Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin eine Regelaltersrente ab November 1997 gewähren muss.
Die im Juli 1928 geborene Klägerin lebte als Polin jüdischen Glaubens bis Ende 1939 in ihrer Geburtsstadt B/Polen und wurde Anfang 1940 mit ihrer Familie in das ostoberschlesische C vertrieben. Aufgrund nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen wurde sie im Juli 1943 in das Zwangsarbeitslager (ZAL) Röhrsdorf und im Januar 1945 in das ZAL Kratzau im "Reichsgau Sudetenland" deportiert. Dort wurde sie Anfang Mai 1945 befreit. Anschließend hielt sie sich in B/Polen, X/Niederschlesien sowie in M/Oberösterreich auf. Im Januar 1949 wanderte sie nach Israel aus, ist seit Februar 1949 israelische Staatsbürgerin und in der Bundesrepublik Deutschland als Verfolgte i.S.d. Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt (Bescheid des Bezirksamtes für Wiedergutmachung (BfW) in Koblenz vom 22. August 1958). Vom 01. April 1955 bis zum 30. November 1956 hat sie Pflichtbeiträge zur israelischen Nationalversicherung entrichtet.
Im Entschädigungsverfahren erklärte die Klägerin am 17. Oktober 1955, sie habe im Ghetto C ihre "Rationen vom Judenrat" erhalten und in der Schneiderei S "schwere Zwangsarbeit verrichten" müssen. In demselben Verfahren bestätigte die Zeugin J K aus K/Israel, sie habe mit der Klägerin im Ghetto C "zwangsweise verschiedene Arbeiten verrichten" müssen. Der Allgemeinmediziner Dr. X aus U teilte in einem ärztlichen Gutachten vom 06. März 1964 mit, die Klägerin habe im C Ghetto "sehr schwere Zwangsarbeit.in einer Militärschneiderei bei Hungerrationen und häufigen Misshandlungen" durchgeführt, "obwohl sie noch (ein) junges Kind" gewesen sei. Unter dem 23. März 1964 gab die Klägerin an, sie habe im Ghetto C in der Schneiderei S "zwangsweise" und "schwer arbeiten" müssen. In schriftlichen Erklärungen vom 10. und 22. Juni 1964 legten die Zeuginnen B I aus Q/Israel und F S1 aus L/Israel dar, die Klägerin habe im Ghetto C "schwere Zwangsarbeiten verrichten" müssen.
Im November 1997 beantragte die Klägerin eine Regelaltersrente und behauptete, von Januar 1940 bis Juni 1943 in der Schneiderei S in C als Näherin/Schneiderin vollzeitbeschäftigt gewesen zu sein. Nachdem die Beklagte die Entschädigungsakte ausgewertet hatte, lehnte sie den Rentenantrag mit Bescheid vom 03. August 1998 ab, weil die Klägerin die Wartezeit von 5 Jahren nicht erfülle. Während ihres Ghettoaufenthalts habe sie Zwangsarbeiten verrichtet und keinesfalls in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. Beitragszeiten seien daher nicht anzurechnen. Da ihr somit die "Versicherteneigenschaft" fehle, könnten auch keine Ersatzzeiten anerkannt werden.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08. Dezember 1998 zurück: Es sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin die Tätigkeit in der Schneiderwerkstatt S im Kindesalter "aus freiem Willen" aufgenommen und später freiwillig fortgeführt habe. Vor Vollendung des 14. Lebensjahres habe sie zudem keinen sozialversicherungsrechtlichen Schaden erlitten, der nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ausgeglichen werden müsste. Denn das WGSVG solle nur die Beitragswirkung herstellen, die ohne Verfolgung bestünde. Ohne Verfolgung wäre ein Arbeitseinsatz im Kindesalter, der Beitragspflicht ausgelöst hätte, aber niemals zustande gekommen.
Dagegen hat die Klägerin am 08. Januar 1999 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage erhoben und sich am 28. April 1999 bereit erklärt, freiwillige Beiträge nachzuzahlen. Außerdem hat sie eine Erklärung der N1 I1 aus S/Israel vom 21. Dezember 1998 vorgelegt, wonach die Klägerin zwischen 1940 und 1943 im Ghetto C in der Schneiderei S gearbeitet habe.
Während des Klageverfahrens hat sich die Beklagte bereit erklärt, "vorbehaltlich der rechtlichen Bewertung dem Grunde nach" die Zeiträume vom 15. Juli 1942 bis 30. Juni 1943 als "glaubhaft gemachte Arbeitszeit" und die Zeitspanne vom 15. Juli 1942 bis zum 08. Mai 1945 als Ersatzzeit vorzumerken. Zeiten vor Vollendung des 14. Lebensjahres könnten nicht anerkannt werden, weil sie nicht in "einem regulären Beschäftigungsverhältnis" zurückgelegt worden seien.
Mit Urteil vom 17. Dezember 1999 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 03. August 1998 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 08. Dezember 1998 verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente vorbehaltlich einer durchgeführten Nachentrichtung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Es sei glaubhaft, dass die Klägerin am 01. Januar 1940 aus eigenem Antrieb bei der Fa. S in C ein Arbeitsverhältnis als Näherin begonnen und bis zum 30. Juni 1943 freiwillig aufrechterhalten habe. Dass im Ghetto C ein indirekter, massiver und unmenschlicher Druck bestanden habe, eine Tätigkeit aufzunehmen, mache aus einem Arbeitsverhältnis noch keine Zwangsarbeit. Es sei auch glaubhaft, dass die Klägerin als Näherin Lohn erhalten habe. Denn aus dem geschichtswissenschaftlichen Gutachten des Historikers C1 vom 24. November 1997 und "zahlreichen gleich gelagerten Fällen" gehe hervor, dass S alle Arbeitskräfte entlohnt und keine Zwangsarbeiter eingesetzt habe. Die fehlenden Beitragszahlungen seien zu fingieren, weil sie aus Verfolgungsgründen unterblieben seien. Ob die Klägerin vor oder nach Vollendung des 14. Lebensjahres gearbeitet habe, sei dabei unerheblich. Allerdings müsse sie freiwillige Beiträge nachentrichten, damit die Regelaltersrente ins Ausland gezahlt werden könne.
