Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.07.1997 abgeändert. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 17.05.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.1995 verurteilt, dem Kläger Pflegegeld nach Stufe I ab 01.08.1998 zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten ab 01.04.1995 Pflegegeld nach der Pflegestufe I verlangen kann.
Der 1931 geborene Kläger leidet unter Asthma bronchiale, einer chronisch-obstruktiven Bronchitis und einem geringen Sehvermögen beider Augen. Er lebt mit seiner Ehefrau in einem Einfamilienhaus.
Im Januar 1995 beantragte er die Gewährung von Pflegegeld aus der Pflegeversicherung. Die Beklagte veranlaßte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein. In dem Gutachten vom 23.03.1995 kam der Gutachter Dr. O … zu dem Ergebnis, Hilfebedarf bestehe beim mehrmaligen Duschen in der Woche (70 Minuten), beim Kämmen/Rasieren (5 Minuten), bei der mundgerechten Nahrungszubereitung (15 Minuten), beim An- und Auskleiden (Ordnen der Kleider – 10 Minuten -) sowie beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (ohne Zeitangabe). Zusätzlich bestehe Hilfebedarf in allen Bereichen der hauswirtschaftlichen Versorgung. – Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17.05.1995 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch begründete der Kläger damit, daß er auch unbedingt Hilfe bei der Nahrungsaufnahme, beim Rasieren, beim Ankleiden sowie bei der Körperpflege benötige. Der Widerspruchsausschuß der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.1995 zurück.
Der Kläger hat am 04.07.1995 vor dem Sozialgericht Köln Klage erhoben und insbesondere sein schlechtes Sehvermögen hervorgehoben.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.05.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.06.1995 zu verurteilen, ihm ab 01.04.1995 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Augenärztin Dr. W … vom 29.09.1995, des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. D … vom 01.10.1995 und des Lungenfacharztes Dr. G … vom 11.10.1995 beigezogen. Außerdem hat es Beweis erhoben durch Einholung von Sachverständigengutachten des Augenarztes Dr. R … vom 02.02.1997 und des Arztes für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Prof. Dr. O … vom 21.07.1996 und 26.03.1997. Auf den Inhalt der vorgenannten medizinischen Unterlagen wird Bezug genommen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15.07.1997 abgewiesen, und zwar u.a. mit folgender Begründung: Der Kläger erfülle die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht. Dies ergebe sich aus den eingeholten Befundberichten und den Sachverständigengutachten. Insbesondere sei das Sehvermögen des Klägers ausreichend und löse keine Hilflosigkeit aus. Von seiten der Augen bestehe nur ein Hilfebedarf von wenigen Minuten täglich.
Der Kläger hat gegen das ihm am 29.09.1997 zugestellte Urteil am 27.10.1997 Berufung eingelegt und vorgetragen: Er benötige bei der Grundpflege täglich eine Hilfe von 134 Minuten. Diese sei wie folgt aufzuschlüsseln:
– Fußpflege 30 Minuten/Woche 4 Minuten
– Duschen 15 Minuten
– Rasieren, Kämmen 10 Minuten
– Mundgerechte Nahrungszubereitung 3 x 15 Minuten 45 Minuten
– Hilfe beim Ankleiden 15 Minuten
– Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (Spaziergänge) 30 Minuten
– Bereitstellen und Überprüfen der Medikamente 20 Minuten
Hinzu kämen 80 Minuten Hilfe bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen. Es sei zu berücksichtigen, daß er besonders durch die Sehbehinderung eingeschränkt werde. In dem von ihm bewohnten Haus befänden sich die Schlafräume und die Toilette im 1. Obergeschoß. Im Erdgeschoß sei das Wohnzimmer, die Küche und die Dusche. Es sei drei- bis viermal pro Tag im Durchschnitt erforderlich, daß seine Frau ihm die Treppe zum Schlafzimmer bzw. zur Toilette hochbegleite. Er sei bei mehreren Ärzten in Behandlung. Seinen Hausarzt Dr. K … suche er einmal monatlich auf. Dessen Praxis in der Fußgängerzone in Siegburg könne er nur zu Fuß mit Hilfe und in Begleitung seiner Ehefrau erreichen. Für eine Entfernung von etwa 800 m benötige er etwa eine halbe Stunde. Daneben sei er noch bei dem Lungenfacharzt Dr. G … in Behandlung. Zu dessen Praxis werde er durch seine Frau mit dem Auto gebracht. Die Fahrt- und Transportzeit betrage etwa 10 Minuten. Er sei dort etwa einmal vierteljährlich in Behandlung. Die Ehefrau des Klägers hat im Termin