NZB und PKH-Antrag mit Beschluss vom 28.09.2015 zurückgewiesen/abgelehnt
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.10.2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50.
Der am 00.00.1980 geborene Kläger leidet maßgeblich an einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung. Bis zur achten Klasse besuchte er das Gymnasium, wechselte dann bis zur zehnten Klasse auf eine Privatschule und absolvierte sodann die Oberstufe am Berufskolleg für Hörgeschädigte, wo er das Abitur erwarb. Der Kläger studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften, brach dieses Studium aber ab und studierte bis zuletzt Sportwissenschaften. Er besitzt eine Fußballtrainerlizenz und war bis Oktober 2014 ehrenamtlich als Trainer tätig.
Auf einen ersten Antrag im Jahr 1993 stellte das Versorgungsamt E mit Bescheid vom 09.03.1994 einen GdB von 30 fest. Dem lag die Bewertung einer zentralen Fehlhörigkeit mit einem Einzel-GdB von 30 und einer Allergieneigung mit einem Einzel-GdB von 10 zugrunde. Im Rahmen einer Nachprüfung entstand Streit über den Umfang der Mitwirkungspflichten des Klägers, woraufhin das Versorgungsamt E den früheren Bescheid aufhob und die konkret begehrte Verlängerung der Bescheinigung für das Finanzamt nach §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) versagte. In einem hiergegen gerichteten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Dortmund (S 20 (25) SB 321/98) erstellte die HNO-Ärztin Dr. I ein Sachverständigengutachten und sah aufgrund der auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung eine kognitive Teilleistungsschwäche, die mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Das damals beklagte Land hob daraufhin den angefochtenen Versagungsbescheid auf.
Am 18.01.2001 beantragte der Kläger die rückwirkende Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab dem 01.01.1993. Wegen erneutem Streit über die Mitwirkungspflichten versagte das Versorgungsamt E 2003 nach §§ 60, 66 SGB I die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. In einem anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Dortmund (S 20 SB 348/13) einigten sich die Beteiligten am 27.04.2004 auf die Veranlassung einer Begutachtung im Verwaltungsverfahren und Neubescheidung.
2006 erstellte die Neurologin, Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. C im Auftrag des Versorgungsamtes E ein Gutachten. Sie stellte eine durchschnittliche Intelligenz und unauffällige Wesenszüge fest, wobei das inhaltliche Denken auf das Bestehen einer cerebralen Leistungsminderung fixiert gewesen sei. Eine solche liege aber nicht vor. Sie diagnostizierte eine Entwicklungsstörung mit zentraler Fehlhörigkeit, die ebenso wie der GdB insgesamt mit 30 zu bewerten sei. Das Versorgungsamt E lehnte den Antrag auf Feststellung eines höheren GdB mit Bescheid vom 29.03.2007 ab. Der Kläger legte am 16.04.2007 Widerspruch ein. Sein psychischer Zustand habe sich verschlechtert, weshalb er eine Verhaltenstherapie begonnen habe. Das Versorgungsamt E holte einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. M und eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Chirurgen und Sozialmediziners Dr. M1 ein. Die Bezirksregierung Münster wies den Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 22.08.2007 zurück.
Am 04.09.2007 hat der Kläger beim Sozialgericht Dortmund Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) erhoben. Er hat vorgetragen, die Schwerbehinderung werde belegt durch die Schwierigkeiten in der Schule, die Übernahme der Kosten der Privatschule im Wege der Eingliederungshilfe, die fehlende Vermittelbarkeit einer geeigneten Ausbildungsstelle durch die Arbeitsverwaltung, den Abbruch des Studiums der Wirtschaftswissenschaften und die Länge des Studiums der Sportwissenschaften, die fortdauernde Notwendigkeit einer Therapie sowie die Fortzahlung des Kindergeldes durch das Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV), das von einer Erwerbsunfähigkeit ausgehe. Es liege eine Hirnleistungsschwäche im mittleren Bereich vor, die bereits eine Schwerbehinderung bedeute.
