Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF", da sie sich nicht mehr in der Lage sieht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
Neben einem chronischen Bronchialleiden ist der Gesundheitszustand der am 30.05.1935 geborenen Klägerin im Wesentlichen durch die Folgen einer angeborenen doppelseitigen Hüftgelenksverrenkung beeinträchtigt. Beide Hüftgelenke wurden mit Kunsthüften vorsorgt, die wegen Prothesenlockerungen mehrfach operiert und gewechselt werden mussten. Mit zuletzt bindend gewordenen Bescheid vom 16.11.2007 hatte das Versorgungsamt E den GdB der Klägerin mit 90 festgestellt. Bereits zuvor war das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G", "B" und "aG" anerkannt worden.
Am 18.05.2011 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag und richtetet diesen – wie bereits mehrere Anträge zuvor – auch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF". Sie machte geltend, das Laufen sei nur mit Rollator möglich. Deswegen und infolge von COPD-bedingten Hustenanfällen könne sie nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen.
Der Beklagte holte von dem behandelnden Ärzten der Klägerin Befundberichte ein, und zwar von Herrn Dr. X (Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde) und von Herrn Dr. U (Arzt für Innere Medizin und Hausarzt). Nach Auswertung der Befundberichte und der beigefügten weiteren medizinischen Unterlagen hielt die beratende Ärztin des Beklagten weiterhin einen GdB von 90 ohne das Merkzeichen "RF" für gerechtfertigt, wobei im Einzelnen folgende Gesundheitsstörungen berücksichtigt wurden:
1. Zustand nach angeborener doppelseitiger Hüftgelenksverrenkung, Kunsthüfte beiderseits, Folgen nach mehrfachen Prothesenwechsel, Beinvenenthrombose, Fraktur des linken Kniegelenkes und des Beckens, Osteoporose, Einzel-GdB 80 2. chronisches Bronchialleiden, Einzel-GdB 30 3. Blasenleiden, Einzel-GdB 10.
Mit Bescheid vom 27.06.2011 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB und der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab.
Die Klägerin erhob Widerspruch und machte geltend, die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" seien gegeben. Der GdB betrage 90, also mehr als der verlangte GdB von 80. Aufgrund der Gehbehinderung habe sie jahrelang nicht mehr an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können. Die COPD hindere sie ebenfalls wegen der plötzlichen Hustenanfälle an Konzerten usw. teilzunehmen.
Die Bezirksregierung N wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 01.08.2011 zurück und führte aus, durch die vorliegenden Befunde sei das gewünschte Merkzeichen nicht gerechtfertigt.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 11.08.2011 erhobenen Klage. Zur Begründung verweist sie nochmals darauf, dass sie ohne Rollator nicht einen Schritt gehen könne. Eine Begleitperson könne nicht helfen. Fünf Hüft-TEPs hätten sich alle wieder gelockert, so dass sie keinen festen Stand habe. Ins Theater, Kino, Vorträge usw. könne sie nicht, denn überall gäbe es Treppen. Im Übrigen sei vor allem im Winter die COPD so störend, dass sie dies den Mitmenschen nicht zumuten könne. Längeres Sitzen auf einem Fleck sei wegen der Schmerzen nicht möglich. Neu hinzugekommen sei eine Niereninsuffizienz III. Grades.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 27.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2011 zu verurteilen, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" ab 18.05.2011 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Unter Vorlage der Verwaltungsakten hält der Beklagte die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen weiterhin für rechtmäßig. Auch nach Auffassung der behandelnden Ärzte sei die Klägerin nicht dauerhaft von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen.
Das Gericht hat Beweis erhoben und von den behandelnden Ärzten der Klägerin Befundberichte beigezogen, und zwar von Herrn Dr. X (Arzt für Augenheilkunde), erneut von Herrn Dr. U (s. o.) und Herrn Dr. X (s. o.) sowie von Herrn Dr. I (Arzt für Allgemeinmedizin).
