Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.03.2015 wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde vom 10.04.2015 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.03.2015, mit dem ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (hinsichtlich der Dreimonatsfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG) abgelehnt worden ist. Nachdem die Klägerin, rechtsanwaltlich vertreten, ihre am 10.02.2014 beim Sozialgericht Düsseldorf anhängig gemachte Klage trotz mehrfacher Aufforderung (zunächst unter Verweis auf eine Erkrankung des Bevollmächtigten) nicht begründet hatte, forderte das Sozialgericht die Klägerin bzw. deren bevollmächtigten Rechtsanwalt unter dem 29.10.2014 auf, das Verfahren durch Übersendung einer Klagebegründung zu betreiben. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz dieser Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate ab Zustellung dieser Verfügung nicht betrieben werde.
Eine Zustellung an die Kanzleianschrift des Prozessbevollmächtigten scheiterte. Die Postzustellungsurkunde enthielt den Vermerk "Empfänger unbekannt verzogen". Ausweislich eines Telefonvermerks vom 11.11.2014 teilte eine Mitarbeiterin der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten dem Sozialgericht mit, der Prozessbevollmächtigte sei nach C verzogen. Die Zustellung der Betreibensaufforderung erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 15.11.2014 unter der in diesem Telefonat mitgeteilten Adresse durch Niederlegung "in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung". Nachdem die Klägerin sich am 19.02.2015 persönlich beim Sozialgericht gemeldet hatte, wurde ihr mitgeteilt, die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Eine Fortsetzung des Verfahrens komme nicht in Betracht. Die maßgebliche Dreimonatsfrist sei am 15.02.2015 abgelaufen.
Die Klägerin hat sodann beantragt,
ihr für die Versäumung der Einreichung der Klagebegründung Wiedereinsetzung den vorigen Stand zu gewähren.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie habe von der gerichtlichen Verfügung, der Betreibensaufforderung, vom 29.10.2014 keine Kenntnis erlangt. Sie hat zudem eine eidesstattliche Versicherung ihres Prozessbevollmächtigten vorgelegt, wonach dieser an seine bisherige Büroanschrift in E ein Schreiben vom 29.10.2014 nicht erhalten habe und demzufolge keinerlei Kenntnis davon gehabt habe, dass vom Sozialgericht eine Frist zur Klagebegründung gesetzt worden sei.
Mit Beschluss vom 17.03.2015 hat das Sozialgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. Die Klagebegründung sei erst am 19.02.2015 nach Ablauf der Dreimonatsfrist am 15.02.2015, in Gang gesetzt durch Zustellung der Betreibensaufforderung an die dem Gericht bekannt gewordene Berliner Anschrift am 15.11.2014, und damit verspätet eingegangen. Das Gericht könne nicht feststellen, dass die Dreimonatsfrist ohne Verschulden versäumt wurde. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten sei der Klägerin zuzurechnen. Der Bevollmächtigte habe das Gericht weder über eine Mandatsniederlegung, über die Benennung eines Vertreters noch über die Änderung seiner Adresse unterrichtet. Die gerichtliche Fortsetzung des Verfahrens komme nicht in Betracht.
Mit ihrer Beschwerde vom 10.04.2015 gegen den ihr am 20.03.2015 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts hält die Klägerin an ihrem Begehren fest. Ihr ehemaliger Prozessbevollmächtigter habe das gerichtliche Schreiben vom 29.10.2014 weder an seiner Büroanschrift inE noch an seiner Wohnanschrift in C erhalten. Sie hat eine weitere eidesstattliche Versicherung des seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten vom 09.04.2015 vorgelegt, mit der dieser ausführt, er habe das Schreiben vom 29.10.2014 nicht erhalten. Zudem weist er darauf hin, dass er im letzten Jahr an einem Burnout-Syndrom erkrankt gewesen sei, so dass eine Vertretung nicht mehr möglich gewesen sei.
II. Die statthafte (§ 172 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Klägerin ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat den Antrag der Klägerin, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Gemäß § 67 Abs. 1 SGG ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Hier liegt jedoch schon kein Versäumnis einer gesetzlichen Verfahrensfrist vor.
Bei der Frist nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG handelt es sich vielmehr um eine Ausschlussfrist, in die eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht möglich ist (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 12.10.2012 – L 19 AS 1437/12 B, juris, Rn. 17; Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 102 Rn. 12; vgl. auch zu § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO BVerwG, Beschluss vom 25.11.2002 – 8 B 112/02, juris, Rn. 2 m.w.N.).
Zwar soll auch die Versäumung von Ausschlussfristen ausnahmsweise unbeachtlich sein können, wenn ein Fall "höherer Gewalt" vorliegt (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 12.10.2012 – L 19 AS 1437/12 B, juris, Rn. 18 unter Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 25.11.2002 a.a.O.; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 102 Rn. 9b). Jedenfalls sind hier keine Umstände ersichtlich, die einem solchen Fall "höherer Gewalt" gleichkommen.
Einer Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses bedarf es nicht. Das Sozialgericht hat die Wiedereinsetzung im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Soweit lediglich in den Gründen des angefochtenen Beschlusses ausgeführt wird, die Klage sei durch (fiktive) Klagerücknahme erledigt, macht auch dies eine Aufhebung des Beschlusses nicht erforderlich (a.A. LSG Berlin-Brandenburg a.a.O. Rn. 18).