Das Sozialgericht hat Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. M, des praktischen Arztes O und des HNO-Arztes Dr. G sowie ein Sachverständigengutachten nach §§ 103, 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Neurologen und Psychiater Dr. I eingeholt. Dr. M hat einen GdB von 50 wegen ausgeprägter hirnorganischer Teilleistungsstörung befürwortet. Es bestünden u.a ein Tinnitus, Kopf- und Nackenschmerzen, aber auch eine psychophysische Stressreaktion, eine generalisierte Angststörung und ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Der behandelnde Arzt O hat u.a. ein chronisch-funktionelles Wirbelsäulenleiden sowie eine somatoforme Belastungs- und Angststörung angegeben. Dr. G hat ab 2007 einen Tinnitus aurium mit erheblichen psychischen Begleiterscheinungen angegeben. Der GdB liege insgesamt bei mindestens 40. Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen Dr. I hat der Kläger diesem gegenüber einen seit zehn Jahren bestehenden Tinnitus angegeben. Er – der Kläger – habe in der Schulzeit häufig Kopfschmerzen gehabt, vor allem bei Stress. Teilweise könne er sich über längere Strecken gut konzentrieren, brauche dann aber eine entsprechende Erholung. Stimmungsschwankungen träten nur unter Stress auf. 2006 sei es ihm vorübergehend schlechter gegangen, die dann begonnene Therapie habe aber Wirkung gezeigt. Der Sachverständige Dr. I hat einen weitgehend unauffälligen psychopathologischen Befund bei lediglich leichter thematischer Einengung auf die Beschwerdesymptomatik festgestellt. Während der mehrstündigen Exploration habe sich kein Hinweis auf eine Störung der kognitiven Funktionen gefunden. Es lasse sich weder eine Agoraphobie noch ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom objektivieren. Die auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung sei entsprechend einer Niederschrift des Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) entsprechend einer sensorischen Aphasie zu bewerten. Das Ausmaß der Beeinträchtigung des Klägers entspreche einem leichten Hirnschaden und sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, zumal die Probleme nicht durchgängig, sondern nur zeitweise bzw. situationsabhängig bestünden. Eine Vergleichbarkeit mit einem Hirnschaden mit mittelgradigen kognitiven Leistungsstörungen liege eindeutig nicht vor. Es liege außerdem eine Angststörung vor, die 2006 vorübergehend mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten gewesen sei, so dass der GdB insgesamt grundsätzlich 30 und lediglich im Jahr 2006 für etwa 9 Monate 40 betragen habe.
Der Kläger hat u.a. eingewandt, der Sachverständige habe die Kopfschmerzsymptomatik außer Acht gelassen. Er sei außerdem schon immer depressiv gewesen und weiterhin in Behandlung.
Das Land NRW und nach Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung der an dessen Stelle getretene Beklagte haben unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Allgemein- und Sozialmedizinerin Dr. C, des Psychiaters und Sozialmediziners Dr. N sowie der Allgemein- und Sozialmedizinerin Dr. X zunächst die Feststellung eines GdB von 40 ab Januar 2007, später nur noch die Feststellung eines GdB von 40 für April bis Dezember 2006 angeboten. Vor 2006 seien stärkere psychische Probleme nicht belegt.
Das Sozialgericht hat den Beklagten unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten verurteilt, für den Zeitraum April bis Dezember 2006 einen GdB von 40 festzustellen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die vom Sachverständigen Dr. I vorgenommene Bewertung des führenden Leidens ergebe sich unabhängig davon, ob als Maßstab eine Aphasie, ein seelisches Leiden oder Hörstörungen herangezogen würden.
Der Kläger hat gegen das seinem Bevollmächtigten am 03.11.2011 zugestellte Urteil am 23.11.2011 Berufung eingelegt.
Er trägt vor, er benötige einen Schwerbehindertenausweis für Prüfungserleichterungen und zur Abwendung jährlicher Begutachtungen durch die Kindergeldkasse. Die Untersuchung durch den Sachverständigen habe unter Optimalbedingungen stattgefunden und sei insofern nicht aussagekräftig. Es müsse festgestellt werden, ob ein Hirnschaden vorliege. Er sei besonders beruflich betroffen. Bei verfassungskonformer Auslegung sei dies im Schwerbehindertenrecht ebenfalls zu berücksichtigen. Das Arbeitsamt bestätige in regelmäßigen Abständen, dass er erwerbsunfähig sei. Er gehe nur einmal im Jahr in die Disco, im Kino sei er zuletzt 2006 gewesen, wo er kollabiert sei. Er nimmt u.a. Bezug auf einen Befund des "BlickLabor" Kevelaer, wonach auch eine Blickstörung vorliege. Zuletzt sei vom Kopfschmerzzentrum des Universitätsklinikums Essen ein chronischer Spannungskopfschmerz und eine Migräne ohne Aura festgestellt worden. Außerdem bestehe eine erhebliche Beeinträchtigung der Wirbelsäule.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.10.2011 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamtes E vom 29.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 22.08.2007 zu verurteilen, bei ihm ab dem 27.04.2004 einen GdB von mindestens 50 festzustellen, hilfsweise gemäß § 109 SGG ein neurologisches Gutachten von einem noch zu benennenden Arzt einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte nimmt Bezug auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Chirurgin Dr. N und der Ärztin L.