Nach Zustellung am 15. Februar 2000 hat die Beklagte gegen diese Entscheidung am 01. März 2000 Berufung eingelegt und bezweifelt, dass die Klägerin für ihre Tätigkeit entlohnt worden sei. Eine Entgeltzahlung dürfe nicht einfach unterstellt, sondern müsse im Einzelfall festgestellt werden, zumal die Klägerin weder im Entschädigungs- noch im Rentenverfahren eine Entgeltzahlung behauptet habe. Zudem sei historisch gesichert, dass S seine Schneiderwerkstatt in C erst am 05. Mai 1940 eröffnet habe. Deshalb könne das behauptete Beschäftigungsverhältnis frühestens an diesem Tag begonnen haben. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin erst am 28. April 1999 bereit erklärt habe, freiwillige Beiträge nachzuzahlen, so dass die Rente frühestens am 01. Mai 1999 beginnen könne. Während des Berufungsverfahrens lehnte es die Beklagte schließlich mit Bescheid vom 18. Juli 2003 ab, der Klägerin eine Regelaltersrente "unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach Maßgabe des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" (ZRBG) zu gewähren, weil keine entgeltliche Beschäftigung nachgewiesen oder glaubhaft gemacht sei und ein Ghetto in C erst ab Herbst 1942 existiert habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Rentnerinnen N N und J K aus S in Israel im Wege der Rechtshilfe durch das Friedensgericht in U als Zeuginnen vernehmen lassen. Die Zeugin N1 I1 war nicht vernehmungsfähig. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Übersetzung der Sitzungsniederschrift vom 11. Dezember 2000 (Bl. 110 bis 116 der Gerichtsakte) verwiesen.
Der Senat hat den Beteiligten die folgenden Unterlagen in Kopie zugeleitet, auf die jeweils Bezug genommen wird: – geschichtswissenschaftliches Sachverständigengutachten des Historikers B C1 aus G vom 24. November 1997 für das SG Düsseldorf in dem Verfahren S 4 (3) J 105/93 (im Folgenden: Gutachten 1), – Gutachten des Historikers C1 aus September 2002 für das erkennende Gericht in dem Verfahren L 14 RJ 74/01 (im Folgenden: Gutachten 2), – Gutachten des Historikers C1 vom 31. Dezember 2002 für den erkennenden Senat in dem Verfahren L 3 RJ 69/99 (im Folgenden: Gutachten 3), – Formular des Sonderbeauftragten von November 1940 über die Modalitäten der Entgeltzahlung an jüdische Arbeitnehmer (Bl. 190f. der Gerichtsakte), – Schreiben des Komitees der jüdischen Kultusgemeinde T vom 10. Juli 1941 an den Sosnowitzer Bürgermeister (Bl. 198 der Gerichtsakte) und – Schreiben der Fa. Blech- und Holzwarenfabrik K T K.G. in T vom 14. Juni 1941 an das Städtische Stadtsteueramt (Bl. 196 der Gerichtsakte).
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte (Versicherungsnummer: 000) Bezug genommen. Beide Akten sowie die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg (Az.: 000) waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Das Soziagericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), weil sie rechtswidrig sind. Denn die Klägerin hat gem. § 35 SGB VI Anspruch auf Regelaltersrente ab dem 01. November 1997, weil sie das 65. Lebensjahr am 14. Juli 1993 vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.
Auf die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI) werden Kalendermonate mit Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und 4 SGB VI). Außerdem werden gemäß Art. 20 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über soziale Sicherheit vom 17. Dezember 1973 (DIVSA, BGBl. II 1975, 246) in der Fassung des Änderungsabkommens vom 07. Januar 1986 (BGBl. II 1986, 863) für den Erwerb des Leistungsanspruchs (hier: auf Regelaltersrente) nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften (§ 35 SGB VI) auch die Versicherungszeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates (Israel) anrechnungsfähig sind und nicht auf dieselbe Zeit entfallen, wenn nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsstaaten anrechnungsfähige Versicherungszeiten vorhanden sind. In der israelischen Nationalversicherung hat die Klägerin vom 01. April 1955 bis zum 30. November 1956 insgesamt 20 Kalendermonate mit Versicherungszeiten erworben. Nach den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland sind ebenfalls anrechnungsfähige Beitrags- (I.) und Ersatzzeiten (II.) vorhanden.
I. Beitragszeiten sind nach § 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen hat die Klägerin – schon nach ihrem eigenen Vortrag – nicht entrichtet. Die Abführung von Lohn auf das Konto des Sonderbeauftragten des Reichsführers SS für den fremdvölkischen Arbeitseinsatz stellt keine wirksame Beitragszahlung dar.
Gemäß § 55 Satz 2 SGB VI in seiner bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung (a.F.) sind Beitragszeiten auch solche Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (sog. fiktive Beitragszeiten). Nach § 55 Satz 1 SGB VI a.F. i.V.m. § 12 WGSVG gelten Zeiten als Pflichtbeitragszeiten, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen keine Beiträge gezahlt worden sind. Die Klägerin ist anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus und erfüllt damit die Voraussetzungen des § 1 WGSVG. Für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen genügt gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 WGSVG die Glaubhaftmachung. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen überwiegend wahrscheinlich ist (§ 3 Abs. 1 Satz 2 WGSVG). Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie von August 1940 bis Juni 1943 (4.) in einem rentenversicherungspflichtigen (2.) Beschäftigungsverhältnis (1.) stand und aus Verfolgungsgründen keine Beiträge gezahlt (3.) worden sind.
1. Der Senat hält es für überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin bei der Fa. S in C als Schneiderin/Näherin beschäftigt war. Zum Kernbestand des Beschäftigungsverhältnisses gehören vier Wesensmerkmale, die im Einzelfall mehr oder weniger ausgeprägt vorliegen können: die Leistung von Arbeit, die Weisungsabhängigkeit des Beschäftigten, die Fremdnützigkeit und der freie Arbeitsvertrag (Gagel in: Festschrift für Otto-Ernst Krasney, 1997, S. 147, 150). Die Zahlung von Entgelt gehört nicht zu diesen Wesensmerkmalen, weil die Sozialversicherungsgesetze die Entgeltzahlung meist gesondert neben dem Begriff des Beschäftigungsverhältnisses nennen (vgl. Gagel, a.a.O.; Merten, GK-SGB IV, 2. Aufl. 1992, § 7 Rn. 18f.; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 10. Aufl. 2002, § 8 III 1). Wird für die Arbeit kein Entgelt gezahlt, schließt dies das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses nicht generell aus, stellt es aber in Frage. Wird für die Arbeit ein Entgelt gezahlt, so liegt nur bei besonderen Umständen kein Beschäftigungsverhältnis vor (Gagel, a.a.O., S. 151).
