Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 03.05.1996 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung dagegen, daß das Sozialgericht Bescheide aufgehoben hat, mit denen er Verwaltungsakte zurückgenommen hat, weil er bei der Berechnung der Witwenausgleichsrente den ruhenden Anspruch der Klägerin auf Witwenrente aus der Rentenversicherung des ersten Ehemannes nicht berücksichtigt hatte, und mit denen er überzahlte Beträge in Höhe von 4.930,– DM zurückgefordert hat.
Die am 22.10.1919 geborene Klägerin ist Witwe des am 02.02.1965 verstorbenen Beschädigten H. sowie des am 05.01.1979 verstorbenen K … Nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes wurde ihr wieder Witwenversorgung nach ihrem ersten Ehemann bewilligt.
Nachdem der Klägerin für die Zeit ab März 1979 keine Ausgleichsrente mehr gewährt worden war, stellte sie am 09.10.1989 einen Antrag auf Überprüfung der vom Einkommen abhängigen Leistungen. Sie gab an, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte habe die Rente nach ihrem ersten Ehemann entzogen.
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte übersandte eine Kopie ihres Bescheides vom 12.06.1984, mit dem sie den Bescheid vom 22.05.1980 aufgehoben hatte, weil ein Anspruch auf Rente nach § 68 Abs. 2 AVG nur noch dem Grunde nach bestehe. Die Unterhaltshilfe nach Anrechnung der Witwenrente aus der Versicherung des zweiten Ehemannes übersteige den noch zur Verfügung stehenden Teil der Wiederauflebensrente. Auf Anfrage teilte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Höhe der Bruttorente nach dem ersten Ehemann ohne Berücksichtigung von Ruhensbeträgen mit.
Ohne Berücksichtigung dieser Ruhensbeträge stellte der Beklagte mit Bescheid vom 02.10.1991 die Versorgungsbezüge ab 01.10.1989 endgültig fest.
Mit Schreiben vom 21.09.1993 teilte der Beklagte der Klägerin mit, daß bei der Berechnung der Ausgleichsrente versehentlich die Vorschrift des § 14 Abs. 4 Satz 1 der Ausgleichsrentenverordnung zum Bundesversorgungsgesetz nicht berücksichtigt worden ist, wonach die (fiktive) Rente aus der ersten Ehe hätte angerechnet werden müssen. Die seit dem 02.10.1991 erteilten Bescheide, mit denen ihr Ausgleichsrente gewährt worden sei, seien somit rechtswidrig. Es sei beabsichtigt, diese Bescheide nach § 45 SGB X für die Zukunft zurückzunehmen und einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem die Ausgleichsrente mit zur Zeit circa 61,– DM monatlich ab 01.10.1993 festgestellt werde. Er gab der Klägerin gemäß § 24 SGB X bis zum 20.10.1993 Gelegenheit zur Äußerung.
Bei ihrer persönlichen Vorsprache am 04.10.1993 erklärte die Klägerin sich mit einer neuen Regelung für die Zukunft einverstanden. Ihr sei die Unrechtmäßigkeit der bisherigen Bescheide nicht bekannt gewesen. Falsche Angaben habe sie nicht gemacht.
Mit Bescheid vom 06.05.1994 stellte der Beklagte die Versorgungsbezüge ab 01.07.1993 neu fest, und zwar noch ohne Berücksichtigung der fiktiven Rente nach dem ersten Ehemann. Die Nachzahlung in Höhe von 165,– DM behielte er "zur Verrechnung der noch entstehen den Überzahlung" ein.
Unter dem 19.05.1994 erließ der Beklagte einen weiteren Bescheid, mit dem er die Verwaltungsakte vom 02.10. und 18.10.1991, 12.10.1992 und 06.05.1994 gemäß § 45 SGB X mit Wirkung vom 01.10.1993 insoweit zurücknahm, als bei der Berechnung der Ausgleichsrente die fiktive RVO-Witwenrente aus erster Ehe nicht berücksichtigt worden war.