Der Senat hat ein für die Agentur für Arbeit I erstelltes Gutachten des Neurologen, Psychotherapeuten und Sozialmediziners Dr. H, eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. I, einen Befundbericht der Orthopäden Dr. Q et al. sowie Sachverständigengutachten nach §§ 103, 106 SGG des Direktors der HNO-Klinik des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität-C Prof. Dr. E und des Chirurgen und Sozialmediziners Dr. X1 eingeholt. Dr. H hält das Leistungsvermögen für aufgehoben. Der Sachverständige Dr. I führt aus, das Gutachten von Dr. H enthalte keine Befunde, die seine Schlussfolgerung stützten. Er verweist darauf, dass der Kläger studiere, als Trainer tätig sei und üblichen Freizeitaktivitäten nachgehe. Dr. Q et al. gehen von mittelgradigen Beeinträchtigungen in einem Wirbelsäulenabschnitt aus. Der Sachverständige Prof. Dr. E führt aus, ton- und sprachaudiometrisch bestehe Normalhörigkeit. Der Tinnitus sei nicht lärmbedingt. Die mutmaßliche zentrale Hörstörung sei schon abstrakt kaum beweisbar. Im Fall des Klägers komme hinzu, dass dieser mit den Testmethoden seit langem vertraut sei. Es lägen zum Teil divergierende Testergebnisse vor. Es bestehe keine signifikante Intelligenzminderung. Der GdB betrage 30. Der Sachverständige Dr. X1 stellt eine nur geringgradige funktionelle Beeinträchtigung der Halswirbelsäule fest. Ein erst 2013 nachgewiesener Bandscheibenvorfall könne die schon länger geklagten Kopfschmerzen nicht erklären. Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstruktur des Klägers bestünden erste Anzeichen einer chronifizierten Schmerzerkrankung. Der Einzel-GdB für den Rumpf könne unter deren Einbeziehung mit einem schwachen 20er Wert angesetzt werden, wirke sich aber nicht auf den Gesamt-GdB aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens, die Gerichtsakten der Verfahren S 20 (25) SB 321/98 und S 20 SB 348/03 sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht im Wesentlichen abgewiesen. Denn der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nur in dem Umfang im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, als diese durch das Sozialgericht aufgehoben worden sind; im Übrigen sind die Bescheide rechtmäßig.
Mit Auflösung der Landesversorgungsverwaltung und Übertragung der Aufgaben nach den §§ 69, 145 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) auf die Kreise und kreisfreien Städte durch §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 des als Art. 1 des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007 erlassenen Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen ist der Ennepe-Ruhr-Kreis als Funktionsnachfolger des Landes NRW kraft Gesetzes Beklagter geworden (vgl. hierzu grundlegend LSG NRW Urteil vom 12.02.2008 – L 6 SB 101/06, juris und Urteil vom 05.03.2008 – L 10 SB 40/06, juris; BSG Urteil vom 23.04.2009 – B 9 SB 3/08 R, juris Rn 15 ff; allgemein zum Beteiligtenwechsel bei Funktionsnachfolge Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 99 Rn 6a).
Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bezugspunkt für die Frage einer wesentlichen Änderung ist die mit Bescheid vom 09.03.1994 erfolgte Feststellung eines GdB von 30. Eine wesentliche Änderung dergestalt, dass der GdB ab Antragstellung im Jahr 2004 mehr als 30 beträgt, liegt abgesehen von einer vorübergehenden Verschlechterung im Jahr 2006, der das Sozialgericht mit einer entsprechenden Teilstattgabe bereits Rechnung getragen hat, nicht vor.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG (seit 01.07.2011 § 30 Abs. 16 BVG) erlassenen Rechtsverordnung (VersMedV vom 10.12.2008) und insbesondere ihrer Anlage 2 (VMG) entsprechend. Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B, juris Rn 5 m.w.N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R, juris Rn 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R, juris Rn 25; vgl. zum Ganzen auch LSG NRW, Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11, juris Rn 42 ff und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013 – B 9 SB 69/12 B, juris Rn 8 ff). Soweit im vorliegenden Fall für die Zeit bis zum Inkrafttreten der VersMedV die sogenannten "Anhaltspunkte" maßgeblich sind, sind diese im Hinblick auf die hier entscheidenden Tatbestände inhaltsgleich.