Dass die Klägerin bei der Fa. S fremdnützige (Schneider-)Arbeiten verrichtet hat und dem Weisungsrecht des Betriebsinhabers und späteren Geschäftsführers B S unterlag, ist glaubhaft. Dies hat sie sowohl im Entschädigungs- als auch im Rentenverfahren konstant behauptet und durch Erklärungen der Zeitzeuginnen I, S1, I1, K und N belegt. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Rentnerinnen K und N lediglich Zeuginnen vom Hörensagen sind, was den Beweiswert ihrer Aussagen schmälert, aber nicht vollständig aufhebt. Dass die Fa. S in C tatsächlich existierte, ist historisch gesichert (C1, Gutachten 2, Bl. 24f.; Steinbacher, "Musterstadt" B: Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, Diss. 1998, S. 150). Denn B S, der im Januar 1940 nach C gekommen war, baute dort – zunächst für das Textilunternehmen H T KG – ab dem 01. August 1940 eine "prosperierende" Schneiderwerkstatt auf, die er im November 1940 selbst übernahm und am 30. Juni 1941 an den "Sonderbeauftragten des Reichsführers SS" Albrecht Schmelt weiterveräußerte (Bl. 24f. Gutachten 2). Der Sonderbeauftragte setzte S anschließend als Leiter der Schneiderwerkstatt ein, die im Mai 1943 etwa 7.000 jüdische Arbeitskräfte beschäftigte. Dass die Klägerin zu dieser Belegschaft gehörte, dafür sprechen – neben ihren eigenen Angaben und den Zeugenaussagen – ergänzend zwei besondere Sachverhaltsdetails: Die Eltern der Klägerin hatten nämlich bis 1939 in B ein Herrenkonfektionsgeschäft betrieben. Als Fachleute aus der Textilbranche waren sie für jede Schneidersammelwerkstätte wertvolle Arbeitskräfte. Es erscheint daher nahe liegend, dass S diese Fachkräfte auch dadurch zu verstärkter Mitarbeit in der Schneiderwerkstätte "motivieren" konnte, indem er ihre Tochter, die Klägerin, beschäftigte und so vor Deportationen schützte. Auch die Tatsache, dass die Klägerin anschließend in das ZAL Röhrsdorf verschleppt wurde, spricht für eine Mitarbeit in der Schneiderwerkstatt S. Denn im ZAL Röhrsdorf, einem reinen Frauenlager, wurden Jüdinnen ausschließlich in Spinnereien und Webereien eingesetzt, die Textilien für den Wehrmachtsbedarf produzierten (Konieczny, Die Zwangsarbeit der Juden in Schlesien im Rahmen der "Organisation Schmelt" in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, S. 91, 104). Für eine Beschäftigung der Klägerin zumindest in den Jahren 1942/43 spricht schließlich auch, dass sie – trotz ihres jugendlichen Alters – erst im Juni 1943 in ein ZAL überstellt wurde. Denn der Sachverständige C1 legt in seinem Gutachten dar, dass die deutschen Behörden "alle Nichtarbeitsfähigen und sog. Ballast-Existenzen" in das Vernichtungslager B-C" deportierten und praktisch nur der Besitz einer Arbeitskarte hiervor schützte (C1, Gutachten 1, S. 83; Steinbacher, a.a.O., S. 151). Schließlich hat auch die Beklagte ursprünglich nicht bezweifelt, dass die Klägerin in der Schneiderwerkstatt S weisungsgebundene und fremdnützige Arbeiten – wenn auch "zwangsweise" – verrichtet hat. Deshalb hat sie sich während des Klageverfahrens auch bereit erklärt, Teilzeiträume als "glaubhaft gemachte Arbeitszeit" anzuerkennen. Damit hat sie aber gleichzeitig zugestanden, dass die Arbeitsleistung der Klägerin bei der Fa. S – jedenfalls im anerkannten Teilzeitraum – glaubhaft ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 14. Juli 1999, Az.: B 13 RJ 61/98 R, SozR 3-5070 § 14 Nr. 2). Die Spekulation der Beklagten im Schriftsatz vom 09. Dezember 2003, die Klägerin habe sich "in einem besonderen Betriebsteil für Kinder" aufgehalten, "dort evtl. Handreichungen/ Hilfstätigkeiten verrichtet" und sei im Übrigen beaufsichtigt worden, "um sie vor einer Deportation zu schützen", hält der Senat angesichts der historischen Umstände für abwegig.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist zwischen der Klägerin und der Fa. S ein (faktischer) Arbeitsvertrag zustande gekommen (a), den die Klägerin aus eigenem Antrieb freiwillig begründet hat (b). Hierfür genügt es, dass sich die Vertragsparteien am "Modell des Arbeitsvertrags" orientiert haben (Gagel, a.a.O., S. 147, 152). a) Indem die Klägerin ihre Tätigkeit als Schneiderin/Näherin bei der Fa. S aufnahm, entstand zumindest ein faktisches Arbeitsverhältnis (vgl. Schaub, a.a.O., § 35 III 2 m.w.Nw.). Das faktische Arbeitsverhältnis ist als Beschäftigungsverhältnis zu qualifizieren (Gagel, a.a.O., S. 147, 152; Merten, a.a.O., § 7 Rn. 25; Schaub, a.a.O., § 35 III 3ff.; Seewald in: Kasseler Kommentar, Stand: Dezember 2002, § 7 SGB IV Rn. 139), wenn der Betroffene in den Betrieb des Arbeitgebers tatsächlich eingegliedert worden ist. Die Klägerin war glaubhaft in die Arbeitsorganisation der Schneiderwerkstatt S eingeordnet und als Schneiderin/Näherin auf deren Betriebsmittel, Material sowie Personal angewiesen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 1959, Az.: 3 RK 18/55, BSGE 10, 41, 45 f). Die Weisungsbefugnis Ss erstreckte sich dabei auf Zeit, Dauer und Ort der Arbeitsleistung (vgl. BSG, Urteile vom 24. Juni 1981, Az.: 12 RK 35/80, SozR 2200 § 1227 Nr. 34; vom 25. September 1981, Az.: 12 RK 5/80, SozR 2200 § 165 Nr. 61; vom 21. April 1993, Az.: 11 RAr 67/92, SozR 3-4100 § 168 Nr. 11; LSG NW, Urteil vom 21. Dezember 1999, Az.: L 5 KR 117/98). Unerheblich ist deshalb, ob der Arbeitsvertrag wegen sittenwidrigen Ausnutzens einer Zwangslage (§ 138 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) oder Verstoßes gegen das Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen vom 30. April 1938 (RGBl I, 437) nichtig (§ 134 BGB), die Willenserklärung der Klägerin aufgrund ihrer Minderjährigkeit (§ 2 BGB) schwebend unwirksam (§ 108 Abs. 1 BGB) oder wegen Drohung (§ 123 Abs. 1 BGB) anfechtbar gewesen ist.
