Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 30. Juni 1994 abgeändert. Der Beklagte wird unter weiterer Abänderung der Bescheide vom 10. März und 04. Juni 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 1992 verurteilt, den Grad der Behinderung für die Zeit ab 01. März 1996 mit 80 festzustellen. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die dem Kläger entstandenen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu einem Viertel, für das Berufungsverfahren sind keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 70 sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "G") nach den Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG).
Der 1916 geborene Kläger beantragte am 23.10.1991 die Feststellung als Schwerbehinderter sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G". Nach versorgungsärztlicher Auswertung eines Arztberichtes nebst beigefügter Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10.03.1992 bei dem Kläger eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 wegen
1. Verlust des rechten Daumens, Karpaltunnelsyndrom, Zeigefingerverletzung rechts,
2. chronische Speiseröhrenentzündung, Magengeschwürsleiden,
3. chronische Bronchitis, Lungenblähung,
fest. Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" verneinte der Beklagte.
Auf den Widerspruch des Klägers wertete der Beklagte weitere Arztberichte aus und hob mit Abhilfebescheid vom 04.06.1992 den Gesamt-GdB auf 60 an und legte als weitere Störungen zugrunde:
4. Hüft- und Kniegelenksfunktionseinschränkung,
5. Leistenbruchleiden.
Darüber hinaus lehnte der Beklagte weiterhin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" ab und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.1992 zurück.
Daraufhin hat der Kläger am 20.11.1992 bei dem Sozialgericht (SG) Detmold Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, der Beklagte habe den GdB zu niedrig festgestellt und fehlerhaft eine schwere Gehbehinderung nicht anerkannt. Dazu hat sich der Kläger auf verschiedene Arztberichte berufen. Andererseits ist er jedoch nicht bereit gewesen, die Ärzte des Krankenhauses M von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Er hat die vom SG mit seiner Begutachtung beauftragten Ärzte beschuldigt, Angaben verfälscht zu ha ben. Ein Befangenheitsgesuch gegen den Sachverständigen Dr. P ist durch Beschluss des SG und des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW) zurückgewiesen worden.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10.03.1992 sowie des Abhilfebescheides vom 04.06.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.10.1992 zu verurteilen, den Grad der Behinderung ab Oktober 1991 mit mindestens 90 festzustellen sowie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche Gehbehinderung" anzuerkennen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG hat über den Gesundheitszustand des Klägers, das Ausmaß der Behinderung und die Höhe des GdB Beweis erhoben. Zunächst hat der Sachverständige Dr. P ein orthopädisches Gutachten erstattet (09.06.1993). Dabei hat er ein internistisches Gutachten des Sozialmediziners und Internisten Dr. M vom 22.06.1993 mitberücksichtigt. Die Sachverständigen haben, auch nach Kenntnisnahme weiterer, vom Kläger eingereichter Arztberichte über eine Thromboseerkrankung am linken Unterschenkel und über eine Lungenfunktionsprüfung, einen Gesamt-GdB von 70 für zutreffend erachtet.
Das SG hat weitere vom Kläger eingereichte Arztberichte des Lungenfacharztes Dr. T sowie einen Arztbrief des Chirurgen Dr. S über eine vorgesehene Korrektur einer Dupuytren schen Kontraktur berücksichtigt und sodann den Beklagten durch Urteil vom 30.06.1994 verurteilt, bei dem Kläger einen GdB von 70 festzustellen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es ist der Beurteilung der von ihm gehörten Sachverständigen gefolgt. Zu den Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "erhebliche Gehbehinderung" hat es ausgeführt, die Klage sei unzulässig, weil der Kläger mit seiner Klagebegründung lediglich ein Begehren auf Zuerkennung des höheren GdB weiterverfolgt habe.
Gegen das ihm am 05.08.1994 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31.08.1994 bei dem erkennenden Gericht Berufung eingelegt. Er hat darauf hingewiesen, daß er gegen den Kammervorsitzenden des SG Strafantrag wegen Rechtsbeugung gestellt habe. Er wolle sich auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Der Kläger bezeichnet die am Verfahren beteiligten Richter als "jüdische Richter", spricht von "polnischen Sachverständigen" und bezieht sich auf den "Gruß der Deutschen". Der Senat hat dazu bei dem zuständigen Vormundschaftsgericht in M angefragt, ob Zweifel hinsichtlich der Prozeßfähigkeit bestehen. Dazu hat das Vormundschaftsgericht mitgeteilt, daß dort keine Unterlagen über den Kläger vorlägen.
Der Kläger hat zahlreiche weitere Arztunterlagen im Verlaufe des Berufungsverfahrens eingereicht, u.a. einen Bericht des Orthopäden Dr. D vom 14.12.1994, einen Bericht des Radiologen Dr. C vom 02.01.1995, einen Operationsbericht von Dr. S vom 05.01.1995 und einen Bericht des Nervenarztes Dr. W vom 29.08.1996. In dem zuletzt genannten Bericht ist ausgeführt worden, der Kläger habe im März 1996 einen Insult der linken Hirn hälfte erlitten. Zurückgeblieben sei u.a. eine leichte Halbseitensymptomatik rechts.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 30.04.1994 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 10.03.1992 sowie des Abhilfebescheides vom 04.06.1992, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.1992, zu verurteilen, bei ihm mit Wirkung ab 23.10.1991 einen Grad der Behinderung von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen zur Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "erhebliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "G") festzustellen.
