Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 03.04.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Gamunex, einem Immunglobulinpräparat, zur Behandlung der bei ihm vorliegenden Multiplen Sklerose (MS) zu versorgen.
Der am 00.00.1968 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Bei ihm liegt ein cervikales Querschnittssyndrom vor; er ist auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Außerdem leidet er an einer schubförmig verlaufenden MS.
Am 21.02.2006 beantragte er die Versorgung mit Immunglobulinen (Gamunex) zur Schubprophylaxe. Zur Begründung führte er aus, er sei bis Februar 2005 mit hochdosierten Immunglobulinen zur Schubprophylaxe behandelt worden. Diese Therapie sei über Jahre sehr erfolgreich gewesen; er sei lediglich bei körperlicher Anstrengung beeinträchtigt, ansonsten habe er von der MS keine zusätzliche Behinderung. Nach der Beendigung der Therapie habe er eine erneute Sehnervenentzündung erlitten und es sei zu befürchten, dass er zusätzlich zu seinem Querschnitt erblinde, wenn die Therapie nicht weitergeführt werde.
Die Antragsgegnerin holte Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), der Ärztin T, vom 05.04.2006 und 20.07.2006 ein. Die Gutachterin führte aus, dass den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zu entnehmen sei, dass verschiedene Präparate für die verlaufsmodifizierende Therapie der Multiplen Sklerose bei schubförmigem Verlauf zugelassen seien. Es handele sich um Betaferon, Avonex, Rebif, Copaxone und Azathioprin. Für besondere Konstellationen sei zusätzlich der Wirkstoff Mitoxantron zugelassen. Hinsichtlich des Einsatzes von Immunglobulinen existiere keine Studie der Phase III, die den Nachweis der wissenschaftlichen Wirksamkeit zur Behandlung von MS belege.
Die Antragsgegnerin lehnte es durch den Bescheid vom 08.08.2006 ab, die Kosten für die Therapie mit intravenösen Immunglobulinen zu übernehmen.
Den dagegen am 14.08.2006 eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin durch den Widerspruchsbescheid vom 27.09.2006 zurück.
Der Antragsteller hat am 29.11.2006 vor dem Sozialgericht Münster beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm eine Immunglobulintherapie nach jeweiliger ärztlicher Verordnung bis zur Entscheidung der Kammer über das Hauptsacheverfahren als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.
Zur Begründung hat er vorgebracht: Er sei bis Februar 2005 mit hochdosierten Immunglobulinen zur Schubprophylaxe behandelt worden; die Kosten habe er mit Hilfe seiner Eltern selbst getragen. Seiner Ansicht nach seien die Voraussetzungen der Rechtsprechung des BSG für eine Anwendung von intravenösen Immunglobulinen außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs, nämlich zur Behandlung der bei ihm vorliegenden MS, gegeben. Das Paul-Ehrlich-Institut habe in einem Kommentar vom 20.10.2005 darauf verwiesen, dass neue Daten zur Wirksamkeit von IVIG bei schubförmiger MS veröffentlicht worden seien. Unter Berücksichtigung von zwei weiteren Studien sei das Paul-Ehrlich-Institut zu dem Ergebnis gelangt, dass zwar für die Erteilung einer Zulassung für die Indikation schubförmige MS andere Voraussetzungen vorliegen müssten und diese nicht zu bejahen seien. Da im vorliegenden Fall jedoch nicht die Zulassungsvoraussetzungen geprüft werden müssten, sondern lediglich die Frage, ob zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorliegen, sei dies zu bejahen.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch Beschluss vom 03.04.2007 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Anwendung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vorlägen. Es fehle an einer kontrollierten, adäquat durchgeführten Phase III-Studie für das jeweilige Produkt. Es lägen die Voraussetzungen zur Erteilung einer arzneimittelrechtlichen Zulassung für die Indikation schubförmige MS für ein Immunglobulinpräparat nicht vor.
Gegen den ihm am 05.04.2007 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 03.05.2007 Beschwerde eingelegt, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 06.06.2007). Zur Begründung bringt der Antragsteller vor: Die Voraussetzungen für einen Off-label-use entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184, 191 ff) lägen in seinem Fall vor. Er leide an einer schwerwiegenden Erkrankung i.S.d. oben genannten Rechtsprechung des BSG. Eine andere Behandlungsmöglichkeit sei nicht gegeben, weil die für die verlaufsmodifizierende Therapie der Multiplen Sklerose zugelassenen Medikamente Interferone, Copaxone, Azathioprin, Mitoxantron in seinem Fall nicht eingesetzt werden könnten wegen gravierender Nebenwirkungen. Es komme nicht darauf an, dass eine Phase III-Studie für die Anwendung von IVIG bei Multipler Sklerose nicht vorliege; entscheidend sei allein, dass von einem entsprechenden Konsens in Fachkreisen ausgegangen werden könne.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 03.04.2007 zu ändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens in 1. Instanz nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Gamunex zu versorgen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