b) Das (faktische) Arbeitsverhältnis als Näherin/Schneiderin hat die Klägerin bei der Fa. S aus eigenem Antrieb aufgenommen und bis zum 30. Juni 1943 "freiwillig" aufrechterhalten. Mit dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal (vgl. Seewald, a.a.O., § 7 SGB IV Rn. 35) der "Freiwilligkeit" wird das Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnis von Dienstpflichten und Zwangsarbeiten aufgrund öffentlich-rechtlicher Gewaltverhältnisse abgegrenzt. Das Merkmal der Freiwilligkeit ist eng verknüpft mit der Grunddefinition von Arbeit als zweckgerichtetem Handeln zur Sicherung der eigenen Lebensgrundlage (vgl. Schaub, a.a.O., § 8 II 2; Seewald, a.a.O.). Wer dagegen Arbeiten aufgrund obrigkeitlichen Zwangs (beispielsweise als Strafgefangener oder KZ-Häftling) verrichtet, befolgt in erster Linie die staatliche Anordnung und erbringt seine Arbeitsleistung nicht, um die eigene Lebensgrundlage zu sichern. Diese Aufgabe übernimmt der Staat, der den Zwangsarbeiter bzw. Dienstverpflichteten (mehr oder weniger menschenwürdig) unterbringt und verpflegt. Deshalb schließen sich Zwangsarbeit und Beschäftigungsverhältnis begrifflich aus (vgl. BSG, Urteile vom 31. Oktober 1967, Az.: 3 RK 84/65, SozR Nr. 54 zu § 165 RVO; vom 20. März 1969, Az.: 12 RJ 438/68, SozR Nr. 1 zu Art 6 § 23 FANG; vom 10. Dezember 1974, Az.: 4 RJ 379/73, SozR 5070 § 14 Nr. 2 und vom 14. Juli 1999, Az.: B 13 RJ 61/98 R, SozR 3-5070 § 14 Nr. 2).
Um das Beschäftigungsverhältnis von Zwangsarbeit abzugrenzen, sind die typischen Merkmale (Indizien) für das Vorliegen von Zwangsarbeit herauszuarbeiten. Hierbei sind selbstverständlich solche Kriterien untauglich, die für beide Tätigkeitsformen charakteristisch sind, wie z.B. die Ausübung eines Direktionsrechts. Auch ein bloßes Abstellen auf Arbeit im Sinne einer Erwerbsarbeit oder wirtschaftlich nützlichen Tätigkeit, kann diese beiden Typen nicht voneinander abgrenzen. Denn gerade das Merkmal Arbeit ist notwendigerweise beiden Typen eigen, was eine nähere Abgrenzung überhaupt erst erfordert. Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang, wie z.B. bei Straf- und Kriegsgefangenen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juni 1997, Az.: 5 RJ 66/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15; Gagel, a.a.O., 147, 157 f.). Typisch ist dabei z.B. die obrigkeitliche Zuweisung an bestimmte Unternehmen, ohne dass der Betroffene dies beeinflussen kann. Werden Arbeiter während der Arbeit bewacht, um zu verhindern, dass sie sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können, so spricht dies ebenfalls für Zwangsarbeiten (zur Abgrenzung vgl. BSG, Urteil vom 06. April 1960, Az.: 2 RU 40/58, SozR Nr. 18 zu § 537 RVO). Diese beispielhaft aufgeführten Kriterien zeigen, dass sich eine verrichtete Arbeit um so mehr vom Typus des Arbeits-/ Beschäftigungsverhältnisses entfernt und dem Typus der Zwangsarbeit annähert, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann (BSG, SozR 3-5070 § 14 Nr. 2).
Für Zwangsarbeit und gegen ein frei gewähltes Arbeitsverhältnis "aus eigenem Antrieb" spricht, dass die Klägerin ihr 12. Lebensjahr erst im August 1940 vollendete. Gegen ein frei gewähltes Beschäftigungsverhältnis sprechen auch ihre "eidlichen Erklärungen" vom 17. Oktober 1955 und vom 23. März 1964 im Entschädigungsverfahren, sie habe "in der Schneiderwerkstätte S "schwere Zwangsarbeiten verrichten" bzw. trotz ihres "jugendlichen Alters in der Schneiderei S zwangsweise arbeiten" müssen. Gleiches gilt für die Angaben des Allgemeinmediziners Dr. X in seinem ärztlichen Gutachten vom 06. März 1964, die Klägerin habe im C Ghetto "sehr schwere Zwangsarbeit …in einer Militärschneiderei bei Hungerrationen und häufigen Misshandlungen" durchgeführt, "obwohl sie noch (ein) junges Kind" gewesen sei. In dieselbe Richtung deuten zudem die die Angaben der Zeugin K vom 17. Oktober 1955, sie habe mit der Klägerin im Ghetto C "zwangsweise verschiedene Arbeiten verrichten" müssen sowie die eidlichen Erklärungen der Zeuginnen B I vom 10. Juni 1964 und F S1 vom 22. Juni 1964, wonach die Klägerin im Ghetto C "schwere Zwangsarbeiten verrichten" musste.
Für ein frei gewähltes Beschäftigungsverhältnis und gegen Zwangsarbeit spricht, dass auch 12-jährige Mädchen einen "freien" Willen bilden können. Außerdem steht ein indirekter, massiver und unmenschlicher Druck zur Arbeitsaufnahme einem frei gewählten Beschäftigungsverhältnis nicht automatisch entgegen, wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat. Denn die meisten Menschen außerhalb der Wohlfahrtsstaaten sind mehr oder weniger "gezwungen", eine Arbeit aufzunehmen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Im Übrigen dürfen die Angaben der Klägerin und der Zeuginnen im Entschädigungsverfahren, insbesondere ihre Wortwahl, nicht überbewertet und als Rechtstatsachen behandelt werden. Sicherlich hat die damals 12jährige Klägerin die (schwere und entbehrungsreiche) Arbeit in der Sammelwerkstätte als "Zwangsarbeit" empfunden und dies im Entschädigungsverfahren auch so zum Ausdruck gebracht. Benutzen juristische Laien aber einen Rechtsbegriff (wie den der "Zwangsarbeit"), so ist er nur dann als "Rechtstatsache" zu behandeln, wenn es sich um einen einfachen Begriff des täglichen Lebens handelt und dem Verwender im Einzelfall der juristisch korrekte Umgang mit diesem Begriff zuzutrauen ist (vgl. Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 4. Aufl. 1993, Rn. 31; Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 9. Aufl. 1987, Rn. 44; Siegburg, Einführung in die Urteils- und Relationstechnik, 4. Aufl. 1989, Rn. 236; BGH, Urteil vom 29. September 1958, NJW 1958, 1968). Bei dem juristischen Begriff der "Zwangsarbeit" handelt es keinesfalls um einen einfachen und gängigen Ausdruck des täglichen Lebens. Dass die Klägerin und die Zeuginnen im Entschädigungsverfahren den (emotional aufgeladenen und wertungsbedürftigen) Begriff der "Zwangsarbeit" juristisch korrekt verwendet haben, ist nach Ansicht des Senats nicht anzunehmen. Entscheidend stellt der Senat deshalb darauf ab, dass nach dem geschichtswissenschaftlichen Gutachten des Historikers C1 aus September 2002 in dem Verfahren L 14 RJ 74/01 historisch gesichert ist, "dass die Beschäftigungsverhältnisse jüdischer Arbeitskräfte in den von B S geführten Betriebs- und späteren Sammelwerkstätten in C von einer auf Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme und des freien Zu- und Abgangs zu und von der Arbeitsstätte gekennzeichnet waren" (Bl. 27 Gutachten 2). Eine obrigkeitliche Zuweisung der Klägerin an die Fa. S lässt sich deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausschließen. So führt auch Steinbacher (a.a.O., S. 150) aus, dass Juden, die in den Sammelwerkstätten arbeiteten, in den Städten verbleiben, sich "relativ frei" bewegen und auch weiterhin im Familienverband in ihren Wohnungen leben durften. Die Behauptung, wonach jüdische Arbeiter "in Marschkolonnen" von und zur Arbeit geführt wurden, ist daher "eher ein Destillat mehr oder weniger schöngefärbter Zeugenaussagen in BEG-Verfahren als historische Wahrheit" (C1, Gutachten 2, S. 23). Für die Existenz eine Beschäftigungsverhältnisses spricht schließlich auch, dass die Klägerin für ihre Tätigkeit bei der Fa. S mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Entgelt erhalten hat, das die Geringfügigkeitsgrenze überschritt.