Der Beklagte hat unter Abänderung der vorliegenden Bescheide einen Gesamt-GdB von 80 bei Ergänzung der Leidensbezeichnung um "Schlaganfallfolgen mit Halbseitenschwäche rechts, hirnorganisches Psychosyndrom" für die Zeit ab 01.03.1996 anerkannt.
Er hat im übrigen beantragt,
die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Berufung zurückzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, ein GdB von 100 sei angesichts der eingeschränkten Bereitschaft des Klägers zur Mitarbeit bei der Beweiserhebung nicht nachzuweisen. Ebensowenig sei nachzuweisen, daß der Kläger gehindert sei, Gehstrecken von 2000 Meter in etwa 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen.
Der Kläger hat das ihm angebotene Teilanerkenntnis nicht angenommen, sich auf weitere Gesundheitsstörungen (Hodenbruch 1996, Prostatabeschwerden seit 1995) berufen; er ist jedoch nicht bereit, sich durch die vom erkennenden Gericht beauftragten Sachverständigen untersuchen zu lassen.
Nachdem der Kläger seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte, hat der Senat weiter Beweis erhoben. Der behandelnde Arzt G hat mitgeteilt, im Laufe der Zeit seien neue Leiden hinzugetreten. Für Dr. S hat sein Oberarzt Dr. K über eine Kreissägenverletzung der rechten Hand, ein posttraumatisches Karpaltunnelsyndrom rechts, ein schmerzhaftes Narbenneurom am Daumen rechts und über die Kontraktur am rechten Zeigefinger berichtet.
Nachdem der Kläger sich geweigert hatte, die vom Senat benannten Sachverständigen aufzusuchen, haben diese Gutachten nach Aktenlage erstattet. Der Orthopäde Dr. N hat den GdB unter Berücksichtigung eines internistischen Gutachtens von Frau Dr. E mit 70 eingeschätzt. Zum Gehvermögen des Klägers hat er ausgeführt, nach Aktenlage ergäben sich keine wesentlichen Einschränkungen. Er folge den erstinstanzlich eingeholten Gutachten.
Schließlich hat der nervenärztliche Sachverständige Dr. M ebenfalls ein Gutachten nach Aktenlage erstattet. Er hat geäußert, bei dem Kläger liege nach dem Inhalt der Akten eine Persönlichkeitsstörung vor, die Merkmale einer fanatischen Persönlichkeit mit abnormer querulativer Entwicklung aufweise. Allerdings sei es ohne Untersuchung des Klägers nicht möglich, sicher zu entscheiden, ob und inwieweit die bestehenden Auffälligkeiten vom Willen unabhängig seien und inwieweit sie die Lebensführung beeinträchtigten. Die Angabe eines Einzel-GdB für die querulative, abnorme Persönlichkeitsreaktion sei ohne Untersuchung nicht möglich. Unter diesen Umständen könne auch nicht festgestellt werden, ob die Störung willensunabhängig sei und inwieweit sie die Lebensführung des Klägers beeinträchtige.
Zu der Frage, ob bei dem Kläger 1996 ein Schlaganfall eingetreten sei, hat der Senat einen weiteren Bericht des Arztes G nebst Mitteilungen des Nervenarztes Dr. W eingeholt. Dazu hat Dr. M in einer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, die Schlaganfallfolgen seien mit einem GdB von 30 objektivierbar. Des halb könne der GdB insgesamt auf 80 angehoben werden.
Anträge des Klägers, den Vorsitzenden des erkennenden Senates für befangen zu erklären, sind durch Beschlüsse des erkennenden Gerichts vom 07.03.1995 und 22.10.1997 zurückgewiesen worden.
Zur Darstellung des Sach- und Streitstandes, insbesondere hin sichtlich der Beweisergebnisse, nimmt der Senat Bezug auf den In halt der von den Beteiligten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung gewechselten Schriftsätze, der eingeholten Berichte und Gutachten sowie der über den Kläger geführten Schwerbehindertenakten und der Behandlungsakten des Krankenhauses B. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere hat sich der Senat nicht davon überzeugen können, daß der Kläger prozeßunfähig im Sinne von § 71 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 104 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist. Dies bleibt angesichts der Feststellungen des Sachverständigen Dr. M unklar. Denn das Ausmaß der bei dem Kläger offensichtlich vorliegenden psychischen Störungen kann ohne eine nervenärztliche Untersuchung nicht festgestellt werden. Angesichts des Umstandes, daß über den Kläger auch bei dem zuständigen Vormundschaftsgericht keine Unterlagen vorliegen, hat sich der Senat nicht davon überzeugen können, daß sich der Kläger dauernd in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand der krankhaften Störung der Geistestätigkeit befindet.