Mit einem weiteren Bescheid vom 19.05.1994 – im gleichen Schreiben enthalten – forderte er die Klägerin auf, die in der Zeit vom 01.10.1993 bis 31.07.1994 zu Unrecht gezahlten Bezüge in Höhe von 4.930,– DM gemäß § 50 SGB X zu erstatten mit der Maßgabe, daß nach Aufrechnung von 165,– DM aus dem Bescheid vom 06.05.1994 noch 4.765,– DM zurückzuzahlen seien. Zur Begründung führte er u.a. aus, die für die Zeit ab 01.10.1989 getroffenen Entscheidungen über die Ausgleichsrente seien insoweit rechtswidrig i.S. des § 45 Abs. 1 SGB X, als die fiktive Witwenrente aus erster Ehe nicht berücksichtigt worden sei. Dieses Einkommen sei bekannt gewesen. Seit Zugang des Anhörungsschreibens vom 21.09.1993 sei ein Tatbestand i.S. des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X gegeben, der eine Berufung auf Vertrauensschutz ausschließe. Durch dieses Schreiben sei innerhalb von zwei Jahren nach Erteilung des Bescheides vom 21.10.1991 das Wissen um dessen Rechtswidrigkeit ver mittelt worden. Deshalb sei eine Rücknahme des Bescheides vom 21.10.1991 gemäß § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X innerhalb von zehn Jahren zulässig.
Dagegen erhob die Klägerin am 17.06.1994 Widerspruch. Sie hielt den gemäß § 45 SGB X erteilten Bescheid für rechtswidrig, weil die Zweijahresfrist des Abs. 3 Satz 1 versäumt worden sei. Es sei nicht zulässig, das Fristversäumnis über das angegebene Anhörungsschreiben vom 21.09.1993 zu umgehen. Eine der eng begrenzten Voraussetzungen des § 45 Abs. 3 SGB X, unter denen die Versäumung der Zweijahresfrist keine Folgen habe, liege nicht vor. Der nach § 50 SGB X erteilte Bescheid sei danach ebenfalls rechtswidrig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 06.12.1994 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 02.01.1995 Klage zum Sozialgericht Detmold erhoben. Sie hat vorgetragen, die nach § 45 und § 50 SGB X erteilten Bescheide seien rechtswidrig. Sie habe auf die Rechtmäßigkeit der vor dem Anhörungsschreiben erteilten Verwaltungsakte vertraut. Das erhaltene Geld habe sie bereits verbraucht. Sie habe keine unrichtigen oder unvollständigen Angaben gemacht. In Anbetracht der komplizierten Anrechnungsvorschriften könne ihr auch nicht der Vorwurf gemacht werden, infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte nicht erkannt zu haben. Wenn die Ansicht des Beklagten, daß aufgrund des Anhörungsschreibens nunmehr doch § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X einschlägig sei, richtig wäre, liefe § 48 Abs. 3 SGB X (Abschmelzung) praktisch leer. Die Ermessenserwägungen reichten im übrigen auch nicht aus.
Die Klägerin hat beantragt,
die Bescheide des Beklagten vom 19.05.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.12.1994 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat keine Möglichkeit gesehen, von seiner bisherigen Beurteilung abzuweichen.
Mit Urteil vom 03.05.1996 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Auf die Entscheidungsgründe seines Urteils nimmt der Senat Bezug.
Gegen dieses ihm am 13.06.1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 21.06.1996 eingelegte Berufung des Beklagten. Zu deren Begründung trägt er vor: Er vermöge die Auffassung der Vorinstanz im Anschluß an die Ausführungen des Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 22.03.1995 (Az.: 10 RKg 10/89) nicht zu teilen. Das Urteil des Bundessozialgerichts besage, daß eine rückwirkende Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach § 45 Abs. 4 i.V. mit Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nur möglich sei, wenn die Bösgläubigkeit bereits im Zeitpunkt der Bekanntgabe des früheren zurückzunehmenden Bescheides vorgelegen habe. Gestützt werde diese Auffassung vom Bundessozialgericht auf den Wortlaut ("kannte") und den Sinn der Vorschrift, wie ein Vergleich mit § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 SGB X zeige.
Die Argumente des Bundessozialgerichts seien nicht zwingend, im Ergebnis nicht einmal überzeugend. Schon eine am Wortlaut der Nr. 3 orientierte Auslegung führe nicht zu den Schlußfolgerungen, die das Bundessozialgericht und mit ihm das Sozialgericht Detmold gezogen habe. Eindeutiger noch als der Wortlaut stehe eine am Sinn des § 45 Ab sätze 2 und 3 SGB X ausgerichtete Auslegung der Auffassung der Vorinstanz entgegen. Der Hinweis auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 SGB X und auf die dort aufgeführten "schweren Verstöße" vermöge allein schon deswegen nicht zu überzeugen, weil auch bei einer Auslegung des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X in dem oben dargelegten Sinne die schwerwiegenderen Verstöße der Nrn. 1 und 2 für den Leistungsempfänger schwerwiegendere Nachteile zur Folge hätten. Dem Einwand des Bundessozialgerichts, anderenfalls könne die Verwaltung stets den Vertrauensschutz aufgrund er Abwägung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X ausschalten, vermöge er sich gleichfalls nicht anzuschließen. In § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X finde durchgehend der Vertrauensschutz-Gedanke in Gegenüberstellung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme seinen gesetzlichen Nieder schlag. An keiner Stelle des § 45 SGB X lasse der Gesetzgeber er kennen, daß es ihm darauf ankomme, weshalb der Vertrauensschutz besteht oder nicht (mehr) besteht.