Führendes Leiden ist die auditive Verarbeitungsstörung. Nach der Niederschrift des Sachverständigenbeirats vom 28./29.04.1999 sind auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen analog einer sensorischen Aphasie zu bewerten, wobei GdB-mindernd zu berücksichtigen sei, dass bei einer auditiven Störung typischerweise keine Hirnschädigungen vorliegen. Dass die Stellungnahme speziell zu Störungen bei Kindern erging, ist unschädlich. Gemäß Ziffer 26.3 AHP 2004/2008 sowie Teil B Nr. 3.1.2 VMG sind Hirnstörungen mit kognitiven Leistungseinschränkungen bei Leichtgradigkeit mit einem GdB von 30-40 und bei Mittelgradigkeit (z.B. Aphasie mit deutlicher bis sehr ausgeprägter Kommunikationsstörung) mit einem GdB von 50-80 zu bewerten. Eine Mittelgradigkeit, also etwa eine deutliche bis sehr deutliche Kommunikationsstörung, besteht hier nicht. Der Kläger ist nur dann beeinträchtigt, wenn er unter Stress steht bzw. wenn eine laute Geräuschkulisse vorherrscht. Dass dies kein Dauerzustand ist, ergibt sich sowohl aus den Beobachtungen der Sachverständigen selbst als auch aus den Angaben des Klägers gegenüber den Sachverständigen. Der Sachverständige Dr. I gab etwa an, über die mehrstündige Begutachtung hinweg seien keine Hinweise auf Störungen der kognitiven Funktionen zu beobachten gewesen. Der Kläger gab dort an, sich teilweise auch sehr lange konzentrieren zu können. So habe er einen Segelintensivkurs absolviert und die A-Lizenz als Fußballtrainer erworben. Probleme habe er vor allem in großen Hörsälen. Gemäß Teil A Nr. 2f Satz 3 VMG ist Schwankungen im Gesundheitszustand mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen. Dies ist auf die hier nur situativ gegebene Beeinträchtigung zu übertragen. Eine Hirnschädigung ist weder belegt noch bestehen hierfür trotz langjähriger ärztlicher Behandlung und diverser Begutachtungen Hinweise. Ein höherer Einzel-GdB als 30 ist damit nicht möglich. Dies zeigt auch der Vergleich mit Hörgeschädigten, bei denen gemäß Teil B Nr. 5.2.4 VMG ein Einzel-GdB von 40 erst dann erreicht wird, wenn auf einem Ohr eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und auf dem anderen Ohr eine zumindest mittelgradige Schwerhörigkeit besteht. Soweit der Kläger über die reine Wahrnehmungs- bzw. Verarbeitungsstörung weitere Symptome wie Konzentrationsprobleme und zuletzt unter Bezugnahme auf den Befund des "BlickLabor" Kevelaer u.a. eine Blickstörung geltend macht, sind diese Symptome bereits in die Bewertung einbezogen worden, so etwa ausdrücklich vom Sachverständigen Prof. Dr. E.
Eine von der auditiven Verarbeitungsstörung zu trennende relevante psychische Störung liegt nicht vor. Gemäß Teil B Nr. 3.7 VMG ist eine leichtere psychische Störung mit einem GdB von 10-20 und erst eine Erkrankung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem GdB von mindestens 30 zu bewerten. Ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder eine Agoraphobie liegen nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. I nicht vor. Eine relevante depressive Symptomatik konnte von ihm ebenfalls nicht festgestellt werden. Der Kläger berichtete lediglich für einen vorübergehenden Zeitraum in 2006 von einer stärkeren Beeinträchtigung. Unter der Therapie habe sich diese deutlich gebessert. Trotz der vom Klägervertreter betonten seltenen Disco- und Kinobesuche besteht ausweislich der vom Sachverständigen Dr. I wiedergegebenen Schilderungen des Klägers ein intaktes Sozialleben. Eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ergibt sich auch weder aus den wiederholt beschriebenen Somatisierungs- und hypochondrischen Tendenzen, noch wird sie durch die wohl fortdauernde therapeutische Behandlung belegt.