Hinsichtlich der Einzelheiten der Beweisaufnahme und wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten bzw. auf die den Beteiligten erteilten Ablichtungen und Abschriften.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann trotz Ausbleibens der Klägerin und eines Vertreters bzw. Prozessbevollmächtigten entscheiden, weil diese von dem Termin zur mündlichen Verhandlung mit einem entsprechenden Hinweis benachrichtigt worden ist (vgl. §§ 110 Absatz 1, 126 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Im Übrigen hat sich die Klägerin im Rahmen einer telefonischen Rücksprache vor dem Termin am 13.02.2013 ausdrücklich damit einverstanden erklärt, dass ohne sie verhandelt wird.
Die zulässige Klage ist nicht begründet, denn die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten im Sinne des § 54 Absatz 2 Satz 1 SGG.
Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" gemäß § 69 Absatz 4 SGB IX feststellt und das Merkzeichen "RF" gemäß § 3 Absatz 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in ihren Schwerbehindertenausweis einträgt. Der Beklagte geht zu Recht davon aus, dass im Falle der Klägerin die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt werden
Neben den bereits erwähnten Normen ist als rechtliche Grundlage für das geltend gemachte Klagebegehren für die Zeit bis Ende 2012 der bis dahin in Kraft befindliche landesrechtlich einheitlich geregelte Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RGebStV) zu nennen. Nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nr. 8 RGebStV werden von der Rundfunkgebührenpflicht solche Behinderte befreit, denen nicht nur vorübergehend ein Grad der Behinderung von wenigstens 80 zuerkannt ist und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Nunmehr wurden für die Zeit ab 01.01.2013 die gleichen Anspruchsvoraussetzungen in den ebenfalls landesrechtlich einheitlichen geregelten Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) übernommen, wobei nach § 4 Absatz 2 Nr. 3. allerdings nicht mehr eine vollständige Befreiung sondern nur noch eine Teilbefreiung gewährt wird, denn der Rundfunkbeitrag des Berechtigten ist nach der gesetzlichen Neuregelung lediglich auf ein Drittel "ermäßigt". Ein gewisser Widerspruch zum Wortlaut von § 3 Abs. 1 Nr. 5 der SchwbAwV, wonach Voraussetzung für das Merkzeichen "RF" eigentlich eine "Befreiung" und keine Ermäßigung ist, wird als rechtliche ohne Bedeutung erachtet. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des Rundfunkgebühren- bzw. des Rundfunkbeitragsrechtes das Merkzeichen "RF" für Behinderte im Sinne von § 4 Absatz 2 Nr. 3 RBStV nun faktisch abzuschaffen wollte. Daraus, dass die Neuregelung ansonsten quasi inhaltsleer wäre, ist vielmehr zu schließen, dass eine Ermäßigung nach § 4 Abs. 3 Nr. 3. des RBStV (wie auch bei Nr. 1, und 2.) im Sinne von Teilbefreiung zu verstehen ist und dies auch den Anforderungen von § 3 Abs. 1 Nr. 5 SchwbAwV genügt (im Ergebnis so auch Landessozialgericht Baden-Württemberg im Urteil vom 16.01.2013 – L 3 SB 3862/12 – , veröffentliche in juris; und vgl. Aufsatz von Dirk H. Dau "Neuigkeiten im Schwerbehindertenrecht 2013" in jurisPraxisReport – juris PR-SozR – 22/2012 Anm.1 unter F).
Im vorliegenden Verfahren sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" nicht erfüllt, denn es kann nach umfassender Würdigung der Klagebegründung und der eingeholten Befundberichte im Ergebnis nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin wegen ihres Leidens dauerhaft von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Wie in dem den Beteiligten bekannten Richterbrief vom 10.09.2012 ausgeführt wurde, gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein sehr enger Auslegungsmaßstab. Im Einzelnen wird hinsichtlich der maßgeblichen Kriterien auf den Richterbrief Bezug genommen.