2. Die Tätigkeit der Klägerin als Näherin/Schneiderin in der Sammelwerkstätte S war nach den früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung rentenversicherungspflichtig. Denn in C/Ostoberschlesien ist das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch die Ostgebiete-VO vom 22. Dezember 1941 rückwirkend zum 01. Januar 1940 eingeführt worden. Auf die Tätigkeit der Klägerin ist daher als frühere Vorschrift der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der damals gültigen Fassung (a.F.) anzuwenden. Nach dieser Vorschrift wurden in der Arbeiterrentenversicherung (Invalidenversicherung) insbesondere Arbeiter versichert, die als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt waren. Dabei konnte das Arbeitsentgelt in Geld oder Gegenständen, insbesondere körperlichen Gegenständen ("Sachen", § 90 BGB) bestehen, d.h. Bar- oder Sachlohn sein, § 160 Abs. 1 RVO a.F. Damit Versicherungspflicht entstand, musste das Arbeitsentgelt allerdings einen Mindestumfang erreichen (vgl. § 1226 Abs. 2 i.V.m. § 160 RVO a.F.). Der Senat hält es für überwiegend wahrscheinlich und sieht es deshalb als glaubhaft gemacht an, dass die Klägerin ihre Beschäftigung gegen Entgelt ausübte (a) und ihr Lohn die Geringfügigkeitsgrenze überschritt (b).
a) Es ist historisch gesichert, dass jüdische Arbeitskräfte für ihre Arbeit in den Schneiderwerkstätten bezahlt wurden. Steinbacher (a.a.O., S. 152) führt in diesem Zusammenhang aus, dass Männer in der Wehrmachtsfertigung monatlich 70, Frauen 50 Reichsmark erhielten. Die Zahlung eines Entgelts lag auch im Interesse der NS-Machthaber. Denn die jüdische Bevölkerung Ostoberschlesiens war nach ihrer vollständigen Enteignung bereits zur Jahreswende 1939/40 größtenteils arbeits- und mittellos und deshalb auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen (C1, Gutachten 1, S. 57). Um die steigenden Kosten für diese Unterhaltsleistungen zu senken und die jüdische Bevölkerung effizienter überwachen zu können, richtete das NS-Regime Ende Oktober 1939 eine Dienststelle "zur Erfassung und Lenkung des fremdvölkischen Arbeitseinsatzes in Oberschlesien" ein, die der Breslauer Polizeipräsident Albrecht Schmelt als sog. Sonderbeauftragter leitete (C1, Gutachten 1, S. 71). Dieser ordnete an, allen jüdischen Arbeitnehmern "die volle tarifliche Entlohnung" nach den schlesischen Tarifordnungen zu zahlen, und verpflichtete jeden privaten Arbeitgeber neben dem Lohnsteuerabzug vom Nettolohn seiner jüdischen Arbeitnehmer einen Pauschalbetrag von 30% einzubehalten und gemeinsam mit den ersparten Sozialversicherungsbeiträgen (i.H.v. weiteren 18%) an den Sonderbeauftragten abzuführen (C1, Gutachten 1, S. 72, 105). Die Löhne und Gehälter wurden bar in Reichsmark "gegen Quittung durch den Betriebsunternehmer" ausgezahlt, dem es untersagt war, "von sich aus weitere Abzüge vorzunehmen oder derartige Abzüge auf Weisung und Rechnung anderer Stellen durchzuführen" (C1, Gutachten 1, S. 120, 73). Darüber hinaus erhielten jüdische Arbeitnehmer Lebensmittelkarten für ihre Familienangehörigen (C1, Gutachten 1, S. 120). Der Senat hält es für überwiegend wahrscheinlich, dass private Arbeitgeber, die jüdische Arbeitnehmer beschäftigten, alle Richtlinien und Anordnungen des Sonderbeauftragten des Reichsführers SS penibel einhielten, um nicht selbst in Konflikt mit dem totalitären und menschenverachtenden Regime zu geraten. Ist aber überwiegend wahrscheinlich, dass sich S (zunächst als selbständiger Textilunternehmer und später als leitender Angestellter des Sonderbeauftragten) richtlinienkonform verhielt, so erscheint es auch überwiegend wahrscheinlich, dass er der Klägerin Lohn zahlte. Ohne Entgeltzahlung hätte das NS-Regime zudem sein ursprüngliches Ziel verfehlt, die steigenden Kosten für Unterhaltsleistungen an die jüdische Bevölkerung zu senken und die "Aufbaukasse" des Sonderbeauftragten zu füllen. Unter diesen Umständen spricht mehr für als gegen eine Entgeltzahlung an die Klägerin. Zu Unrecht nimmt die Beklagte an, die Entgeltzahlung müsse im Einzelfall belegt sein. Denn im Rahmen des WGSVG reicht es aus, dass die Lohnzahlung glaubhaft gemacht wird (§ 3 WGSVG). Unerheblich ist dabei, dass die Klägerin im Entschädigungsverfahren keine Angaben zu ihrem Arbeitsverdienst gemacht hat. Denn sie hat damals nur Schäden an Körper, Gesundheit sowie Freiheit angemeldet. Um die Verletzung dieser Rechtsgüter zu entschädigen, spielten Lohnzahlungen in der Schneidersammelwerkstätte S keine Rolle. Dass sie ins Rentenantragsformular keinen Arbeitsverdienst eingetragen hat, kann ihr nicht anspruchsvernichtend entgegen gehalten werden. Denn Schweigen hat im Rechtsverkehr grundsätzlich keinen Erklärungswert. Die Schilderung des Allgemeinmediziners Dr. X in seinem ärztlichen Gutachten vom 06. März 1964, die Klägerin habe "sehr schwere Zwangsarbeit …in einer Militärschneiderei bei Hungerrationen" ausgeführt, beschreibt die mangelhafte Versorgungslage im C Ghetto sicher zutreffend. Hieraus kann aber nicht auf eine fehlende Entgeltzahlung geschlossen werden, da für eine medizinische Beurteilung sehr wohl die Folgen der Unterernährung, nicht aber der Bezug von Arbeitsentgelt bedeutsam sind. Nach Auffassung des Senats ist es entbehrlich, eine "Erklärung" der Klägerin zur Entgeltlichkeit der behaupteten Beschäftigung einzuholen, wie dies die Beklagte hilfsweise beantragt hat. Die Klägerin hat bereits in der Klageschrift behauptet, sie sei für ihre Arbeit bei der Fa. S entlohnt worden. Der Senat kann nicht erkennen, inwiefern eine nochmalige persönliche Bestätigung dieser Behauptung zu einem Erkenntnisgewinn führen soll. Zudem können als Mittel der Glaubhaftmachung keine (bloßen) Erklärungen, sondern nur eidesstattliche Versicherungen zugelassen werden (§ 3 Abs. 2 Satz 1 WGSVG). Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung hat die Beklagte aber nicht beantragt.