Eine für die GdB-Bildung relevante Migräneerkrankung ist ebenfalls nicht gegeben. Eine echte Migräne bedingt nach Teil B Nr. 2.3 VMG erst ab einer Mittelgradigkeit (häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend) einen GdB von 20-40. Kopfschmerzen sind analog zu bewerten (Wendler/Schillings, 6. Aufl. 2013, S. 113 m.w.N.). Eine solche Mittelgradigkeit lässt sich hier nicht objektivieren. Der Kläger hat gegenüber dem Sachverständigen Dr. I Kopfschmerzen vor allem für die lange zurückliegende Schulzeit angegeben. In den Gutachten von Dr. C und dem Sachverständigen Prof. Dr. E findet sich kein bzw. kaum entsprechender Beschwerdevortrag. Gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. E gab der Kläger lediglich an, während der Untersuchung im Verlauf einer Inhaltsangabe zu einem auditiv gegebenen Text seien zunehmend u.a. Kopfschmerzen aufgetreten. Der Sachverständige Prof. Dr. E führt hierzu aus, diese Beschwerden seien äußerlich nicht erkennbar gewesen. Im Übrigen besteht eine Überschneidung mit der Verarbeitungsstörung bzw. mit der zuletzt vom Sachverständigen Dr. X1 angenommenen beginnenden chronischen Schmerzerkrankung.
Die Gesamtheit der dem Funktionssystem Psyche zuzuordnenden Störungen nach den übereinstimmenden und überzeugenden Beurteilungen sämtlicher Sachverständigen, denen der Senat folgt, sind jedenfalls nicht derart ausgeprägt, dass sie einen GdB von mehr als 30 rechtfertigt. Die zum Teil deutlich nach oben abweichenden Einschätzungen behandelnder Ärzte überzeugen schon mangels entsprechender Begründungen nicht.
Das Wirbelsäulenleiden führt zu keiner Anhebung des GdB. Gemäß Teil B Nr. 18.9 VMG können erst mittelgradige Schäden in einem Wirbelsäulenabschnitt einen GdB von 20 begründen. Der Sachverständige Dr. X1 sieht unter überzeugender Bezugnahme auf die nur leichte Bewegungseinschränkung nur geringe funktionelle Auswirkungen. Die von ihm angenommene beginnende chronische Schmerzerkrankung führt nach seinen Ausführungen nur zu einer moderaten und nicht Gesamt-GdB-relevanten Erhöhung.
Weitere Leiden, die für die GdB-Bildung relevant sein könnten, sind nicht erkennbar.
Ein besonderes berufliches Betroffensein ist gemäß Teil A Nr. 2b VMG und wegen des fehlenden Verweises auf § 30 Abs. 2 BVG in § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX nicht beachtlich (vgl. etwa LSG NRW, Urteil vom 17.08.2006 – L 7 SB 39/05, juris Rn 25), ein Verfassungsverstoß nicht ersichtlich.
Nach Einholung neurologisch-psychiatrischer, hno-ärztlicher und chirurgisch-sozialmedizinischer Gutachten sind keine weiteren Ermittlungsansätze ersichtlich. Die vom Kläger zuletzt in den Vordergrund gerückten Kopfschmerzen waren bereits Gegenstand der genannten Gutachten. Eine gerade seit der neurologisch-psychiatrischen Begutachtung eingetretene wesentliche Verschlimmerung wird vom Kläger nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.
Dem hilfsweisen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG war nicht stattzugeben. Zum einen reicht die bloße Ankündigung der Benennung eines bestimmten Arztes für einen wirksamen Antrag nicht aus (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 109 Rn 4). Zum anderen kann das Gericht den Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist, § 109 Abs. 2 SGG. Das war hier der Fall. Eine Verzögerung wäre deshalb eingetreten, weil der Antrag erst in der mündlichen Verhandlung gestellt worden ist und bei einer Stattgabe eine Vertagung erforderlich gewesen wäre. Eine Verspätung aus grober Nachlässigkeit liegt vor, wenn der Beteiligte den Antrag nicht spätestens dann innerhalb angemessener Frist stellt, wenn er erkennen muss, dass das Gericht keine (weiteren) Erhebungen von Amts wegen durchführt (vgl. Keller, a.a.O., Rn 11). Hier war für den Kläger bereits Ende Oktober 2014 mit Erhalt des Gutachtens des Sachverständigen Dr. X1 klar, dass der Senat keine weitere Sachaufklärung beabsichtigte. Denn der Senat hatte mit der Übersendung des Gutachtens angefragt, ob angesichts des Ergebnisses der Beweisaufnahme die Berufung aufrechterhalten werde. Am 17.12.2014 wurde dem Kläger sodann die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung zugestellt. Selbst in seinem Schriftsatz vom 27.12.2014 erwähnte der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
Erstellt am: 30.10.2015
Zuletzt verändert am: 30.10.2015