Bei Übertragung der engen Kriterien in der Rechtsprechung für das Merkzeichen "RF" auf den hier zu entscheidenden Fall ist die Kammer davon überzeugt, dass die Klägerin nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Es bedurfte insoweit nicht der Einholung eines Sachverständigengutachtens, denn die Ausführungen der behandelnden Ärzte sind insoweit eindeutig. Nicht einer der behandelnden Ärzte sieht die Klägerin vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen als dauerhaft ausgeschlossen an. Der Kammer sind keinerlei Anhaltspunkte für eine andere Einschätzung erkennbar, auch nicht auf Basis der medizinischen Fachkompetenz der mitentscheidenden ehrenamtlichen Richterin, bei der es sich um eine Ärztin mit langjähriger sozialmedizinischer Erfahrung handelt.
Die von der Klägerin wiederholt geschildeten Mobilitätsprobleme insbesondere bei Treppen schließen diese gerade nicht dauerhaft vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen aus, denn diese Probleme wären bei einer Inanspruchnahme von Hilfsmitteln und einer Begleitperson überwindbar. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Klägerin jedenfalls an Veranstaltungen teilnehmen kann, an denen auch Rollstuhlfahrer teilnehmen könnten. Diese haben im Regelfall bezogen auf Treppenstufen die gleichen Probleme wie die Klägerin. Bei sehr vielen öffentlichen Veranstaltungen wird aber gerade dafür Sorge getragen, dass diese auch für Rollstuhlfahrer erreichbar sind. Dies gilt zum Beispiel für Ausstellungen oder Gottesdienste und insbesondere auch für Theater- und Kinoaufführungen. Letztere werden von Herrn Dr. U auch ausdrücklich als solche öffentliche Veranstaltungen genannt, an denen die Klägerin zumindest zeitweise teilnehmen könnte.
Auch der wiederkehrende Hustenreiz der Klägerin insbesondere während der kalten Jahreszeit steht einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht generell entgegen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass der Hustenreiz die Klägerin vor allem im Zusammenhang mit einem Infekt und im Winter erheblich belastet. Allerdings vermochte der behandelnde Lungenarzt Herr Dr. X insoweit keinen dauerhaften Ausschluss vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen zu erkennen. Selbst wenn die Klägerin tatsächlich wegen eines möglichen Hustenreizes jede öffentliche Veranstaltung meiden sollte, ist dies nicht entscheidungserheblich. Wie im Richterbrief vom 10.09.2012 dargelegt wurde, kommt es nicht auf die subjektive Einstellung des Behinderten an, sondern allein auf die objektiven Möglichkeiten, eine öffentliche Veranstaltung aussuchen zu können. Eine solche wird unter Beachtung der eigenen Angaben der Klägerin jedenfalls zeitweise im Sommer gegeben sein. In diesem Zusammenhang wird in Wiederholung der Ausführungen im genannten Richterbrief zudem nochmals darauf hingewiesen, dass den übrigen Veranstaltungsteilnehmern bei behinderungsbedingten Auffälligkeiten grundsätzlich ein hohes Maß an Belastungen zuzumuten ist. Selbst wenn behinderungsbedingte Auffälligkeiten einige Veranstaltungsteilnehmer zu einem ungehörigen Verhalten bewegen sollten, darf hieraus gerade nicht auf einen Ausschluss des Behinderten von öffentlichen Veranstaltungen geschlossen werden. Dies liefe den gesetzgeberischen Zweck, Behinderte möglichst weitgehend ins öffentliche Leben zu integrieren, genau entgegen und würde behindertenfeindliches Verhalten unterstützen.
Letztlich überzeugt auch nicht das Argument der Klägerin, ihr sei ein längeres Sitzen auf einen Fleck schmerzbedingt nicht möglich. So kann die Klägerin grundsätzlich auch während öffentlicher Veranstaltungen ihre Körperhaltung im erforderlichen Umfang wechseln.
Weitere Aspekte, die vorliegend eine Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" rechtfertigen könnten, sind nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 16.04.2013
Zuletzt verändert am: 16.04.2013