I. Der Bescheid der Beklagten vom 17. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 1997 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers vom 2. April 1963 ein Arbeitsunfall ist.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Unfall des Klägers am 2. April 1963 ein Arbeitsunfall ist.
Der 1942 geborene Kläger stürzte im Rahmen seines Grundwehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) am 2. April 1963 von einem Hochstand. Laut einer Bescheinigung des Bezirkskommandos der NVA in Magdeburg vom 15. Februar 1965 erlitt der Kläger den Unfall in Ausübung des Dienstes in der NVA und es handelte sich um einen Zustand nach mehrmaliger Distorsion im linken oberen Sprunggelenk mit Bewegungseinschränkung bezüglich Plantarflexion. Weiter hieß es: Der Körperschaden wurde als Dienstbeschädigung anerkannt und ist entschädigungspflichtig im Sinne der Sozialversicherung.
Am 9. Juni 1967 erlitt der Kläger einen weiteren als Betriebsunfall anerkannten Unfall. Der Kläger erhielt in der DDR bis Ende Juli 1976 eine Unfallrente.
Im Jahr 1973 flüchtete der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland.
Im Juli 1994 wurde der Beklagten von der damaligen LVA Sachsen-Anhalt mitgeteilt, der Kläger habe in der DDR am 9. Juni 1967 einen Arbeitsunfall erlitten und begehre dessen Entschädigung. Die mitgesandten Unterlagen enthielten auch die Bescheinigung über den Unfall vom 2. April 1963. Die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung teilte der Beklagten im Februar 1997 mit, dass der Unfall vom 2. April 1963 nicht nach dem Fremdrentengesetz (FRG) entschädigt werde.
Mit Bescheid vom 17. April 1997 lehnte die Beklagte es ab, den Arbeitsunfall des Klägers vom 2. April 1963 zu entschädigen. Der Kläger habe einen Rentenanspruch gegenüber einem Sonderversorgungssystem gehabt. Damit könne kein Anspruch gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung hergeleitet werden.
Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 1997 zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 12. Juni 1997 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben (Az.: S 3 U 194/97). Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben später zur Begründung vor allem angegeben, der Kläger habe sich schon 1991 an die Sozialversicherung in Magdeburg gewandt.
Nach Durchführung zweier Termine am 2. Mai 2000 und am 23. August 2001 ist mit Beschluss vom 29. August 2001 das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
Am 12. Februar 2010 ist das Verfahren unter dem jetzigen Aktenzeichen fortgeführt worden.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt:
Der Bescheid der Beklagten vom 17. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 1997 wird aufgehoben und es wird festgestellt dass der Unfall des Klägers vom 2. April 1963 ein Arbeitsunfall ist.
Für die Beklagte wird beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie die Niederschriften über die mündlichen Verhandlungen vom 2. Mai 2000, vom 23. August 2001 und vom 17. Mai 2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und sie hat auch in der Sache Erfolg.
Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG), dass sein Unfall vom 2. April 1963 ein Arbeitsunfall ist. Der Bescheid der Beklagten vom 17. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 1997 ist daher aufzuheben, weil er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Der streitgegenständliche Unfall hat sich vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 ereignet. Demnach richtet sich die Beurteilung, ob der Unfall des Klägers vom 2. April 1963 ein versicherter Arbeitsunfall im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung ist, gemäß den §§ 212, 215 SGB VII nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der am 31. Dezember 1996 geltenden Fassung, Art. 36 Satz 1 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG) vom 7. August 1996 (BGBl. I S. 1254), hier vor allem § 1150 RVO. Dabei ist § 215 Abs. 1 SGB VII in der Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung (UVMG) vom 30. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2130) anzuwenden. Diese Fassung trat rückwirkend zum 1. Januar 1994 in Kraft (Art. 13 Abs. 2 UVEG) und gilt auch heute. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage, wie hier, ist das zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltende Recht (klarstellend nochmals BSG, Urteil vom 17. Februar 2009, B 2 U 35/07 R).