zur mündlichen Verhandlung erläuternd erklärt, sie benötige etwa 1 Minute, wenn sie ihren Ehemann die Treppe hochbringe. Die Treppe habe 15 Stufen. Manchmal gehe sie vor ihm, sonst auch hinter ihm. In einem Durchgang schaffe er die Treppe nicht. Es würde Unterbrechungen gemacht. Die Treppe sei auch lang und steil sowie unangenehm zu begehen. Bei den Ärzten müßten sie und ihr Ehemann anläßlich der Besuche vielfach warten. Es handele sich um gut gehende Praxen. Manchmal sei die Wartezeit 1 Stunde, manchmal auch 2 Stunden, obwohl sie sich vorher angemeldet hätten. Ihr Ehemann dusche drei- bis viermal pro Woche. Sie trage ihm dann die Kleider nach unten und begleite ihn. Sie helfe ihm beim Auskleiden und später wieder beim Ankleiden. Sie sei ihm auch behilflich, daß er in die Dusche hineinkomme und nicht ausrutsche. Sie stelle ihm dann die richtige Wassertemperatur ein. Es sei erforderlich, daß sie mit ihm unter die Dusche gehe. Er brauche dann etwa 10 bis 12 Minuten für die Dusche und die daneben noch erforderlichen Tätigkeiten. Ihr Ehemann benötige nicht nur drei Mahlzeiten täglich. Aufgrund seiner Magenerkrankung müsse er öfter kleinere Mahlzeiten zu sich nehmen. Im Grunde genommen sei es so, daß er dauernd esse. Er esse dann beispielsweise Reis oder ein Brot, das sie ihm zerkleinere. Hauptsächlich esse er zu seinen kleineren Zwischenmahlzeiten Äpfel, die sie ihm schälen und kleinschneiden müsse. Zu erwähnen sei noch, daß sie ihren Ehemann auch etwa alle 14 Tage zur Apotheke begleite. Ihr Mann benötige einen Spray je nach Witterungslage. Außerdem brauche er Medikamente für den Magen, für sein Hämorrhoidenleiden und für sein Prostataleiden. Die Apotheke befinde sich in der Nähe der Arztpraxis, wenn das Medikament nicht vorhanden sei, müßten sie nochmal dorthin gehen.
Der Kläger hat seinen Leistungsantrag eingeschränkt und beantragt jetzt, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.07.1997 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.05.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.1995 zu verurteilen, ihm ab 01.08.1998 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers gem. § 109 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines augenärztlichen Gutachten des Privatdozenten Dr. B … vom …1998. Dieser hat darin u.a. ausgeführt: Die Grunderkrankung bestehe in einer Vernarbung der zentralen Netzhaut. Der Kläger sei als blind zu bezeichnen. Im Vergleich zum augenärztlichen Vorgutachten sei es zu einer weiteren Verschlechterung gekommen. Es bestehe folgender Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege: Beim Kämmen/Rasieren 5 bis 10 Minuten, bei der mundgerechten Nahrungszubereitung dreimal täglich jeweils 10 bis 15 Minuten, beim An-/Auskleiden (Bereitstellen der Kleidung) 5 Minuten, beim Treppensteigen und Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (jeweils ohne Zeitangaben).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der SchwbG-Akten des Versorgungsamtes Köln (Gz.: 28048331), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Das Sozialge richt hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 17.05.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.1995 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Dem Kläger steht nämlich Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 01.08.1998 zu.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer voraussichtlich für mindestens 6 Monate in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Nach Abs. 3 der Vorschrift besteht die Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtung im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtung. Nach Abs. 4 sind gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Abs. 1
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen oder Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen,Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen derWäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Nach Nr. 15 Abs. 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XI pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 einer von drei gesetzlich näher umschriebenen Pflegestufen zuzuordnen. Voraussetzung für die Zuordnung zur niedrigsten Stufe I (erheblich Pflegebedürftige) ist, daß die Person bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der haus wirtschaftlichen Versorgung benötigt (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI). Nach § 15 Abs. 3 SGB XI muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (Nr. 1).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Vorschriften steht dem Kläger ein Anspruch auf Pflegegeld nach der Stufe I ab 01.08.1998 zu, weil der Senat seitdem einen Pflegebedarf von 47 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege und einen Hilfebedarf von täglich mehr als 60 Minuten im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung feststellt. Der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege setzt sich im einzelnen wie folgt zusammen:
– Kämmen/Rasieren (vgl. Gutachten PD Dr. Böker) 10 Minuten
– Mundgerechte Nahrungszubereitung: 3 x 3 = 9 Minuten (Haupt-mahlzeiten) zuzüglich 2 x 1 Minuten wegen der aufgrund der Magenerkrankung zusätzlichen Zwischenmahlzeiten, bei denen die Ehefrau dem Kläger Brot zerkleinert oder einen Apfel schält und kleinschneidet; der von Dr. Böker gemachte Zeitansatz von 3 x 10 – 15 Minuten erscheint zu hoch, da nur die der Nahrungsaufnahme unmittelbar vorausgehende Handlung zu verstehen ist und sonstige Vorbereitungshandlungen nicht berücksichtigungsfähig sind. 11 Minuten
– An-/Auskleiden (Bereitstellen der Kleidung) 5 Minuten
– Treppensteigen; diesbezügliche Hilfe durch die Ehefrau, um durchschnittlich drei- bis viermal täglich das im 1. Obergeschoß liegende Schlafzimmer bzw. die Toilette zu erreichen, so daß täglich die Treppen vom Kläger sechs- bis achtmal, also durchschnittlich siebenmal mit Hilfe und Unterbrechungen begangen werden müssen; daher ergibt sich ein Zeitaufwand von(zumindest) 7 x 1 Minute; hinzu kommen das Treppensteigen morgens vom Schlafzimmer zu dem in dem Erdgeschoß liegenden Wohnzimmer, der Küche und der Dusche sowie das abendliche Treppensteigen hinauf ins Schlafzimmer. Hieraus resultiert ein weiterer Hilfebedarf in diesem Bereich von 2 x 1 Minute 9 Minuten
– Duschen 4 x 10 bis 12 Minuten, das sind durchschnittlich 11 Minuten, je Woche; zu dieser Feststellung gelangt der Senat aufgrund der glaubhaften Erklärung der Ehefrau des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung; die – obwohl zwischenzeitlich eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers eingetreten ist – in der Darstellung des Hilfebedarfs sogar noch erheblich unter dem von dem MDK-Gutachter angenommenen Hilfebedarf liegt; die Verneinung eines Hilfebedarfs bei dieser Verrichtung in den gerichtlichen Sachverständigengutachten überzeugt dagegen nicht, zumal die Sachverständigen ihre Auffassung auch nicht nachvollziehbar begründet haben 7 Minuten
– Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung: bei dieser Verrichtung ist die Hilfe der Ehefrau des Klägers bei den Arztbesuchen zu berücksichtigen. Für die Arztbesuche bei dem Hausarzt Dr. K … sind Wegezeiten von 2 x 30 Minuten sowie die zwangsläufig anfallenden Wartezeiten von 45 Minuten, nicht aber darüber hinausgehend, anzusetzen (vgl. BSG Urteil vom 06.08.1998 – B 3 P 17/97 R -), so daß sich auf den einzelnen Tag umgerechnet ein Hilfebedarf von 105 Minuten: 30 = 4 Minuten ergibt. Hinzu kommen die Arztbesuche bei dem Lungenfacharzt Dr. G … Hier ist eine Fahrt- und Transportzeit von 2 x 10 = 20 Minuten zuzüglich einer Wartezeit von 45 Minuten anzusetzen, so daß sich insgesamt ein Hilfebedarf von 65 Minuten: 120 Tage = 1 Minute ergibt zusammen 5 Minuten
Der Senat läßt offen, ob zusätzlich ein Hilfebedarf für die von der Ehefrau des Klägers geschilderten 14-tägigen Apothekenbesuche zur Beschaffung der 4 verschiedenen Medikamente berücksichtigt werden können, etwa weil das persönliche Erscheinen des Klägers in der Apotheke zum Zwecke der Beratung jeweils notwendig ist. Für die Entscheidung kommt es auf diesen Gesichtspunkt nicht an. Für diesen Bereich wäre aber ohnehin kein erheblicher Zeitaufwand anzusetzen, weil sich die Apotheke in der Nähe der Arztpraxis befindet.
Nach alledem ergibt sich ein täglicher Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege von 47 Minuten.
Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung ergibt sich ein Hilfebedarf des nunmehr praktisch blinden Klägers in sämtlichen Bereichen. Dieses läßt sich den Sachverständigengutachten ebenso entnehmen wie bereits dem Gutachten des MDK. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß der diesbezüglich notwendige Zeitaufwand 60 Minuten täglich übersteigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Erstellt am: 08.08.2003
Zuletzt verändert am: 08.08.2003