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wirke sich auf die an gefochtene Entscheidung des Sozialgerichts Detmold insofern nur mittelbar aus, als hier nach § 45 Abs. 3 SGB X zu entscheiden ge wesen sei. Der streitige Sachverhalt berühre die Frage, ob noch vor Ablauf der 2-Jahres-Frist eine Unredlichkeit derart herbeigeführt werden könne, daß die vorausgegangenen Bescheide, beginnend mit dem 02.10.1991, nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X auch noch nach Ablauf der 2-Jahres-Frist zurückgenommen werden konnten. Die grundlegende Bestimmung über die Rücknehmbarkeit rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte enthalte § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X. Danach solle bei der Entscheidung über die Rücknahme einerseits das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes, andererseits das öffentliche Interesse an einer Rücknahme berücksichtigt werden. Eine Erweiterung des Vertrauensschutzes hin sichtlich rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung enthalte § 45 Abs. 3 SGB X, in dem, abhängig vom Ausmaß der Unredlichkeit, Zeitgrenzen für die Rücknehmbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte mit Dauerwirkung gesetzt werden. Daß für die Anwendung der 10-Jahres-Frist die in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 oder 3 SGB X näher definierte stärkere Unredlichkeit schon im Zeitpunkt der Bescheiderteilung vorgelegen haben muß, ergebe sich aus Abs. 3 nicht. Insoweit berufe er sich auf das Urteil des Senates vom 18.09.1986 – L 7 V 10/85 -.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 03.05.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur näheren Darlegung der Einzelheiten wird auf den Inhalt der W-Akten der Klägerin und der vorliegenden Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat über die Berufung des Beklagten aufgrund einseitiger mündlicher Verhandlung gemäß § 124, 126 SGG entschieden, weil die Klägerin auf eine Teilnahme verzichtet hat.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auch der Senat hält die Begründung des Sozialgerichts und des Bundessozialgerichts in der Entscheidung vom 22.03.1995 – 10 RKg 10/89 – aufgrund der in beiden Entscheidungen zitierten Literaturangaben und den Darlegungen von Wiesner (in Schroeder-Printzen, SGB X, 3. Aufl., Rdn. 23) und Kopp (VwVfG, 6. Aufl., § 48 Rdn. 71) für zutreffend und hält seine zuletzt in der Entscheidung vom 18.09.1986 – L 7 V 10/85 – vertretene gegenteilige Rechtsauffassung nicht aufrecht.
Weder der Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift des § 45 Abs. 2 und 3 SGB X sprechen dafür, daß ein Vertrauensverhältnis durch ein Anhörungsschreiben zerstört werden kann.
§ 45 SGB X ist die Nachfolgeschrift des im Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Berichtigungsbescheides (§ 41 VwVG – KOV), bei der die Rechtslage zur Zeit des Erlasses maßgebend gewesen ist. Spätere Änderungen in der Sach- und Rechtslage sind im Rahmen des § 48 SGB X zu berücksichtigen. Wie schon die Formulierung "kannte" statt "kennt" in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zeigt, geht es um eine Rechtswidrigkeit von Anfang an, so daß die Beurteilung des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vom Zeitpunkt des Erlasses ausgehen muß.
Das zeigt sich auch darin, daß der Gesetzgeber die Tatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 SGB X in Abs. 3 dieser Vorschrift hinsichtlich der Handlungsfrist als gleichwertig angesehen hat. Den von dem Beklagten zu vertretenden öffentlichen Interessen hat der Gesetzgeber in § 48 Abs. 3 SGB X Rechnung getragen.
Der Betonung des Vertrauensschutzes in § 45 Abs. 2 SGB X und der Festlegung von Handlungsfristen in § 45 Abs. 3 SGB X widerspricht es, wenn ein Anhörungsschreiben ausreichen würde, den Vertrauensschutz zu entziehen. Das Institut der Anhörung gemäß § 24 SGB X stellt eine Obliegenheit der Verwaltung dar, das die Rechtsposition des Empfängers von Sozialleistungen stärken soll. Es ist schon deshalb nicht geeignet, als Instrument für eine Schlechterstellung des Begünstigten zu dienen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 15.08.2003
Zuletzt verändert am: 15.08.2003