzung eines Rollstuhls zumindest als dringend geboten erscheinen lasse (LSG NRW, Urteil vom 14. März 2001, Az.: L 10 SB 86/00, SGG 2001, 626), folgt die Kammer dem nicht. Diese Rechtsauffassung schränkt den begünstigten Personenkreis zu stark in Richtung einer Gehunfähigkeit ein, zumal behinderte Menschen der Vergleichsgruppe oftmals durch die Versorgung mit Hilfsmitteln eine gewisse Mobilität erlangen. Die Auswirkungen der Gehstörungen müssen jedoch bezogen auf die Fortbewegung funktional denen des Personenkreises der Vergleichsgruppe entsprechen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt die Gehfähigkeit der Klägerin bei maximal 50 bis 75 m. Die Sachverständige Dr. M begründet diese geringe Restgehfähigkeit der Klägerin nachvollziehbar und überzeugend aus dem Zusammenwirken verschiedener Gesundheitsstörungen der Klägerin. Zum einen liegt ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus vor, der als Folgeerkrankung eine Nervenschädigung der peripheren Beine nach sich zieht. Diese Polyneuropathie führt bei der Klägerin zu einer völligen Gefühllosigkeit der Füße und erheblicher Minderempfindlichkeit der Unterschenkel. Zusätzlich liegt eine periphere Durchblutungsstörung der Beine vor. Darüber hinaus ist die Gehfähigkeit der Klägerin durch ein linksseitig bestehendes Hüftgelenksverschleißleiden schmerzhaft eingeschränkt. Insgesamt zeigt die Klägerin einen deutlich reduzierten Kräftezustand. Es besteht eine erhebliche Muskelatrophie der Beine. Die Klägerin ist häufig bettlägerig, bedingt durch eine Psychose aus dem schidzophrenen Formenkreis, die zur Antriebslosigkeit und Gleichgültigkeit führt. Die Muskelatrophie der Beine führt zusätzlich zu einer allgemeinen Unsicherheit hinsichtlich des Stehens und Gehens, da die übrigen Gesundheitsstörungen nicht muskulär kompensiert oder teilkompensiert werden können. Die Klägerin ist somit innerhalb der Wohnung wie auch außerhalb der Wohnung auf das ständige Abstützen durch ihren Ehemann angewiesen. Sie benutzt darüber hinaus einen Gehstock. Auch bei sehr langsamer Gangart und zusätzlichem linken Humpeln besteht eine erhebliche allgemeine Unsicherheit, die auch für die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung deutlich wurde. Soweit Dr. D für den Beklagten gegenüber dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme einwendet, dass der Gesamt-GdB der Klägerin von 100 im Wesentlichen auf ihrer Schwerhörigkeit und ihrem Seelenleiden beruhe, ändert dies an der nachvollziehbaren Beurteilung der eingeschränkten Gehfähigkeit der Klägerin durch die Sachverständige nichts. Dr. D bezieht sich nur auf Teilaspekte des Gesundheitszustandes der Klägerin, wobei, worauf auch die Sachverständige Dr. M hinweist, die ausgeprägte Schwerhörigkeit und das Seelenleiden ebenfalls zu der außergewöhnlichen Gebehinderung der Klägerin beitragen. Dr. D liefert keine Argumente, die für eine Fehlbeurteilung der Sachverständigen hinsichtlich der maximalen Gehstrecke von 50 bis 75 m sprechen könnten. Bei einem derartig eingeschränkten Gehvermögen ist die Gleichstellung mit den Kraft der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVG außergewöhnlich Gehbehinderten vorzunehmen, so dass der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen "aG" festzustellen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Erstellt am: 02.02.2004
Zuletzt verändert am: 02.02.2004