Aus § 1150 Abs. 2 RVO in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1606) in Verbindung mit § 215 Abs. 1 SGB VII in der Fassung des UVMG ergibt sich: Wenn ein Unfall vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten ist und nach dem dort geltenden Recht ein Arbeitsunfall der Sozialversicherung war, gilt er als Arbeitsunfall im Sinn der RVO. § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO fingiert also das Vorliegen eines Arbeitsunfalls; sind seine Voraussetzungen erfüllt, erfolgt insbesondere die Prüfung der Voraussetzungen nach den §§ 539 ff. RVO nicht mehr. Diese Fiktion gilt nach § 1150 Abs. 2 Satz 2 RVO in zwei Fällen nicht: Zum einen wenn der Unfall dem zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt wird und nicht nach dem Dritten Buch der RVO zu entschädigen wäre (Nummer 1). In diesem Fall könnte eine Anerkennung als Arbeitsunfall im Übrigen auch nicht allein deswegen abgelehnt werden, weil der Unfallversicherungsträger erst nach 1993 tatsächlich Kenntnis von dem Versicherungsfall erlangt hat. Zusätzlich dürfte es sich nicht um einen Versicherungsfall im Sinn des Dritten Buches der RVO handeln (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, B 2 U 19/08 R). Zum anderen wenn der Unfall mit Wirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 als Arbeitsunfall nach dem FRG anerkannt worden ist, es sei denn der Verletzte hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem 1. Januar 1992 in das Beitrittsgebiet verlegt (Nummer 2). Die Regelung des § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO wiederum ist allerdings nicht auf Arbeitsunfälle aus dem Wehrdienst ehemaliger Wehrpflichtiger der NVA der DDR anzuwenden.
Danach sind die Voraussetzungen für die Annahme eines Arbeitsunfalls im Fall des Klägers alle erfüllt.
Der Unfall ist vor dem 1. Januar 1992, nämlich am 2. April 1963, im Beitrittsgebiet eingetreten.
Der Unfall war nach dem vor 1992 geltenden Recht im Beitrittsgebiet auch ein Arbeitsunfall der Sozialversicherung. Dies ergibt sich aufgrund der Bescheinigung des Bezirkskommandos der NVA in Magdeburg vom 15. Februar 1965. Danach erlitt der Kläger den Unfall in Ausübung des Dienstes in der NVA und der Körperschaden wurde als Dienstbeschädigung anerkannt und ist entschädigungspflichtig im Sinne der Sozialversicherung. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Bescheinigung zu zweifeln. Sie entspricht im Übrigen auch § 220 Abs. 4 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR, wonach auch durch Ausübung des Dienstes bei den bewaffneten Organen erlittene Körper- und Gesundheitsschäden als Arbeitsunfälle gelten. Zudem ist die Bescheinigung als Verwaltungsakt anzusehen, der nach Art. 19 des Einigungsvertrags wirksam bleibt.
Schließlich ist der Arbeitsunfall vom 2. April 1963 – anders offenbar als der spätere Unfall des Klägers vom 9. Juni 1967 – nicht nach dem FRG anerkannt worden und der Kläger hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht vor 1992 (wieder) in das Beitrittsgebiet verlegt. Ob eine Anerkennung nach dem FRG hätte erfolgen können oder müssen, ist ebenfalls unbeachtlich. Denn aus § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 RVO lässt sich nur entnehmen, dass keine Anerkennung erfolgt sein darf. Damit soll ein Nebeneinander von verschiedenen Entschädigungsregimen und letztlich eine mehrfache Entschädigung vermieden werden. Eine solche erfolgt hier aber gerade nicht. Der Unfall vom 2. April 1963 wird auch nicht im Rahmen der Entschädigung des Klägers für die Folgen des Unfalls von 1967 berücksichtigt und der Kläger erhält auch keine Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz.
Auf den Zeitpunkt, zu dem die Beklagte erstmals tatsächlich Kenntnis von dem Arbeitsunfall vom 2. April 1963 erhalten hat, kommt es mithin nicht (mehr) an. Ebenso nicht auf die Anwendbarkeit von § 16 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – was im Übrigen zu verneinen wäre.
Unerheblich ist nach der nun geltenden (und maßgeblichen) Rechtslage ferner, ob der Kläger bereits vor dem 18. Mai 1990 aus dem Beitrittsgebiet in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Zwar lag eine derartige Konstellation der von der Beklagten zitierten Entscheidung des BSG vom 24. Februar 2000, B 2 U 8/99 R, zugrunde. Doch galt bei dieser Entscheidung noch eine andere Rechtslage. § 215 Abs. 1 SGB VII bestimmte damals noch nicht, dass die Fristen des § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO für Arbeitsunfälle von Wehrpflichtigen in der NVA nicht gelten. Jedenfalls mit der im Jahr 2008 durch das UVMG erfolgten Rechtsänderung ist eine Rechtslage geschaffen worden, bei der der Zeitpunkt der Übersiedlung in das Gebiet der "alten" Bundesrepublik unerheblich ist. Dies wird auch im Urteil des BSG vom 17. Februar 2009, B 2 U 35/07 R, klargestellt, worauf der Vorsitzende die Beklagte hingewiesen hat. Die besagte, frühere Rechtsprechung des BSG ist damit überholt.
Daher war wie aus dem Urteilsspruch ersichtlich zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 20.05.2010
Zuletzt verändert am: 20.05.2010