Der Senat kann nach alledem dahinstehen lassen, ob hier die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorliegt (vgl. zu den grundsätzlichen Anforderungen vor allem in formeller Hinsicht BSG, Urteil vom 01.07.2010 – B 13 R 58/09 R = BSGE 106, 254-264, Rn. 49 ff.; vgl. eingehend auch Müller in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 102 Rn. 21 ff.).
Bereits der Antrag auf Wiedereinsetzung ist nämlich als konkludenter Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu werten (vgl. LSG NRW a.a.O. Rn. 27; LSG Berlin-Brandenburg a.a.O. Rn 17). Besteht Streit über die Wirksamkeit der Klagerücknahme, ist das Verfahren fortzuführen und vorrangig zu klären, ob Erledigung eingetreten ist (vgl. nur LSG NRW a.a.O. Rn. 25 m.w.N.). Diese Prüfung obliegt dem Sozialgericht.
Diese Prüfungspflicht erstreckt sich zum einen auf die Frage der ordnungsgemäßen Zustellung der Betreibensaufforderung. Angesichts der Ausführungen der Klägerin im Rahmen der Beschwerdebegründung dürfte insoweit jedoch feststehen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, an dessen vormalige Geschäftsadresse eine Zustellung der Betreibensaufforderung gescheitert war, unter der C Anschrift, unter der die Zustellung am 15.11.2014 erfolgte, jedenfalls seinen Wohnsitz (vgl. § 178 Abs. 1 Nr. 1 Zivilprozessordnung) hatte.
Zum anderen erstreckt sich die Prüfungspflicht auf die Frage des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses für die Klage. Die Klagerücknahmefiktion ist – auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2012 – 1 BvR 2254/11, juris, Rn. 28) – nur in eng begrenzten Ausnahmefällen anzuwenden, in denen Anlass zu der Annahme besteht, das Rechtsschutzinteresse des Klägers/der Klägerin sei entfallen (vgl. etwa Müller a.a.O. Rn. 21). Dabei wird es zum Teil u.a. unter Verweis auf die Regelungssystematik des § 92 SGG als problematisch angesehen, von der Nichtvorlage einer Klagebegründung auf das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses zu schließen (Müller a.a.O. Rn. 22). Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass mangels einer Begründungspflicht für das Klagebegehren eine Betreibensaufforderung nicht – wie hier – schlicht auf eine fehlende Begründung der Klage gerichtet werden kann, sondern vielmehr konkrete Mitwirkungshandlungen zu bezeichnen sind, die zur Klärung des Sachverhalts und zur Ermöglichung einer Sachentscheidung unerlässlich sind (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.09.2011 – L 13 SB 126/11 B PKH, juris, Rn. 9; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 12.04.2001 – 8 B 2/01, Rn. 6, juris: " die Verwaltungsgerichtsordnung eine Klagebegründung nicht zwingend vorschreibt und die Kläger daher der Aufforderung zur Klagebegründung ohne weiteres allein durch den Hinweis auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren hätten Genüge tun können, fehlt es an jedem Anhaltspunkt für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses).
Für eine entsprechend restriktive Handhabung könnte auch der Zweck der Regelung des § 102 Abs. 2 SGG sprechen. Dieser besteht – entsprechend dem Zweck des § 92 Abs. 2 VwGO – nicht darin, den Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl. zu § 92 Abs. 2 VwGO BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2012 – 1 BvR 2254/11, juris, Rn. 35 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 19.05.1993 – 2 BvR 1972/92 = NVwZ 1994, S. 62 (63)).
Soweit ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses naheliegen soll, wenn eine Klagebegründung angekündigt, dann aber nicht vorgelegt wird (so auch Müller a.a.O. Rn. 22; vgl. auch VG Schwerin, Urteil vom 04.05.2015 – 4 A 1269/13, juris), weist der Senat darauf hin, dass hier der Gegenstand des Klagebegehrens den Ausführungen des Klageschriftsatzes nebst Anlagen ohne Weiteres zu entnehmen war (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BVerwG, Beschluss vom 12.04.2001 – 8 B 2/01, Rn. 6, juris). Bereits im Widerspruchsverfahren waren (wenn auch knappe) rechtliche Ausführungen erfolgt (siehe zu diesem Aspekt auch VG Schwerin a.a.O.). Mit der Klageschrift war lediglich "weiterer Sachvortrag" nach erfolgter Akteneinsicht angekündigt worden. Dem Sozialgericht wäre die Bezeichnung konkreter Mitwirkungshandlungen – so für erforderlich gehalten – durchaus möglich gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lässt im Bereich vermögensrechtlicher Streitigkeiten eine fehlende Klagebegründung nur ausnahmsweise auf ein weggefallenes Rechtsschutzinteresse schließen (BVerwG, Beschluss vom 12.04.2001 – 8 B 2/01, Rn. 6, juris).
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht (vgl. LSG NRW a.a.O. Rn. 26 m.w.N).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Erstellt am: 10.09.2015
Zuletzt verändert am: 10.09.2015