Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 24.06.2001 wird zurückgewiesen. Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten eines behindertengerechten Umbaus eines Pkw.
Die Mutter der am 00.00.0000 geborenen und bei der beklagten Krankenkasse familienversicherten Beigeladenen, die an einer ausgeprägten Tetraspastik leidet und selbständig weder gehen noch stehen kann, beantragte im Februar 1999 bei dem klagenden Sozialhilfeträger die Übernahme der Kosten für einen behindertengerechten Umbau ihres Pkw s zwecks Fahrten der Beigeladenen zur Schule und zu Therapiezwecken.
Nachdem die Beklagte die entsprechende Kostenübernahme formlos abgelehnt hatte, ohne den fristgerechten Widerspruch der Beigeladenen zu bescheiden, übernahm der Kläger die Kosten für den behindertengerechten Umbau in Höhe von 19.720,- DM und beantragte dessen Erstattung bei der Beklagten im September 1999.
Am 05.11.1999 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage auf Erstattung des Betrages in Höhe von 19.720,-DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27.09.1999 erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse grundsätzlich von einer Leistungspflicht der Krankenkassen ausgegangen werden, wenn der Hilfeempfänger ein behindertes Kind sei und lediglich eine Mitfahrgelegenheit im Kfz seiner Eltern anstrebe. Hierfür spreche, dass die eigenständige Benutzung eines Pkw zwar nicht per se zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehöre, sie stehe aber einem behinderten Kind zu, um mit seiner Familie an deren alltäglichen Aktivitäten teilnehmen zu können. Da behinderten jungen Menschen ohnehin nur begrenzte Möglichkeiten zum Aufbau sozialer Kontakte zur Verfügung stünden, sei es von besonderer Wichtigkeit, wenigstens am sozialen Leben seiner engen Angehörigen teilhaben zu dürfen. Es könne daher nicht ausreichen, dem Behinderten den gewöhnlichen, fußläufigen Bewegungsradius zu eröffnen, der sich beispielsweise durch einen Rollstuhl erreichen lasse. Die Verstärkung einer sozialen Isolation könne daher nur vermieden werden, wenn der Behinderte wenigstens seine Eltern auf deren alltäglichen Aktivitäten begleiten könne. Dies treffe auch auf die Beigeladene zu.
Dem gegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, da die behindertengerechte Ausstattung eines Pkw s für den selbstfahrenden Behinderten nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zähle, könne für den Mitfahrer nichts anderes gelten, weil dessen Behinderung in der Regel durch andere Hilfsmittel ausgeglichen werde und der Besitz des Kfz nur einem schnelleren und bequemeren Fortbewegen diene.
Das SG hat die Mutter der Beigeladenen angehört; wegen deren Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift vom 09.01.2001 Bezug genommen. Das SG hat des weiteren Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. G und C eingeholt. Danach ist die Beigeladene u.a. allein in der Lage, mit einem Elektro-Rollstuhl sicher außerhalb des Hauses zu fahren. Im Straßenverkehr sei wegen der mangelnden Erfahrung noch weitergehende Begleitung erforderlich, wobei eine entscheidende Besserung in den nächsten Jahren zu erwarten sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berichte vom 23.01. und 26.03.2001 verwiesen.
Mit Urteil vom 24.07.2001 hat das SG die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das ihr am 30.08.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13.09.2001 Berufung eingelegt. Sie vertritt die Ansicht, dass der unmittelbare Ausgleich der Behinderung durch die Versorgung der Beigeladenen mit einem Elektrorollstuhl zu ihren – der Beklagten – Lasten hinreichend erfolgt sei. Für den mittelbaren Ausgleich der Behinderung liege die Kostenträgerschaft aber beim Kläger.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Köln vom 24.07.2001 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Beigeladene benötige den umgerüsteten Pkw, um ihre gleichaltrigen Freunde und Freundinnen, die sämtlich außerhalb der Wohngemeinde der Beigeladenen wohnten, aufzusuchen und um an anderen Freizeitmöglichkeiten teilzunehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Klägers und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in Abwesenheit der Beigeladenen verhandeln und entscheiden, da diese mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, die streitigen Kosten für den behindertengerechten Umbau des Pkw der Mutter der Beigeladenen zu erstatten, weil dem Kläger ein entsprechender Anspruch nach § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zusteht.
Nach dieser Norm ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist gemäß § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Beigeladene hatte infolge ihrer Familienversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung – gegen die Beklagte Anspruch auf Versorgung mit den erforderlichen Hilfsmitteln (§ 33 Abs. 1 SGB V). Der daneben bestehende Anspruch der Beigeladenen gegen den Kläger auf Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ist nach § 2 Abs. 1 BSHG subsidiär, so dass der Kläger als nachrangiger Träger Sozialleistungen i.S.d. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X erbracht hat (sog. Systemsubsidiarität, vgl. BSG, Urt. vom 23.02.1999 – B 1 KR 14/97 R -).