b) Der Lohn, den die Klägerin für ihre Arbeit beanspruchen konnte, überstieg glaubhaft die Geringfügigkeitsgrenze. Nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) richtete sich die Versicherungspflicht nicht nach der Höhe des tatsächlich gezahlten Lohns, sondern allein nach dem Entgelt, auf dessen Zahlung der Versicherte bei Fälligkeit einen Rechtsanspruch hatte (Entscheidung vom 29. Oktober 1930, Az.: III A.V. 44.30 B., AN 1931, 34 Nr. 3948). Aufgrund dieser sog. Rechtsanspruchstheorie entstand die Versicherungspflicht ohne Rücksicht darauf, ob der Versicherte seine Bezüge voll, teilweise oder überhaupt nicht erhielt. Erst mit dem "Gemeinsamen Erlass des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944" (RArbBl II 1944, 281) kam es für die Beurteilung der Versicherungs- und Beitragspflicht darauf an, ob dem Arbeitnehmer die Bezüge tatsächlich ausgezahlt wurden, d.h. ob sie ihm zugeflossen waren (sog. Zuflusstheorie). Es ist also – entgegen der Ansicht der Beklagten – unerheblich, ob und ggf. in welcher Höhe S die Klägerin tatsächlich entlohnte. Entscheidend ist allein, ob sie durch ihre Arbeit einen Lohnanspruch erworben hat, der die Geringfügigkeitsgrenze überstieg. Indem die Klägerin bei der Fa. S als Näherin/Schneiderin arbeitete, erwarb sie jedenfalls aufgrund eines faktischen Arbeitsverhältnisses einen zivilrechtlichen Lohnanspruch. Dafür spricht auch, dass der Sonderbeauftragte alle privaten Arbeitgeber verpflichtete, ihren jüdischen Arbeitnehmern "die volle tarifliche Entlohnung" nach den schlesischen Tarifordnungen zu zahlen. Dabei hatte er ein beträchtliches, pekuniäres Eigeninteresse an möglichst hohen Lohnansprüchen der jüdischen Arbeitnehmer, weil er hiervon prozentual profitierte. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass der Sonderbeauftragte die unentgeltliche Beschäftigung jüdischer Kinder duldete. Überwiegend wahrscheinlich ist vielmehr, dass Kinder und Jugendliche wie Erwachsene behandelt und auch bezahlt wurden. Andernfalls hätte der Sonderbeauftragte, der alle Arbeitsverhältnisse mit jüdischen Arbeitnehmern genehmigen musste, Kinder und Jugendliche durch Erwachsene ausgetauscht. Da die Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben als Näherin/Schneiderin vollzeitbeschäftigt war, überstieg ihr Lohnanspruch glaubhaft die Geringfügigkeitsgrenze. Folglich stand die Klägerin in einem rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
3) Der Ursachenzusammenhang zwischen der Verfolgung und der fehlenden Beitragszahlung liegt vor. Entgegen der Ansicht der Beklagten können fiktive Beitragszeiten auch vor Vollendung des 14. Lebensjahres anerkannt werden. Soweit sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Anerkennung von Ersatzzeiten bezieht (vgl. Urteil vom 14. April 1981, Az.: 4 RJ 27/80, SozR 2200 § 1251 Nr 83), berücksichtigt sie nicht hinreichend die Unterschiede zwischen der Regelung von Ersatzzeiten und der Bestimmung des § 12 WGSVG. Während ein Ersatzzeittatbestand gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass keine Versicherung bestanden hat, setzt § 12 WGSVG die tatsächliche Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit voraus. Lediglich die fehlenden Beiträge werden fingiert. Ebenso wenig wie sich ein Verfolgter darauf berufen kann, er sei aus Verfolgungsgründen in eine versicherungsfreie Tätigkeit ausgewichen (vgl. BSG, Urteil vom 09. November 1982, Az.: 11 RA 7/82, SozR 5070 § 14 Nr 16), kann ihm auf der anderen Seite entgegengehalten werden, er wäre ohne eine Verfolgungssituation nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Es würde im übrigen dem Entschädigungscharakter des WGSVG und dem Ziel der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (BSG, Urteil vom 19. September 1960, Az.: 1 RA 38/60, SozR § 1248 RVO Nr 4) zuwiderlaufen, wenn ein Verfolgter, bei dem nicht nur verfolgungsbedingt eine Beitragszahlung unterblieben ist, sondern der aufgrund von Verfolgungsmaßnahmen überhaupt erst eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat, schlechter gestellt wäre als jemand, für den aus Verfolgungsgründen "nur" keine Beiträge entrichtet worden sind (so ausdrücklich BSG SozR 3-5070 § 14 Nr. 2).
4) Nach Ansicht des Senats spricht allerdings mehr dagegen als dafür, dass die Klägerin bereits seit dem 01. Januar 1940 für B S arbeitete. Denn nach den Ausführungen des Historikers C1 verwaltete S in C zunächst nur einige "arisierte" Textilfirmen als (kommissarischer) Treuhänder. Eine Tätigkeit bei diesen ehemals "jüdischen" Textilfirmen hat die Klägerin aber nie behauptet. Mit dem Aufbau "seiner" Sammelwerkstätte begann S erst im August 1940 (C1, Gutachten 2, Bl. 24 ff.). Folglich kann das Beschäftigungsverhältnis frühestens am 01. August 1940 begonnen haben. Da C1 sich mit den Sammelwerkstätten B S intensiv beschäftigt hat, erscheinen seine Ausführungen zum Zeitpunkt der Shop-Eröffnung fundierter als die Angaben der Historikerin Steinbacher, die den Beginn des S-Shops auf Februar/März 1941 datiert (a.a.O., S. 150). Dafür, dass die Klägerin zu den ersten gehörte, die im August 1940 eine Beschäftigung bei der Fa. S aufnahm, spricht, dass ihre Eltern als ehemalige Betreiber eines Herrenkonfektionsgeschäfts "vom Fach" und deshalb für eine Schneidersammelwerkstätte wertvolle Arbeitskräfte waren. Da die jüdischen Schulen in C nach den Sommerferien 1940 geschlossen blieben (Steinbacher, a.a.O., S. 154f.), stand auch eine etwaige Schulpflicht dem Beschäftigungsverhältnis nicht entgegen. Damit ist ein rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vom 01. August 1940 bis zum 30. Juni 1943, d.h. 35 Kalendermonate, glaubhaft gemacht.