Die Berufung ist zum Teil begründet. Entsprechend dem am 22.10.1997 abgegebenen Teilanerkenntnis ist der Beklagte durch Anerkenntnisurteil gemäß § 202 SGG i.V.m. § 307 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu verurteilen, bei dem Kläger mit Wirkung ab März 1996 einen GdB von 80 festzustellen.
Die darüber hinausgehende Berufung des Klägers ist jedoch unbegründet. Die Voraussetzungen zur Feststellung eines höheren GdB gemäß §§ 3 und 4 SchwbG sowie einer erheblichen Gehbehinderung im Sinne von §§ 59 und 60 SchwbG lassen sich angesichts der Weigerung des Klägers, sich weiteren medizinischen Untersuchungen zu unter ziehen, nicht feststellen. Nach dem Inhalt der erstinstanzlich, aufgrund von Untersuchungen des Klägers eingeholten Sachverständigengutachten sowie aufgrund der nach Lage der Akten zweitinstanzlich erstatteten Gutachten läßt sich bei dem Kläger ein höherer GdB als 80 nicht beweisen. In Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgaben 1983 und 1996 (AnhP), liegen bei dem Kläger folgende Gesundheitsstörungen vor (Einzel-GdB-Werte in Klammern):
1. Funktionseinschränkungen der rechten Hand (30),
2. chronische Bronchitis mit Teilinsuffizienz (30),
3. arterieller Bluthochdruck mit allgemeiner Gefäßsklerose und Verdacht auf Organbeteiligung des Herzens (30),
4. chronische venöse Insuffizienz der Beine (20),
5. wiederkehrende Speiseröhrenentzündungen mit Magen-Darm-Geschwüren (20),
6. Leistenbruchleiden (20),
7. Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule (20),
8. Schlaganfallfolgen mit Halbseitenschwäche rechts, hirnorganisches Psychosyndrom (30) – ab März 1996 -.
Eine darüberhinausgehende, vom Willen unabhängige Persönlichkeitsstörung ist nicht nachweisbar. Auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. M wird insoweit verwiesen.
Die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingen keinen GdB von mehr als 70 bis Februar 1996 und von mehr als 80 ab März 1996. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist gemäß Nr. 19 (3) AnhP in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Um die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander beurteilen zu können, muß beachtet werden, daß die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander unterschiedlich sein können. Dazu hat bereits der Sachverständige Dr. P ausgeführt, daß trotz der zahlreichen, relativ geringen Einzel-GdB-Werte ein hoher Gesamt-GdB-Wert gerechtfertigt ist, um so dem Gesamtbehinderungszustand des Klägers gerecht zu werden. Dabei ist zu berücksichtigen gewesen, daß die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsstörungen zahlreiche Funktionsbereiche betreffen. Ein höherer Gesamt-GdB als zunächst 70, später 80 kann jedoch angesichts der relativ niedrigen Teil-GdB-Werte nicht bejaht werden. Dem steht insbesondere entgegen, daß sich der Kläger dem Nachweis einer höheren GdB-Bewertung dadurch entzogen hat, daß er sich nicht weiter von den vom Senat beauftragten Ärzten untersuchen lassen will.
Ebensowenig ist angesichts der Weigerung des Klägers, sich nochmals untersuchen zu lassen, die Feststellung möglich, daß er gehindert ist, 2000 Meter innerhalb einer Zeit von etwa 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Dies haben weder Dr. P noch Dr. M bei ihren Untersuchungen erkennen können. Ob die seit März 1996 bestehende Halbseitensymptomatik zu einer derartig massiven Einschränkung des Gehvermögens geführt hat, kann allenfalls vermutet werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit läßt sich jedoch eine derartig weitgehende Beeinträchtigung der Gehfähigkeit nicht feststellen. Dem steht auch der Eindruck entgegen, den der Senat vom Kläger anläßlich der mündlichen Verhandlung gewonnen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Eine teilweise Kostenerstattung kommt nicht in Betracht, da der Kläger mit seinem Vor bringen in weiten Teilen nicht durchgedrungen ist und sein Prozeßerfolg in zweiter Instanz nur nach einer Änderung der ursprünglichen Verhältnisse eingetreten ist, auf die der Beklagte mit einem angemessenen Angebot reagiert hat. Der Senat hat im übrigen davon abgesehen, den Kläger mit Kosten wegen mutwilliger Prozeßführung gemäß § 192 SGG zu belasten, weil nicht auszuschließen ist, daß das Prozeßverhalten des Klägers auf einer krankhaften Störung seiner Geistestätigkeit beruht, wie bereits dargestellt worden ist.
Ein Anlaß, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden. Die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG sind nicht erfüllt.
Erstellt am: 17.08.2003
Zuletzt verändert am: 17.08.2003