Der Anspruch des Klägers ist auch nicht infolge der Ablehnungsentscheidung der Beklagten gegenüber der Beigeladenen ausgeschlossen, weil diese Entscheidung bisher nicht bestandskräftig geworden ist (vgl. BSG SozR 3-1300 § 104 Nr. 15).
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. SGB V, der hier allein als Anspruchsgrundlage in Betracht zu ziehen ist, haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Da der behindertengerechte Umbau eines Pkw für Gesunde nicht in Betracht kommt und § 34 Abs. 4 SGB V die Versorgung Behinderter insoweit nicht ausschließt, liegen letztere Ausschlussgründe nicht vor.
Die Umrüstung des Pkw ist auch erforderlich, um die Behinderung der Beigeladenen auszugleichen. Entgegen der Ansicht der Beklagten fallen auch solche Hilfsmittel in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, die nicht unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktionen gerichtet sind, sondern nur mittelbar organfunktionsersetzende Wirkung haben (vgl. BSG SozR 3-2500 § 32 S. 191 m.w.N.). Voraussetzung ist insoweit allerdings, dass sie die Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beheben oder mildern und so ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen (BSG a.a.O.). Zu diesen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 S. 174 f).
Im Rahmen der Bewegungsfreiheit reicht dieses Grundbedürfnis allerdings regelmäßig nur so weit, wie ein Gesunder Fußwege im Alltag üblicherweise zurücklegt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 S. 192; Nr. 29 S. 174).
Eine Ausnahme gilt jedoch für jugendliche Versicherte, die das Hilfsmittel umfassend zur Integration in den Kreis der etwa gleichaltrigen Kinder und Jugendlichen benötigen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 158; jetzt bestätigt durch Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R – zitiert nach Pressemitteilung Nr. 38/02). Ob angesichts der heutigen Verhältnisse die Möglichkeit des Mitfahrens im elterlichen Auto für die Entwicklung und gesellschaftliche Integration eines geistig normal entwickelten Kindes als unverzichtbar anzusehen ist, kann hier dahinstehen (in diese Richtung der 8. Senat des BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 3; einschränkend, aber im Ergebnis offen gelassen vom 3. Senat des BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 S. 175; generell die Hilfsmitteleigenschaft verneinend, aber ohne auf die Besonderheiten bei Jugendlichen und Kindern einzugehen, jetzt der 3. Senat des BSG, Urt. vom 11.04.2002 – B 3 P 10/01 R -). Jedenfalls ist nach den individuellen Verhältnissen der Beigeladenen, auf welche abzustellen ist (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 158), der durch die Umrüstung des Pkw erweiterte "Bewegungsradius" unverzichtbar, um den Kontakt der Beigeladenen zu gleichaltrigen Kindern und Mitschülern/-innen in ausreichendem Maße sicherzustellen.
Dabei sieht es der Senat nach den glaubhaften Angaben der Mutter der Beigeladenen, die auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden sind, als erwiesen an, dass zwar der Schulbesuch der Beigeladenen ohne die streitige Versorgung aufgrund des vorhandenen Elektrorollstuhls und der Verfügbarkeit eines Schulbusses möglich ist, angesichts der Entfernung ihres Wohnorts von der Schule – ca. 20 km – und dessen ländlicher Lage die Beigeladene aber für den Kontakt zu ihren gleichaltrigen Freunden und Freundinnen, die wiederum in einem weiten Umkreis zum Wohnort der Beigeladenen verstreut wohnen, auf die Benutzung des Pkw angewiesen ist. Die Möglichkeit an der "üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können", was zu den Grundbedürfnissen Jugendlicher zählt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 159), setzt bei der Beigeladenen die jederzeitige Verfügbarkeit eines behindertengerecht umgebauten Pkw s voraus. Ohne diesen ist die Beigeladene auf den Besuch durch andere Kinder angewiesen. Es kann jedoch als allgemein anerkannte Tatsache gelten, dass die Bereitschaft zu solchen Besuchen ohne die ausreichende Möglichkeit von Gegenbesuchen stark eingeschränkt ist. Um das Erfordernis der Integration der Beigeladenen in den Kreis ihrer gleichaltrigen Spielkameraden/-innen (vgl. dazu BSG a.a.O.) ernsthaft zu fördern, ist der Einsatz des Pkw daher unverzichtbar. Die der Beigeladenen zur Verfügung stehenden acht Freifahrten im Monat mit einem Behindertenfahrzeug können diese Aufgabe nicht erfüllen, weil diese Fahrten nicht spontan in Anspruch genommen werden können, auf bestimmte Gebiete beschränkt sind und für andere notwendige Fahrten benutzt werden müssen. Bei diesen Verhältnissen ist die Benutzbarkeit des Pkw s ihrer Mutter für die Beigeladene unverzichtbare Voraussetzung ihrer sozialen Entwicklung.
Nachdem sich die Beteiligten über den Zinsanspruch des Klägers vergleichsweise geeinigt haben und die zu erstattende Hauptforderung selbst der Höhe nach nicht im Streit steht, war die Berufung mit der auf § 193 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 18.08.2003
Zuletzt verändert am: 18.08.2003