II. Vom 01. Juli 1943 bis zum 08. Mai 1945 liegen zudem unstreitig 23 Kalendermonate mit Ersatzzeiten vor (§ 250 Abs. 1 Nr. 4, 1. Fall SGB VI). Addiert man die 35 Kalendermonate mit (fiktiven) Beitragszeiten und die 20 Kalendermonate mit israelischen Versicherungszeiten hinzu, so sind insgesamt 78 Kalendermonate auf die allgemeine Wartezeit (60 Kalendermonate) anrechenbar. Da die Klägerin ihr 65. Lebensjahr am 14. Juli 1993 vollendete, ist das Stammrecht auf Regelaltersrente entstanden. Ihre Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) hat damit Erfolg.
III. Die Leistungsklage, die sie zulässigerweise mit der Anfechtungsklage verbunden hat (§ 54 Abs. 4 SGG), ist ebenfalls begründet. Zwar sind Renten an Berechtigte mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland grundsätzlich nur zahlbar, wenn Beitragszeiten im Geltungsbereich des SGB VI zurückgelegt worden sind (sog. Bundesgebietsbeitragszeiten, §§ 110 ff. SGB VI). Für die Klägerin, die keine Bundesgebietsbeitragszeiten erworben hat, gilt aber die Ausnahmebestimmung des § 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 WGSVG. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift können Verfolgte, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 das Gebiet des Deutschen Reiches oder der Freien Stadt Danzig verlassen haben, um sich einer von ihnen nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen oder die aus den gleichen Gründen nicht in das Gebiet des Deutschen Reiches oder der Freien Stadt Danzig zurückkehren konnten, Rente wie die Verfolgten erhalten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben. Gem. § 18 Abs. 2 WGSVG gilt Abs. 1 entsprechend für Verfolgte, die nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950 das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 oder das Gebiet der Freien Stadt Danzig verlassen haben.
Hierzu bestimmt § 18 Abs. 4 WGSVG, dass die Renten nach den Absätzen 1 bis 3 nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit (i.S.v. § 1 SGB I) gelten. Es handelt sich um Entschädigungsleistungen: Das WGSVG ersetzt Verfolgten i.S.v. § 1 BEG den Schaden, den sie durch die nationalsozialistische Verfolgung in ihrer Rentenversicherung erlitten haben (BSG, Urteile vom 12. Juli 1988, Az: 4/11a RA 36/87, SozR 2200 § 1251a Nr. 2 und vom 29. August 1996, Az.: 4 RA 85/95, SozR 3-5070 § 18 Nr. 2). Auszugleichen sind dabei auch die Einbußen, die der Verfolgte erleidet, weil er sich verfolgungsbedingt im Ausland aufhält oder dort wohnt. Dies bewirken die §§ 18, 19 WGSVG "kraft Gesetzes", indem sie "Ausländer" mit Verfolgten gleichstellen, die im Inland wohnen. Alle Entschädigungsregelungen des WGSVG, auch § 18 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, setzen allerdings einen Schaden in einem Rentenstammrecht, in einem Rentenanspruch, in einer Rentenanwartschaft oder einem zuerkannten rentenversicherungsrechtlichen Vorteil voraus, der durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen verursacht worden ist. Haftungsbegründend können dabei nur Rechtsverletzungen bis zum 8. Mai 1945 wirken.
Dagegen ist es eine Frage des Umfanges der Entschädigung, inwieweit mittelbare Nachwirkungen der Verfolgung, vor allem in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949, den Schaden vertieft oder ausgeweitet haben. § 18 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WGSVG umschreiben, unter welchen Voraussetzungen der Einwand des Auslandswohnsitzes einem Verfolgten nicht entgegengehalten werden darf, dessen Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Ausland im wesentlichen auf dem nationalsozialistischen Verfolgungszugriff bzw. dessen Nachwirkungen beruht (BSG, SozR 3-5070 § 18 Nr. 2).
Die Klägerin kann sich allerdings nicht auf § 18 Abs. 1 Satz 1 WGSVG berufen, weil sie das Gebiet des Deutschen Reiches (in seiner jeweiligen Ausdehnung) nicht schon zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 verlassen hat. Sie gehört damit zu dem besonders betroffenen Personenkreis dem es – anders als den von § 18 Abs. 1 Satz 1 WGSVG (in direkter Anwendung) Begünstigten – nicht mehr gelang, dem nationalsozialistischen Zugriff zu entfliehen. Für sie gilt jedoch gemäß § 18 Abs. 2 WGSVG der Einwendungsausschluss des Abs. 1 Satz 1 a.a.O. "entsprechend".
Die Klägerin hat nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950 das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 verlassen, als sie aus X/Niederschlesien nach M/Oberösterreich zog und damit den Tatbestand des § 18 Abs. 2 SGB VI erfüllt. Dass sich die Klägerin 1946 in X/Niederschlesien aufgehalten hat, steht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit fest. Denn ihr Vater, B2 U, ist nach den glaubhaften Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren während des 2. Weltkriegs in das KZ X in Niederschlesien deportiert und nach seiner Befreiung im Xer Krankenhaus behandelt worden, wo ihm die Zehen des rechten Fußes amputiert werden mussten. Dass ihn die Klägerin dort 1946 wiederfand, hat sie im Entschädigungsverfahren mehrfach und konstant behauptet. Der Senat hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Er hält es zudem für entbehrlich, eine "Erklärung" der Klägerin zur Dauer ihres Aufenthaltes in X einzuholen, weil es hierauf nach der Rechtsauffassung des Senats nicht ankommt.
0b die Klägerin in X/Niederschlesien einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt genommen oder einen verfestigten Aufenthalt erlangt hat, bevor sie dieses Gebiet wieder verließ, ist unerheblich. Dies setzt auch nicht – als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal – die entsprechende Anwendung von § 18 Abs. 1 WGSVG voraus. Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass Verfolgte mit nationalsozialistisch (ns)-bedingtem Schaden in ihrer deutschen Sozialversicherung unzweifelhaft zu dem durch § 18 WGSVG entschädigten Personenkreis gehören, wenn sie nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950 bereits Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im "Reichsgebiet" genommen hatten. Dies ist aber lediglich eine hinreichende, keine notwendige Voraussetzung für die entsprechende Geltung des Abs. 1 a.a.O. Auch § 18 WGSVG unterscheidet nämlich nicht zwischen versicherten Verfolgten mit deutscher oder anderer Staatsangehörigkeit oder staatenlosen Verfolgten. Vielmehr werden alle, die dem NS-Zugriff nicht entrinnen konnten und dadurch auch einen Schaden in ihrer deutschen Rentenversicherung erlitten haben, entschädigt, falls sie sich nach dem Krieg vor Ablauf der Überlegungsphase (mit dem 31. Dezember 1949) dazu entschlossen haben, das ehemalige Verfolgungsgebiet zu verlassen (BSG SozR 3-5070 § 18 Nr. 2).