Der Erlass der einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs – eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird – und ein Anordnungsgrund – die Unzumutbarkeit bei Abwägung aller betroffenen Interessen, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten – voraus (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar, SGG, 8. Aufl., § 86b Rdn. 27 ff. m.w.N.). Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers auf Versorgung mit dem Arzneimittel Gamunex zur Behandlung der bei ihm vorliegenden Multiplen Sklerose besteht nicht. Der Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit Arzneimitteln bemisst sich grundsätzlich nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 31 SGB V. Nach der Rechtsprechung des BSG besteht dieser Anspruch auf Versorgung mit Fertigarzneimitteln – wie hier Gamunex – nur dann, wenn das betreffende Arzneimittel eine arzneimittelrechtliche Zulassung gerade für das Indikationsgebiet besitzt, in dem es auch eingesetzt werden soll (vgl. Urteil vom 26.09.2006, Az.: B 1 KR 27/05 R m.w.N.). Gamunex ist für die Indikation Multiple Sklerose (MS) – dem Leiden des Antragstellers – nicht zugelassen. Allerdings kommt ausnahmsweise auch eine Anwendung eines Fertigarzneimittels außerhalb des Bereichs seiner Zulassung in Be-tracht (vgl. dazu BSG Urteil vom 19.03.2002 a.a.O.), wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Im vorliegenden Fall ist zwar die erste Voraussetzung – unstreitig – zu bejahen. Indes ist bereits die zweite Voraussetzung nicht gegeben, denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass für die Behandlung des Leidens des Antragstellers keine andere Therapie verfügbar ist. Der Antragsteller hat eingeräumt, dass für die Behandlung der bei ihm vorliegenden Art der MS Interferone, das Arzneimittel Copaxone, Imurek und Ralenova zugelassen sind. Auch wenn man der Argumentation des Antragstellers folgt, dass Interferone bei ihm wegen der grippeähnlichen Nebenwirkungen nicht angewendet werden könnten, so verbleiben doch die weiteren zugelassenen Arzneimittel Copaxone, Imurek und Ralenova. Soweit sich der Antragsteller auf die insoweit auftretenden Nebenwirkungen bezieht, vermag dies die Anwendung dieser Arzneimittel nicht auszuschließen. Entscheidend ist, dass der Antragsteller sich zur Stützung seiner Ansicht, diese Arzneimittel könnten in seinem Fall nicht angewandt werden, lediglich auf die in den Beipackzetteln beschriebenen Nebenwirkungen bezieht. Offensichtlich ist aber in seinem Fall eine eingehende ärztliche Prüfung des Einsatzes dieser Arzneimittel nicht erfolgt. Es ist deshalb ungewiss, ob mit den im Beipackzettel allgemein beschriebenen Nebenwirkungen in seinem Falle überhaupt tatsächlich zu rechnen ist und ob diese einen Wirkungsgrad erreichen, der die Anwendung ausschließt. Dem Arztbrief des Prof. Dr. D G, N, ist lediglich zu entnehmen, dass er meint, die seiner Ansicht nach erfolgreiche Therapie mit Immunglobulinen dürfe nicht abgeändert werden. Seine Auffassung, dass eine andere Therapieoption als die bisherige nicht in Frage komme, hat dieser Arzt nicht näher belegt.
Darüber hinaus ist auch die dritte Voraussetzung für einen Off-label-use nach der Rechtsprechung des BSG nicht erfüllt: Aufgrund der Datenlage besteht keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Hinreichende Erfolgsaussichten für einen Behandlungserfolg sind zu bejahen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (grundlegend BSG Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.; fortführend BSG Urteil vom 26.09.2006 Az.: B 1 KR 14/06 R m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt: Die erste Alternative (a) scheidet aus, da eine Erweiterung der Zulassung von Gamunex für die Indikation MS offensichtlich bisher nicht beantragt ist. Die zweite Alternative (b) setzt ebenso wie die erste voraus, dass das betreffende Arzneimittel nach dem gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse ausreichend geprüft und die therapeutische Wirksamkeit gegeben ist. Die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, ist damit während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrundeliegt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht. Für einen Schutz der Patienten ist es gleichgültig, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006 a.a.O.). Deshalb ist es grundsätzlich erforderlich, dass die Phasen I bis III, die im Rahmen einer Zulassung eines Arzneimittels zu durchlaufen sind (vgl. dazu BSG a.a.O.) auch im Rahmen einer zulassungsüberschreitenden Anwendung bejaht werden können. Die Phase III-Studie, die dem eigentlichen Nachweis der Unbedenklichkeit und therapeutischen Wirksamkeit des neuen Arzneimittels dient, erfordert Versuche an einer großen Anzahl von Patienten in der Regel mehr als 200, die Erprobung der fraglichen Substanz in einem Verum- und einem Kontroll-kollektiv (Vergleichsgruppen mit und ohne Therapie mit der Testsubstanz) sowie eine Verteilung der Patienten auf diese Gruppen nach dem Zufallsprinzip (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.). An der danach erforderlichen Zulassungsreife von Gamunex für die MS-Therapie fehlt es. Eine Studie der Phase III liegt (unstreitig) nicht vor (vgl. dazu auch Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts zur "Therapie der schubförmigen MS mit intra-venösen Immunglobulinen" vom 01.07.2007, http://www.pei.de/cln 048/nn 154580/DE/ infos/fachkreise/am-infos-ablage/infos/2005-10-21-ms-ig.html? nnn=true (/a)).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 06.12.2005 (Az.: 1 BvR 347/98 SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) dargelegten Grundsätze zum Umfang der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Danach erfordern die Grundrechte des Versicherten aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine verfassungskonforme Auslegung des Leistungsrechts der GKV, wenn Versicherte an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leiden, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Es kann offen bleiben, ob bei dem Antragsteller hier eine derartig schwerwiegende Erkrankung i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt (vgl. dazu auch BSG, Beschluss vom 14.05.2007 B 1 KR 16/07 B). Jedenfalls aber liegt die weitere Voraussetzung, wonach eine übliche Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheiden muss, nicht vor. Wie dargelegt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass im Falle des Antragstellers die Behandlung mit den Arzneimitteln Copaxone, Imurek und Revalon ausscheidet.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 18.07.2007
Zuletzt verändert am: 18.07.2007