Darüber hinaus ist im Rahmen des 18 Abs. 2 WGSVG auch zu prüfen, ob der Schaden in der Sozialversicherung durch einen im wesentlichen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt eingetreten ist. Die Klägerin "hat" X/Niederschlesien glaubhaft "verlassen", nämlich den tatsächlichen Aufenthalt dort auf Dauer beendet, als sie nach M/Oberösterreich zog (vgl. BSG SozR 3-5070 § 18 Nr. 2). Dies ist im wesentlichen auch verfolgungsbedingt geschehen. In den Fällen der direkten Anwendung von 18 Abs. 1 Satz 1 WGSVG ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der Verfolgte das jeweilige Reichsgebiet verlassen hat, "um sich einer von ihm nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen". Dieser besondere Fluchtgrund liegt rechtsgrundsätzlich und auch faktisch regelmäßig jedenfalls bei dem Personenkreis vor, dem nach der nationalsozialistischen Ideologie Leben oder andere Menschenrechte genommen werden sollten. Befand sich ein solcher Versicherter in den Zeiten seit dem 30. Januar 1933 im jeweiligen Reichsgebiet und hat er diesen Aufenthalt durch Verlassen des Gebietes beendet, ist nur dann nicht von einem verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt auszugehen, wenn sich im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände erweist, dass das Verlassen des Verfolgungsgebietes allein wesentlich auf anderen Umständen als den ns-geprägten politischen Verhältnissen und der durch sie bedingten besonderen Zwangslage beruhte. Hierfür ist der Versicherungsträger darlegungspflichtig und objektiv beweisbelastet. § 18 Abs. 2 WGSVG setzt ein gleich schweres Verfolgungsschicksal (vgl. BSG SozR 3-5070 § 18 Nr. 2 m.w.Nw.) voraus. Denn § 18 WGSVG (eingeführt durch Art 2 § 10 Nr. 1 des Gesetzes vom 27. Juni 1977, BGBl I S 1040) soll gerade die Verfolgten entschädigen, die vor Kriegsende nicht auswandern konnten und häufig weit Schlimmeres erdulden mussten als diejenigen, die sich noch rechtzeitig dem Zugriff der Nationalsozialisten entziehen konnten (vgl. Begründung zum Entwurf des WGSVG-ÄndG, BT-Drucks VI/715, S. 9, 11; BR-Drucks. 73/70 S. 9 f.). Gerade im Blick auf das Verfolgungsschicksal, das die von § 18 Abs. 2 WGSVG Erfassten ausnahmslos erlitten haben, ist hier "erst recht" rechtsgrundsätzlich und faktisch in aller Regel davon auszugehen, dass der in der deutschen Rentenversicherung versicherte Verfolgte und in seiner Rentenberechtigung durch die NS-Verfolgung Geschädigte Nachkriegsdeutschland verfolgungsbedingt verlassen hat. Etwas anderes kann auch hier – wie in den Fällen von § 18 Abs. 1 WGSVG – nur gelten, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles bewiesen ist, dass allein wesentliche Ursache für das Verlassen Deutschlands etwas anderes als das durchlittene Verfolgungsschicksal war; auch hierfür ist der Versicherungsträger darlegungspflichtig und objektiv beweisbelastet. Einen solchen Beweis hat die Beklagte nicht erbracht.
Hierdurch kommt es auch nicht zu Zufallsergebnissen. Wie ausgeführt, bewirkt § 18 WGSVG selbst und unmittelbar den Ausgleich des Schadens, welcher der deutschen rentenversicherungsrechtlichen Berechtigung eines versicherten Verfolgten dadurch droht, dass er im wesentlichen verfolgungsbedingt Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland genommen hat; die anderen Versicherten gegenüber durchgreifende rechtshindernde Einwendung des Auslandsaufenthalts mit dem sich daraus ergebenden Erfordernis von Bundesgebietsbeiträgen wird für Verfolgte und ns-rentengeschädigte Versicherte im dargelegten Umfang ausgeschlossen. Damit werden alle versicherten Verfolgten mit ns-bedingtem Schaden in ihrer deutschen Rentenberechtigung gleichbehandelt, wenn sie auch noch im wesentlichen verfolgungsbedingt im Ausland leben und deswegen weiteren Schaden hinnehmen müssen. Für diese Entschädigung durch Gleichstellung mit Inlandsbewohnern kommen alle, aber auch nur die versicherten Verfolgten in Betracht, die – aus heutiger Sicht – einen ein Versicherungsverhältnis in der deutschen Rentenversicherung begründenden Tatbestand vor dem 9. Mai 1945 erfüllt hatten, sich in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entweder im jeweiligen Reichsgebiet (einschließlich Danzig) wenigstens tatsächlich aufhielten und von der Verfolgung bedroht waren und deshalb flohen oder aber in dieser Zeit im Ausland waren und wegen einer drohenden Verfolgung nicht zurückkehrten; erst recht gehören hierzu diejenigen versicherten Verfolgten, die vor dem 9. Mai 1945 sich tatsächlich im jeweiligen Reichsgebiet aufhielten und vor dem Verfolgungszugriff nicht mehr fliehen konnten, die glücklicherweise überlebten und sich bis zum Ende der Überlegungszeit (31. Dezember 1949) zum Verlassen Deutschlands entschlossen. Zu diesem Personenkreis gehört auch die Klägerin. § 18 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WGSVG zielt auf eine weitgehende Erfassung der Fälle des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts eines in seiner deutschen Rentenberechtigung ns-bedingt geschädigten Versicherten. Soweit es darüber hinaus im Einzelfall zu zufälligen Ergebnissen kommen sollte, liegt dies an den Folgen des im Einzelfall zufälligen Zugriffs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, so dass dies den geschädigten Verfolgten nicht entgegengehalten werden darf. Nach alledem "kann" (so § 18 Abs. 1 Satz 1 WGSVG) die Klägerin die Rente wie eine Verfolgte erhalten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des WGSVG hat.
0b die Klägerin gem. §§ 3 Abs. 1 Satz 1 ZRBG i.V.m. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Regelaltersrente bereits ab dem 01. Juli 1997 hat, war hier nicht zu entscheiden, weil die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2003 keinen entsprechenden Klageantrag auf Aufhebung des ZRBG-Bescheids vom 28. Juli 2003 gestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 14.04.2006
Zuletzt verändert am: 14.04.2006